Stasi? Auf Facebook sagt man alles

Privates bleibt nicht privat — die Kunstinstallation „Am Telefon sagt man nix“ zeigt, wie es ist, wenn fremde Personen über persönliche Dinge Bescheid wissen. Genutzt werden Telefonmitschnitte der Stasi aus den 1980er Jahren, die man über rote Telefonhörer selbst belauschen kann. Die Stasi, ganz schlimm.

Die Künstler_innen sehen aber auch einen aktuellen Bezug:

Für die Initiatoren der Installation weisen die einstigen Abhöraktionen Parallelen zur heutigen Sammelwut von Informationen durch Konzerne wie Google oder Facebook auf. Viele Menschen verstünden das Ausmaß aber gar nicht, beklagt Künstlerin Stefanie Kinsky.

Dumm nur: Die Veranstaltung ist fein säuberlich auf Facebook eingetragen, verlinkt von der Projektwebseite, die gleichfalls bemerkt:

Dennoch geben Menschen weiterhin freigiebig ihre Daten an internationale Großkonzerne wie Google oder Facebook weiter. Doch sind Daten ersteinmal vorhanden, werden sie auch genutzt.

Stimmt: Über die Facebook-Veranstaltung kann ich sehen, wer sie besucht — und wer dazu einlädt. Darunter ist auch die Initiatorin, die sich im Interview noch über den bedenkenlosen Umgang mit persönlichen Daten beklagte. Wer durch ihre Facebook-Chronik scrollt, findet Dinge, auf die sie verweist und Kommentare, die sie mit Freunden austauscht. Für diese Gespräche brauche ich keine Stasi und keine Kunstaktion. Facebook, ganz alltäglich.

Ja, unsere Daten sind abrufbereit. Wir tun es ganz freiwillig. Es wäre Zeit, mit dem Zeigefinger auf uns selbst zu zeigen, nicht auf einen längst vergangenen Geheimdienst.

Achim Mentzel, Sinnbild deutscher Kondolenzkultur

Wer hätte das gedacht: Der Tod von Achim Mentzel wird in den Nachrufen als ein Beispiel der deutsch-deutschen Erinnerungskultur verhandelt. Beziehungsweise: Wie sehr sich die Blicke auf ostdeutsche und westdeutsche Leben unterscheiden.

So schreibt Michael Pilz in der Welt:

Es ist noch immer so, dass, wenn ein prominenter Ostmensch stirbt, dem deutschen Osten kondoliert wird. […] Sterben Unterhaltungskünstler aus dem Westen, waren sie nicht Nord‑, Süd- oder Westdeutsche, nicht einmal Österreicher oder Südtiroler, sondern Deutsche.

[…]

Ja, er wird fehlen in einem Land, das 25 Jahre nach der Einheitsfeier noch vom Ostrock spricht, sobald die Puhdys unterwegs sind, über Ostderbys im Fußball redet, wenn Dynamo Dresden gegen Hansa Rostock antritt, und wo sich Politiker auf Wahlkampfreisen auf die Marktplätze von Eisenach und Halle stellen und die tüchtigen Eingeborenen loben.

Und in der Frankfurter Rundschau analysiert Markus Decker:

Das Label „ostdeutscher Unterhaltungskünstler“ ignoriert die Hälfte seines [Achim Mentzels] künstlerischen Lebens. Es macht den Mann so klein, wie es die DDR nie war. Und es signalisiert denen im Westen, dass sie diesen Achim Mentzel nicht kennen müssen.

[…]

In Achim Mentzels Tod spiegelt sich so gesehen die Wiedervereinigung und was bei ihr bis heute schiefgeht. Während Ostdeutsche es sich seit jeher nicht leisten konnten, vom Westen nichts zu wissen, […] weiß der Westen bis heute nicht wirklich was vom Osten und schämt sich dessen nicht einmal. Ja, nicht selten ist er sogar stolz darauf.

Das ist kein schlechtes Vermächtnis für einen Unterhaltungskünstler, solche Gedanken angestoßen zu haben.

IMfiziert #3: Detlev Spangenberg

Das hat ja gedauert: Die Alternative für Deutschland (AfD) steigt in den Umfragewerten, der Westen zeigt mit dem Finger auf den Osten — und erst jetzt taucht ein IM-Verdacht auf. Detlev Spangenberg, sächsischer Landtagsabgeordneter der Partei, soll als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) gearbeitet haben. „Godwin’s Law (Stasi-Edition)“ schlägt wieder zu.

Und die Freie Presse berichtet: Spangenberg ist nicht erreichbar, Fragen in der Fraktion wenig erfolgreich, Mitglieder des Bewertungsausschusses geben sich „zugeknöpft“. Kein Wunder, sind sie doch zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aber, ach wie ärgerlich — wo die Zeitung doch von der Ungeheuerlichkeit berichten will!

Also bleiben nur bekannte Fakten, und die klingen weit weniger reißerisch:

  • Detlev Spangenberg war vermutlich von 1964 bis 1967 IM. Er war 19 bis 23 Jahre alt. Ein Alter, in dem Jugendliche heute gerne Tutorial-Videos auf Youtube hochladen.
  • Er handelte aus freien Stücken. Sagen zumindest die Unterlagen der Stasi. Der man ja gerne vertraut.
  • „Ich bin ja ein Betroffener“, sagte Spangenberg über seine Akten: „Als ich dann Einsicht nahm, war darin viel Blödsinn enthalten.“ Er meinte damit Dokumente zu seiner Republikflucht.
  • Sein erster Fluchtversuch misslang, Detlev Spangenberg landete über ein Jahr im Gefängnis.
  • Schließlich gelang die Flucht und er wurde Mitglieder der CDU.
  • Wie lange er in der Partei war, ist für die Freie Presse ein Mysterium: „bis 2004, gab er mal selbst an; bis 2006, heißt es auf der Internetseite des Landtags.“

So mag dies der schwerwiegendste Vorwurf sein:

„Dass er mal in der CDU war, hat er der AfD mitgeteilt, der er 2013 beitrat. Über eine 50 Jahre zurückliegende Stasi-Tätigkeit habe er hingegen keine Angaben gemacht.“

Dass es mal soweit kommen musste: Stasi- und CDU-Tätigkeiten in einem Atemzug! Zumindest erwähnt die Freie Presse nicht Spangenbergs Engagement in rechten Gruppierungen.

Aktuelle DDR-Vergleiche #24 — Orden

Kaum verteilt die CDU-Regierung in Sachsen ein paar Orden mehr — 2012 erhielten 22 Personen einen sächsischen Orden, 2013 waren es 9.598, 2014 schließlich 27.784 — schon kritisiert das die Linkspartei:

Den Linken-Abgeordneten André Schollbach erinnern die Massen-Auszeichnungen „an das Verhalten Erich Honeckers“ in der Endphase der DDR. Der SED-Chef habe „damals auch mit Orden und Auszeichnungen um sich geworfen. […] Wer zu lange an der Macht ist, verliert offenbar den Bezug dazu, was in welchem Umfang angemessen ist.“
Quelle: Neues Deutschland

Die meisten Orden sollen an Helferinnen und Helfer bei der Hochwasserflut 2013 vergeben worden sein.

Aufschwung Hannover!

Aufschwung Hannover!

Zugegeben, es ist nicht immer leicht mit dem Zusammenspiel von redaktionellen und werblichen Inhalten. Und Zeitungen sind ja auch auf die Anzeigenerlöse angewiesen. Ärgerlich nur, wenn eine einzige Anzeige das gesamte Thema einer Sonderbeilage persifliert.

Was ist passiert? Am 13. November haben Tageszeitungen der fünf neueren Bundesländer eine gemeinsame Beilage mit dem Titel „Wirtschaft 5.1“ herausgebracht. Thema: Wie hat sich die Wirtschaft in den letzten 25 Jahren im Osten entwickelt? Die Artikel zeigen Erfolgsgeschichten und beschwerliche Wege, die klarste Aussage trifft aber die ganzseitige Anzeige auf der Rückseite: Neueröffnung eines Möbelhauses! In Hannover! Ganz Deutschland feiert mit! Nimm das, Osten! Ha!

2015-11-22 20.39.53
(Zumindest ist das in der Version der Berliner Zeitung so, wie man hier sehen kann.)

Ich weiß, was der IS 1950 in Berlin getan hat

Zur Erinnerung: Schon im Mai gab es einen recht verschlungenen Vergleich des Islamischen Staates mit der Stasi. Nun hat es auch die SED erwischt — doch der Reihe nach.

In Berlins Mitte wird eine Schloss-Attrappe gebaut, Bauherrin ist die „Stiftung Berliner Schloss — Humboldtforum“. Zu ihrem Vorstand gehört Manfred Rettig, der zuvor den Umzug der Bundesregierung nach Berlin geleitet hat und auch sonst für Regierungsgebäude zuständig war.

In das Humboldtforum sollen verschiedene Ausstellungen einziehen, so möchte der Berliner Senat die eigene Stadt unter dem Titel „Welt.Stadt.Berlin“ präsentieren. Der dafür zuständige Stadtmuseumsdirektor Paul Spiess wird zwar erst im Februar 2016 seinen Dienst antreten. Aber schon jetzt, am 18.11.2015, trafen sich die beiden Männer fürs Repräsentative und sprachen öffentlich über das weitere Vorgehen. Für den Bauherren heißt das: Bloß nicht mehr Kosten! Und irgendwann sprach Manfred Rettig dann den wundersamen Satz:

„Wir hatten den IS 1950 auch in Berlin, das sollten wir nicht vergessen.“

So ein Satz sitzt, nicht einmal eine Woche nach den Anschlägen in Paris: Wurden die jetzt tatsächlich mit dem Abriss eines hässlichen Schlosses durch die DDR-Regierung gleichgesetzt? Offenbar ja. Nikolaus Bernau von der Berliner Zeitung war dabei und findet Rettigs Taktik recht erfolgreich:

Solch historisch bewusstloser Populismus dient vor allem dazu, ein kritisches Gespräch zu verhindern.

Tatsächlich fragte denn auch keiner nach, ob Rettigs stures Festhalten an einem überholten Ausbauplan sinnvoll ist oder ob man nicht doch den Bundestag um einige Millionen bitten sollte, damit das Humboldtforum auch langfristig gut zu nutzen ist.

Populismus ist das, und vor allem ziemlich verwirrter: Was ist es denn nun, was IS und SED verbindet? Je länger man darüber nachdenkt, desto weniger verständlich ist es und umso plausibler erscheinen andere Vergleiche, dieser etwa: Wir hatten den IS auch 2006 in Berlin.

Prinzipiell könnte man aber auch jedes andere Jahr einsetzen. Und jede andere Stadt. Hauptsache provoziert.

Das verflixte 26. Jahr

Und ich dachte schon, die Beiträge zum 25. Jahrestag des Mauerfalls wären merkwürdig gewesen. Mitnichten! Die Beiträge zum 9.11.2015 zeigen erst, welch Sternstunde des Journalismus das damals war. Beispiele? Leider gerne:

Pegida ist eine typisch ostdeutsche Mixtur aus autoritär geprägten Gruppen mit einer völkisch-nationalen Orientierung und einem tief sitzenden anti-libertären Misstrauen. Natürlich gibt es entsprechende Gruppen auch im Westen, aber hier sind sie kulturell eher marginalisiert, was auch nach über einem halben Jahrhundert Abstand von der autoritären Phase deutscher Staatlichkeit nicht überrascht. […] Pegida ist „Pack“, aber im Wesentlichen ostdeutsches „Pack“.

Politikwissenschaftler Gerd Mielke im Interview mit dem SWR

Sehr schade, dass wissenschaftliche Thesen in medialen Beiträgen immer nur kurz ausgeführt werden. Mehr als dieser eine Satz wäre aber vielleicht doch drin gewesen. Wenn man gewollt hätte. Aber offenbar lohnt es sich im Südwesten nicht nachzuhaken, wenn etwas „typisch ostdeutsch“ genannt wird. Merke: Allgemeinplätze gehen immer — typisch westdeutsch eben.

Neulich bin ich zurückgereist in die DDR. Ich war noch mal kurz „drüben“ einkaufen. Wer weiß, dachte ich mir, wie lange es all die typischen DDR-Waren noch gibt. So ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich neulich bei einer Recherche zufällig in einen verlassenen Keller geriet und vor Regalen mit vergessenem DDR-Hausrat stand.

Berliner Morgenpost: „Ich war noch mal kurz einkaufen in der DDR“

Und ich hatte schon befürchtet, die wunderbare journalistische Textgattung des Doofwessis im Osten wäre ausgestorben — mitnichten! Bitte, traut euch: Wir brauchen mehr Wessis, die von ihren unreflektierten Erlebnissen mit dem Osten / den Ossis in dunklen Kellern berichten! Wir brauchen mehr unhinterfragtes Unverständnis, das in so wunderbaren Sätzen steckt wie: „Shopping im Osten war schwierig“! Und gebt mir mehr Absätze über Weichspüler und ihre Aussagekraft für politische Systeme! P.S.: Das hippe junge Online-Magazin bento ist auf einem sehr, sehr guten Weg.

Vielleicht liegt es an ihrer Nähe zu Sibirien, doch (angeblich) frieren die Menschen im Osten weniger als im Westen.

Focus: 20 Merkmale, die beweisen, dass Ost- und West-Berlin unterschiedlich ticken

Die Königsdisziplin des deutsch-über-deutschen Journalismus: Sinnlose Listen. Zur Feier des 26. Jahrestages mit zwanzig dermaßen vorurteilsbeklebten, sinnentleerten und falschen Einträgen, dass ich darauf nicht weiter eingehen werde.

Aber vielleicht im nächsten Jahr, wenn ich das als großartigen redaktionellen Beitrag wahrnehmen werde.

Wie der Bananen-Artikel in der FAZ entstand

Wie der Bananen-Artikel in der FAZ entstand

Neulich in der Redaktionssitzung der FAZ:

„Was wollen wir eigentlich in der Ausgabe zum 3. Oktober machen?“

„Na, irgendwas mit Helmut Kohl, oder?“

„Nee, den hatten wir schon zum 9. November letztes Jahr. Fällt euch nichts besseres ein?“

Betretenes Schweigen.

„Ich hab’s: Wir schreiben zur Abwechslung mal was über die Ossis!“

„Ah, gute Idee!“

„Könnte interessant werden.“

„Einfach mal anderes machen.“

„Kennt denn einer von euch einen von drüben?“

Unschlüssiges Schweigen.

„Naja, vielleicht sollten wir eher so kulturell rangehen, über ein Symbol!“

„Oh Gott, aber bloß keine Trabis oder das Sandmännchen.“

„Wie wär’s mit Bananen?“

„Geile Idee! Die kommen auf die Titelseite!“

2015-10-04 12.31.44

„Und dann könnte ich noch einen längeren Text über Bananen machen, als Parabel über die Ostdeutschen, mit wichtigen Rezeptionspunkten in der deutsch-deutschen Geschichte und …“

„Ja, mach einfach.“

Eine halbe Stunde später.

„Irgendwie hat das Bananenthema doch nicht so viel hergegeben. Südfrüchte und Ostdeutsche haben offenbar nicht ganz so viel gemeinsam.“

Gemeinsames Schweigen.

„Hey, da gibt’s doch diesen Künstler, der überall Bananenmotive reinbringt und deshalb auch im Gefängnis war. Das menschelt, da kann man sogar ein Porträtfoto abdrucken!“

„Klasse, kommt der ausm Osten?“

„Nee, aus dem Rheinland.“

„Egal, Hauptsache Deutschland.“

Jubel. Die FAZ-Redaktion feiert ihre Idee mit Sekt und Schampus und veröffentlicht den Text unter dem Titel „Ausgerechnet Bananen“.

Es gibt zwei Arten von Hochhäusern 1

Dass in Berlin Asbest nicht gleich Asbest ist, wissen wir seitdem der Palast der Republik abgerissen wurde (wegen Asbest), während das ICC unter Denkmalschutz gestellt werden soll (trotz Asbest).  Nun lernen wir, dass auch Hochhaus nicht gleich Hochhaus ist. Denn die Wohnungsbaugesellschaft Mitte hat ihre Pläne präsentiert, auf der Berliner Fischerinsel ein Hochhaus zu bauen. Das ruft kritische Stimmen auf den Plan. So etwa den ehemaligen Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der in der Berliner Zeitung deutliche Worte findet:

Damit werden die Planungen der 70er-Jahre für ein sozialistisches Stadtzentrum mit Wohnen in Hochhäusern weitergeführt als existiere die DDR noch. […] Wenn es einen Ort gibt, an dem man sich mit der Geschichte vor der DDR beschäftigen muss, dann ist es dieser hier

Dumm nur: In der unmittelbaren Nähe befindet sich der Alexanderplatz, für den seit 1993 ein so genannter Masterplan existiert. Darin sind 10 Hochhäuser vorgesehen, nebst Abriss verschiedener vorhandener Gebäude der ‑richtig- DDR-Architektur. Umgesetzt wurde dies bislang nicht, daher wurde der Plan kürzlich überarbeitet. Da einige der Gebäude, die ursprünglich abgerissen werden sollten, mittlerweile unter Denkmalschutz stehen, lassen sich 10 Hochhäuser natürlich nicht mehr halten. Daher sieht der neue Plan nunmehr ‑richtig- 11 Hochhäuser vor!

Aber ärgern wir uns doch erst einmal über den sozialen Wohnungsbau in einem einzelnen Hochhaus, das so schamlos an die DDR anknüpft …

Aktuelle DDR-Vergleiche #23 — Das Internet

Der neue Roman „Purity“ des us-amerikanischen Autors Jonathan Franzen spielt im Ost-Berlin des Jahres 1989. Die Geschichte enthält offenbar alles, was man in dieser Zeit an diesem Ort erwartet: Spitzel, Oppositionelle und Kirchenasyl. Die Handlung könnte also auch heute angesiedelt sein und tatsächlich bringt Franzen die DDR von damals mit dem Internet von heute zusammen, wie die Rezension der Zeit feststellt:

Purity gipfelt in einem Gedankenspiel: Die sozialistischen Staaten mit ihren Spitzelwesen waren vom Wunsch beseelt, noch über die feinsten Geheimnisse ihrer Bürger, und seien es Belanglosigkeiten, informiert zu sein. Von dieser unguten Wissbegierde, so legt es Franzen nahe, seien auch die Netzaktivisten dieser Welt erfüllt — auch sie glaubten, Enthüllungen seien der Schlüssel für eine bessere Welt. Das Netz wie die DDR seien totalitär – mit jeweils starkem Anspruch, den Glauben an das Individuum durch den Glauben an das Kollektiv zu ersetzen: „Die Antwort auf jede Frage, ob groß oder klein, hieß Sozialismus. Ersetzte man Sozialismus durch Netzwerke, hatte man das Internet.“ In beiden sozialistischen Träumen würde das Kollektiv von wenigen Individuen manipuliert.

Tatsächlich, im Grunde ist die Analogie gar nicht so falsch: In seinem Grundverständnis kann das Internet außerordentliche kommunistische Züge tragen: Freies Wissen für alle, freie Software und das sharen der sozialen Netzwerke sowieso: Die gemeinsame Teilhabe also als gelebte sozialistische Utopie. Welch Ironie, dass diese Technologie ausgerechnet aus den USA stammt. So verwundert es nicht, dass Franzen die negativen Schnittmengen von DDR und Internet betont. Diese Analogie stößt aber nicht auf Gegenliebe. So schreibt Adam Soboczynski in der Zeit:

Man [i.e. Soboczynski] misstraut dieser im Roman entfalteten Analogie doch sehr. Schon deshalb, weil die Diktatur über ein Gewaltmonopol verfügt, von der ein Netzaktivist nur träumen kann: Sie hat die Möglichkeit zur physischen Gewalt und zum Zugriff auf den Körper. Gewiss sind auch die Internetkonzerne und Netzwerke mit ihrem Datendurst vom Drang beseelt, „unsere Existenz zu definieren“, wie es in Purity heißt. In welcher Weise und in welchem Ausmaß sie agieren können, regelt aber noch immer der demokratische Rechtsstaat. […] Und es grenzt an eine Verharmlosung der Diktatur, sie als Vorspiel des bösen Internets zu begreifen.

Geradezu niedlich nimmt sich Vertrauen auf den Rechtsstaat aus — schließlich nimmt das Cybermobbing derzeit lebensbedrohliche Ausmaße an: Auch bei uns ist damit der Zugriff auf den Körper gegeben. Und ausgerechnet die größten Datenkraken — Google und Facebook — kommen eben aus den USA, die ja durchaus als rechtsstaatlich gelten. Wohl auch deshalb schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung:

Wer den totalitären Staat mit Google gleichsetzt, verharmlost schließlich beides.