Ost-Eliten, Ostdeutsche als Vorbild und migrantische Wendeerfahrungen

Frisch aus den Medien: Drei aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit.

Weiter wenig Ost-Eliten

Der Bund hat einen neuen „Elitenmonitor“ veröffentlicht. Er zeigt: Es gibt kaum Ostdeutsche in den Eliten. Die Tagesschau berichtet:

So beträgt der ​​Anteil gebürtiger Ostdeutscher an der Gesamtbevölkerung — wenn man Berlin als Geburtsort einrechnet — rund 20 Prozent, in den Eliten aber nur 12,2 Prozent. Am höchsten ist der Wert noch in der Politik, wo es 20,9 Prozent sind. Doch schon im Bereich Verwaltung finden sich nur 14 Prozent Ostdeutsche in Spitzenpositionen. In den Medien und der Wissenschaft sind es sogar jeweils nur rund 8 Prozent, in der Wissenschaft 4,3 Prozent. „Frappierend“ nannte [Ostbeauftragter Carsten Schneider] den Wert für die Justiz: Er betrug 2,1 Prozent.

[Co-Autorin Astrid Lorenz] sah auch eine Verantwortung bei den Ostdeutschen selbst. „Es war ein gewünschter Elitenwechsel“, sagt sie über die Wende. Die Menschen in der DDR hätten sich von ihrem System befreien wollen. Auch seien Ostdeutsche als Teil der eigenen Landespolitik selbst für viele Karrierewege — etwa in der Wissenschaft — verantwortlich gewesen.

Lorenz’ Handlungsempfehlungen richteten sich allerdings vor allem auf jüngere Generationen: So sollten heutige ostdeutsche Studierende gezielter gefördert werden. Auch müsse man sie ermuntern, sich öfter selbst um Stipendien zu bewerben. Lorenz sagte auch mit Blick auf die jüngsten Ansiedlungserfolge in Ostdeutschland: „Es reicht nicht nur Unternehmen und Behörden im Osten anzusiedeln, sondern es braucht auch die Sensibilität bei der Personalbesetzung.“

In der Wirtschaft wiederum glaubt man nicht an einfache Lösungen. Lars Schaller, Geschäftsführer des Unternehmerverbands Sachsen, begrüßte zwar gegenüber tagesschau.de die Initiative des Bundes. Es sei wichtig, dass der Diskurs weitergeführt werde. Allerdings müsse es „eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema werden“.Die Frage nach konkreten Maßnahmen sei allerdings „nicht so einfach zu beantworten“, so Schaller. Würden sie von „von oben“ aufgesetzt, würden sie jedenfalls keine langfristige Veränderung bringen.

Ostdeutschland als Vorbild

Martin Ahrends, freier Autor und 1984 aus der DDR ausgereist, schlägt beim Deutschlandfunk vor, in Zeiten des Klimawandels von Ostdeutschen zu lernen:

In Ostdeutschland gibt es spezielle Erfahrungen aus der sozialistischen Mangelwirtschaft: nicht nur mit dem Verzicht auf Überflüssiges, auch mit dem sparsamen Einsatz von Rohstoffen und dem Recycling, mit der Reparatur und Nachnutzung von Industrieprodukten, mit dem kreativen Selbermachen und Improvisieren, mit dem Transport per Rad und Bahn – und mit der Naherholung.

Die Frage, was der Osten denn in die deutsche Einheit mitgebracht habe außer einer maroden Infrastruktur, diese Frage stellt sich neu, wenn es angemessene Formen gibt, die Zukunft gemeinsam zu erfinden.

Migrant*innen und die Wende

Am 30.09. auf SWR2 zum Hören: „Wie Migranten in der DDR die Wende erlebten“

Vor dem Fall der Mauer lebten in der DDR rund 200.000 Migrant*innen, darunter Vertragsarbeiter*innen aus den „Bruderstaaten“ Vietnam und Mosambik, Studierende und Asylsuchende, die wenig Kontakt zu Deutschen hatten. Während der Wende machten sie die Erfahrung, dass sie mit dem Ausruf „Wir sind das Volk“ nicht gemeint waren. Ihr rechtlicher Status blieb lange unklar, rassistische Übergriffe nahmen zu. Unter dem Motto „Auch wir sind das Volk!“ forderten einige schließlich Bürgerrechte und Bleiberecht ein.

Bundestag, Rechtsextremismus, Social Media, Pflegeheime und Schulen

Frisch aus den Medien: Aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit:

Ostdeutschland im Bundestag

Lucie Hammecke ist die jüngste Abgeordnete im sächsischen Landtag und gehört zum Fraktionsvorstand der Grünen. Die Frankfurter Rundschau hat mit ihr gesprochen:

„Ich habe den Eindruck, dass noch nicht in allen Teilen des Bundestages die Relevanz der Wahlen in Ostdeutschland nächstes Jahr angekommen ist.“

Rechtsextremismus und Sichtbarkeit

Anne Rabe ist 1986 geboren, mit ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ steht sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Der rbb hat mit ihr gesprochen:

Wir schauen aktuell auf ein Deutschland, das sich immer mehr spaltet, stark nach rechts rutscht. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Ich glaube, die Gründe dafür sind vielschichtig. Ein wichtiger Grund ist, dass man völlig unterschätzt, dass Gesellschaften kippen können. Es ist nicht überall in Ostdeutschland gleich. Aber wenn es in Orten 30, 40 Prozent AfD-Wähler gibt, dann ändert dies das ganze Klima. Die Selbstverständlichkeit, die Normalisierung von Rechtsextremismus, die ist in Ostdeutschland weit fortgeschritten. Das ist ein Riesenproblem. Ich glaube, man muss wirklich anerkennen, dass das nichts ist, was man innerhalb von einer Wahlperiode oder mit einem weiteren Wahlsieg der demokratischen Parteien beenden kann. Ich glaube schon, dass eine Ursache dafür tatsächlich eine lange autoritäre Prägung ist. Man sieht in den Umfragen, dass zum Beispiel der Wunsch nach autoritären Staatsformen viel größer ist in Ostdeutschland. Dass die eigene Geschichte nicht reflektiert, einfach nicht aufgearbeitet ist. Man sieht auch diese fortwährende Gewalt auf den Straßen. Und das führt dazu, dass sich dort Dinge verhärten, Gegenkräfte sich zurückziehen.
Wie kann man die Aufarbeitung der DDR-Zeit, wie Sie sie hier anmahnen, besser vorantreiben?

Ich glaube, dass man die Situation im Osten im gesamten Deutschland anerkennen muss. Das ist nicht nur eine ostdeutsche Geschichte. Wir sind ein Land und das ist unsere Geschichte. Diese Frage der Integration des Ostens stellt sich eigentlich gar nicht. Wir sind ein gemeinsames Deutschland und das, was in Ostdeutschland passiert, das hat eben auch Auswirkungen auf das ganze Land. Es müsste noch mehr Interesse geben, auch von westdeutscher Seite.

Und im Osten, insgesamt im Land, muss dringend sehr viel Arbeit und sehr viel Geld in politische Bildung gesteckt werden. Mir passiert immer wieder, dass Leute noch nie vom Jugendwerkhof oder noch nie von Torgau gehört haben. Ich finde, das sind Vorgänge, Begriffe, Orte, von denen jeder Mensch in Deutschland wissen sollte. Da müssen wir auch den Opfern gerecht werden. Das ist einfach unsere Aufgabe als Gesellschaft.

DDR und Social Media

Bis zum 22. September findet der Deutsche Historikertag in Leipzig statt. Ein Interview mit dem Historiker Andreas Kötzing gibt es auf saechsische.de:

Lange Zeit war die öffentliche DDR-Erinnerung durch das Diktatur-Gedächtnis geprägt. Das ist nachvollziehbar und hatte seine Gründe. Aber wir beobachten seit einigen Jahren ein wachsendes Bedürfnis, davon zu erzählen, dass es neben Repression und Unterdrückung in der DDR eben noch ein anderes, alltägliches Leben gab. Übrigens ein Trend, der in den Neunzigern ähnlich war, nur gab es damals eben noch keine sozialen Medien, die jetzt zur Verstärkung beitragen.

Wenn wir den Kampf gegen „alternative“ Fakten, Lügen und gegen die Verharmlosung von Diktaturen nicht verlieren wollen, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Auseinandersetzung auch [auf Social Media] weiter zu suchen. Gerade für die politische Bildung ist dies enorm wichtig. Das setzt natürlich voraus, dass öffentliche Einrichtungen wie Gedenkstätten, Museen und Vereine dafür auch ausreichend Mittel zur Verfügung haben.

Pflegeheime hui, Schulen pfui

Die Menschen in Ostdeutschland bewerten die Schulen mit am schlechtesten in Deutschland. Lediglich in Nordrhein-Westfalen sei die Bewertung noch schlechter ausgefallen, teilte das Münchener Ifo-Institut am Dienstag mit. 19 Prozent der befragten Erwachsenen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vergaben die Note 4 oder schlechter, 56 Prozent die Note 3. 24 Prozent urteilten mit den Noten 1 oder 2.

Den Lehrermangel sehen in den drei Bundesländern die meisten Menschen als das wichtigste Thema,

Meldung der dpa in der Zeit | Die Pressemitteilung mit allen Zahlen

Die Augsburger Allgemeine titelt „Pflegeheime im Osten besser als in Westdeutschland“ (und nicht etwa „Pflegeheime im Westen schlechter“ — ist das Vermeiden eines negativen Framing für den Westen Zufall?) und schreibt: 

Laut einer AOK-Studie kommt es in den Heimen in den alten Bundesländern gehäuft zur schlechten Versorgung der Alten und Kranken. Ostbayern hat ein besonderes Problem. … Demnach bekommen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und im Saarland viel mehr Heimbewohner lang anhaltend Schlaf- und Beruhigungsmittel als in Ostdeutschland

Die vollständige Studie

DDR-Frauen, Missbrauch, Verunsicherung

Frisch aus den Medien: Drei aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit.

Kaum sichtbar: Die Erfahrungen von Frauen aus der DDR

In ihrem aktuellen Film porträtiert Sabine Michel aus Dresden die Politikerinnen Manuela Schwesig, Yvonne Magwas, Anke Domscheit-Berg und Frauke Petry. Bei saechsische.de sagt sie im Interview:

In der DDR sozialisierte Frauen haben natürlich andere Erfahrungen gemacht, und ich würde mir wünschen, dass eben diese Erfahrungen stärkere Bestandteile im gesellschaftlichen Diskurs wäre. Und das es tiefer im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert wäre, dass die DDR ein Gleichstellungsexperiment durchgeführt hat, in der vieles für Frauen nachweislich besser funktioniert hat, anderes aber auch nicht. Zum Beispiel gab es in der DDR dadurch, dass die allermeisten Frauen in Vollzeit gearbeitet und sich zusätzlich um die Erziehung gekümmert haben, eine Mehrfachbelastung. Das Problem hat auch unsere heutige Gesellschaft nicht gelöst: Menschen mit Kindern sind strukturell benachteiligt, finanziell, zeitlich und karrieremäßig.

Tabu-Thema: Sexueller Missbrauch in Kliniken der DDR

Unter dem Vorwand, sie litten unter sexuell übertragen Krankheiten wurden in der DDR tausende Frauen in Kliniken eingewiesen — und misshandelt. Die Deutsche Welle nimmt sich des Themas an:

Es ist schwierig, genau zu beziffern, wie viele Frauen und Mädchen solche Torturen erlitten. Die Zahl geht in die Tausende — bis zu 5.000 allein in der Stadt Halle. Während die weit verbreiteten Misshandlungen in den Kinderheimen und so genannten Jugendwerkhöfen der DDR gut erforscht und dokumentiert sind, ist über die Vorgänge in den „Venerologischen Stationen“ nur wenig bekannt.

„Es ist ein besonders dunkles Kapitel der Geschichte. Niemand will wirklich davon hören“, sagt Christine Bergmann, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und die einzige Person in der Kommission, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist.

Verunsicherungen im Osten – jetzt auch im Westen

Die Überschrift des Artikels auf 24rhein hat einen reinen Ost-Fokus („Warum viele Ostdeutsche so verunsichert sind – und damit anfällig für Extremismus“) — macht dann aber einen überraschenden Schwenk auf Westdeutschland: 

Man hat sich dran gewöhnt: Der Westen Deutschlands ist der Motor von Entwicklungen, hier spielt die Musik, wird Wohlstand generiert, Zukunft gestaltet. Der Osten? Na ja, hinkt halt hinterher, immer davon bedroht, abgehängt zu werden. Doch in einem Bereich verzeichnen wir seit Jahren eine Schubumkehr, hier geht der Osten voran, setzt den Trend:

Mit dem wachsenden Erfolg der AfD haben die sogenannten Neuen Länder eine Lokomotivfunktion, dort ist die selbsternannte Alternative für Deutschland über weite Strecken schon Volkspartei.

„Vor 33 Jahren sind die damaligen DDR-Bürger in einen Zug nach Deutschland eingestiegen, aber viele sind da nie angekommen“, beschreibt Sergej Lochthofen die Entwicklung mit einem Bild. … Die veränderte Wirklichkeit habe diejenigen Teile der Bevölkerung überfordert, für die Sicherheit und Überschaubarkeit vor Freiheit rangierten, die in Demokratie und offener Gesellschaft eher eine Bedrohung sähen. Ihre Prägung durch den DDR-Staat habe sie zudem anfällig für autoritäre Muster gemacht, für rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut.

Möglicherweise erleben wir im Westen gerade – zeitverzögert – auch eine große Verunsicherung. Die Welt, wie wir sie vielleicht in der Kindheit wahrgenommen haben, löst sich auf. … Da kommt ein politisches Angebot wie das der AfD gerade recht, verspricht es doch, eine unrealistisch verklärte Vergangenheit wieder herzustellen: Ohne Globalisierung und Migration, hierarchisch geordnet, sozial gesichert. Schon ein flüchtiger Blick in Archive zeigt, dass es eine solche Vergangenheit nie gab – außer in Bullerbü.

#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

Irgendwie sind 33 Jahre Mauerfall wie ein 33 Jahre andauernder Grundkurs, journalistisch angemessen über eine Region und ihre Menschen zu berichten. Mit Erfolg: Bei der Berichterstattung zu Ost-West-Themen sind die Antworten fundierter und erhellender geworden.

Doch es ist beim Blick auf den Osten Deutschlands geblieben. Denn eine Hälfte der vielbeschworenen deutsch-deutschen Geschichte blieb gerne außen vor. Denn:

Was ist mit Westdeutschland?

Unsichtbar: Westdeutschland

Bei all den Berichten, Analysen und Erkenntnissen über Ostdeutschland bleibt die alte Bundesrepublik so blass wie, nun ja: die neuen Bundesländer den Westdeutschen nach der Vereinigung.

Denn anders als bei Ostdeutschen gibt es keine medialen Deutungsversuche, was Westdeutsche vom Rest Deutschlands unterscheidet. Westdeutschland ist zwar die Norm, an und mit der sich Ostdeutschland beständig messen muss – doch wo wird diese Norm benannt?

Tatsächlich sind der westdeutsch schauende Blick und die aus Westdeutschland agierende Position oft nicht sichtbar. Ähnlich sieht es bei westdeutschen Privilegien aus: Auch sie sind unsichtbar — aber stets vorhanden. So können Westdeutsche aus der Perspektive eines allgemein-deutschen „Wir“ sprechen und ihre Herkunft ist gemeint, wenn über „Deutschland“ gesprochen wird. Westdeutschland und Westdeutsche scheinen derart selbstverständlich, dass sie nicht erklärt werden müssen.

Erklärungsbedürftig: Westdeutschland

Das ist der Stand, den man für die aktuelle mediale Berichterstattung feststellen muss. Dabei gehört es zu den zentralen Aufgaben des Journalismus, kritisch zu sein. Und das heißt: Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Blinde Flecken sichtbar machen. Insbesondere bei denjenigen, die in der Öffentlichkeit sprechen und entscheiden können. Leider passiert das nicht und eine machtvolle Position bleibt unsichtbar – und zieht möglicherweise einen Teil ihrer Macht aus dieser Unsichtbarkeit.

Dabei wäre es wichtig, diesen Teil Deutschlands zu verstehen. Schließlich ist es in der Regel ein westdeutscher Blick, der Debatten in Deutschland setzen und durchführen kann. Gleichzeitig stellen westdeutsch sozialisierte Menschen den Großteil der Eliten, etwa in Politik, Wirtschaft und Medien.

Es sollte daher ein breites Interesse geben, Westdeutschland und Westdeutsche zu verstehen. Deren Kultur und die davon geprägten Selbstverständnisse würden helfen, Stimmungen und Entscheidungen zu verstehen.

Deshalb: #WestdeutschAwareness Week!

Wir wollen daher unseren Beitrag leisten, das unsichtbare Westdeutschland zu erkennen: Am 9. November rufen wir die #WestdeutschAwareness-Week aus!

Im 33. Jahr des Mauerfalls wollen wir so auf die Leerstelle „Westdeutschland“ aufmerksam machen. Wir wollen Diskussionen in Bewegung bringen und Akteur*innen vernetzen. Wir wollen zusammentragen, was es bereits an Erhellendem über diesen Teil von Deutschland gibt. Vor allem aber wollen wir: Westdeutschland verstehen.

Wer jetzt irritiert ist: Dieses Gefühl gehört dazu, wenn eine unsichtbare Norm ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt word. Sich mit ihr zu beschäftigen, heißt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und ja, das muss zwangsläufig irritieren.

Wer jetzt schmunzelnd den Kopf schüttelt, denkt wahrscheinlich an all die einseitigen und klischeehaften Medienberichte über Ostdeutschland. Soll es den gleichen Quatsch jetzt auch über Westdeutschland geben? Auf keinen Fall! Wir sollten daraus lernen, wie wir über- und miteinander sprechen können. Damit aus der deutsch-deutschen Berichterstattung auch ein deutsch-deutsches Verständnis werden kann.

Fragen an Westdeutschland

Um gute Gedanken über Westdeutschland zu finden, stehen bei dieser #WestdeutschAwareness-Week Fragen im Mittelpunkt. Das bedeutet konkret: sieben Aspekte über Westdeutschland, die wir zusammen beleuchten können.

Machen Sie mit und sprechen Sie über Westdeutschland! Unten in den Kommentaren, drüben bei Twitter, per Mail oder bei Freunden und Bekannten.

  • Was hat sich durch den Mauerfall in Westdeutschland und in westdeutschen Biografien verändert?
  • Was sind aktuelle Herausforderungen, die spezifisch westdeutsch sind?
  • Warum sind in Westdeutschland rechte Positionen weniger stark als im Rest von Europa?
  • Warum verstehen sich Westdeutsche nicht als westdeutsch, sondern eher als Nord- oder Süddeutsche, als Deutsche oder als Europäer*innen?
  • Gibt es Privilegien in Westdeutschland bzw. für in Westdeutschland sozialisierte Menschen? Wenn ja: Welche sind das?
  • Was lernen Schüler*innen über westdeutsche Geschichte und Kultur?
  • Warum ist Westdeutschland anders als Ostdeutschland?
  • Bonusfrage: Was sollte auf diesem Titelbild zu sehen sein?
    So isser, der Wessi

Was es schon gibt: Westprivilegien, Critical Westness und Beispiele

Die Idee, auf Westdeutschland zu blicken und unsichtbare Normen und privilegierte Positionen zu benennen, ist nicht neu. Bereits 2010 hat die Kulturanthropologin Urmila Goel dazu geschrieben.

2019 brachte der Sozialwissenschaftler Heiner Schulze den Begriff der „Critical Westness“ in die Debatte ein. Das meint einen (selbst-)kritischen Blick auf westdeutsche Normen. (Hier gibt es eine archivierte Version.)

Aus beiden Texten kommen viele Anregungen für den Ansatz und die Inhalte unserer Aktion – vielen Dank an die Autor*innen.

Und schließlich gibt es auch journalistische Veröffentlichungen, die #WestdeutschAwareness zeigen: Unter dem Titel „Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ veröffentlichte 2022 Nicole Zepter ein Essay aus westdeutscher Perspektive. Ebenfalls 2022 und auch ausdrücklich westdeutsch schrieb Markus Decker: „Wie ich mit Olaf Scholz in der DDR mal gemeinsame Sache machte“. Beides sind erhellende Beispiele, wie fruchtbar es sein kann, diese Perspektive einzubringen.

Vielen Dank an Kati und Anne für die wertvollen Rückmeldungen!

Atommüll-Endlager — die Suche nach Bundesländern im Osten

Atommüll-Endlager - die Suche nach Bundesländern im Osten

Wo wird es Endlager für Atommüll in Deutschland geben? Heute hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Zwischenbericht vorgelegt. Wie zu erwarten war, spielt in den Medienberichten hierzu der Standort Gorleben eine prominente Rolle. Aber auch Ostdeutschland kommt prominenter vor als gedacht. Und gleichzeitig wird Morsleben prominent ignoriert. Doch machen wir uns zunächst auf die Suche, wo Endlager in Deutschland eigentlich möglich sind.

Auf der Website der FAZ lautet der Teaser:

 „In Gorleben wird es kein Endlager für Atommüll geben, auch das Ruhrgebiet scheidet aus. In Frage kommt dagegen Bayern – aber auch große Teile Ostdeutschlands.“

Auffällig: Neben einer Stadt und einer Bergbauregion werden hier offenbar zwei Bundesländer genannt: Bayern und Ostdeutschland. Aber zeigt denn der Artikel detaillierter auf, worum es sich bei den „großen Teilen Ostdeutschlands“ handelt? Nicht wirklich:

„Die BGE hat neben Bayern andere Salzstöcke in Niedersachsen wie auch Gebiete in Baden-Württemberg sowie große Teile Ostdeutschlands auf der Liste. Das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Heißt also: „Große Teile Ostdeutschlands“ umfassen nicht Mecklenburg-Vorpommern.

Aber vielleicht kann uns die Meldung von n‑tv konkretere Informationen geben?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern. Das Saarland, Teile von Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Argh! Aber vielleicht die Süddeutsche Zeitung?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern.“

Verdammt, auch nicht… Wie ist es mit dir, Deutsche Welle?

„Salzstöcke in Niedersachsen gelten weiter als grundsätzlich geeignet, ebenso Granitschichten in Bayern — das sich politisch zuvor gegen Atommüll verweigert hatte. Auch in Baden-Württemberg und weiten Teilen Ostdeutschlands finden sich geeignete Gebiete. Weil der Atommüll nicht in Erdbebenregionen lagern soll, scheiden das Ruhrgebiet und das Saarland mit ihren zahlreichen alten Bergwerken aus.“

Aber vielleicht kann die Zeit präzisieren?

„Die Teilgebiete finden sich deutschlandweit unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und in ostdeutschen Ländern wieder.“

Also auch nicht. Tagesschau, du informierst uns doch immer differenziert, oder?

„Diese sogenannten Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern.“

Was steckt dahinter?

Halten wir fest: Das bringt alles nichts. Schließlich zeigt ein genauer Blick, dass sich die oben genannten Artikel auf eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) mit eben jener Formulierung stützen. Zwangsläufig ist sie nicht, wenn man auf die heute veröffentlichte Karte schaut.

Teilgebiete für Atommüll-Endlager
Quelle: Pressemitteilung der BGE vom 28.9.2020

Ebenso könnte man etwa von Nord- oder Süddeutschland sprechen. Oder wie es die BGE in ihrer Pressemitteilung formuliert hat:

„Die Teilgebiete verteilen sich auf alle Bundesländer mit Ausnahme des Saarlands.“

Liest man diese Pressemeldung ebenso wie den kompletten Bericht, kann man übrigens feststellen: Der Begriff „Ostdeutschland“ kommt dort gar nicht vor. Die BGE beschreibt die Teilgebiete für mögliche Endlager stattdessen ganz nüchtern anhand der Bundesländer. Der Blick auf die „ostdeutschen Länder“ ist also in diesem Fall eine mediale Konstruktion – von der dpa ins Leben gerufen und danach unhinterfragt weitergetragen.

In den letzten Jahrzehnten wurde so häufig von „Ostdeutschland“ gesprochen, dass es leicht fällt, hier ein homogenes Gebiet auszumachen. Ganz im Gegensatz zu Nord- oder Süddeutschland – hier stehen konkrete Regionen und spezifische Bundesländer im Fokus. Dass dies etwa auch für Thüringen und Brandenburg gelten könnte, kann der mediale Blick offenbar nicht sehen.

Ost-West-Debatte beim Atommüll

Dabei beschränkt sich der Bezug auf Ostdeutschland beim Thema Atommüll nicht nur auf bloße Kartenbeschreibungen. So heißt es in einem Kommentar im Berliner Tagesspiegel:

„Wenn in einem Jahr die Bundestagswahl ansteht, könnte die Vorauswahl in der Endlagersuche ein heißes Wahlkampfthema werden. (…) Da ist Bayern, wo sich CSU und Freie Wähler 2018 in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, dass der Freistaat kein geeigneter Standort sei. (…) Dann sind da Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die sich immer wieder frei nach dem Motto äußern: „Überall, nur nicht hier“. Und aus dem Osten ist auch mal zu hören, man wolle kein Endlager für westdeutschen Atommüll bauen.“

Und schwupps, sind wir mittendrin in der Ost-West-Debatte. Da reicht offenbar auch ein ungefähres Munkeln („ist auch mal zu hören“), um auf die gleiche Stufe wie ein Koalitionsvertrag gestellt zu werden. Dabei wäre ein anderer Hinweis deutlich treffender gewesen: Westdeutscher Atommüll im Osten ist Realität.

Was wird nicht thematisiert?

In Sachsen-Anhalt befindet sich das Endlager Morsleben. Von 1971 bis 1991 lagerte die DDR hier radioaktive Abfälle ein. Aber auch danach ging es weiter – und das in deutlich größerem Umfang, wie der Spiegel 2019 berichtete:

„Während das nun wiedervereinigte Deutschland andere Industrieanlagen der DDR als hoffnungslos überaltert und nicht wettbewerbsfähig abwickelte, sollte das Atommüll-Endlager bestehen bleiben. Die DDR-Betriebserlaubnis galt weiterhin. Zwischen 1994 und 1998 lagerte die Bundesrepublik in nur vier Jahren deutlich mehr ein als die DDR in 20 Jahren, und es sollte ursprünglich noch viel mehr werden.“

Dann stoppte ein Gericht die weitere Einlagerung, seit 2005 läuft ein Verfahren zur Stilllegung (weitere Informationen bei der BGE).

Beim aktuellen Bericht der BGE gehört Morsleben zu den ausgeschlossenen Gebieten. Im Gegensatz zum 120 Kilometer entfernten Gorleben und seiner Protestkultur stand dieses Lager kaum im Zentrum der Aufmerksamkeit – vor allem nicht in einer gesamt- oder gar westdeutschen Perspektive. 

Dabei hätte es sich jetzt angeboten, von Morsleben zu sprechen. Nicht nur, um vorhandene Atom-Endlager in Deutschland zu thematisieren. Sondern auch, damit nicht nur von „ostdeutschen Ländern“ einerseits und ostdeutschen Befindlichkeiten andererseits die Rede ist.

8. Mai: Der westdeutsche Blick ist eine Niederlage

Am 20. Juli hielten Antje Vollmer und Philipp von Schulthess, Enkel von Stauffenberg, eine Rede zum Hitler-Attentat 1944. Ihr Kniff: Sie deuten dieses Attentat als einen „Tag der Befreiung“. Sie stellen diese Deutung in eine Reihe mit einem anderen „Tag der Befreiung“, dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie nehmen dabei Bezug auf die Weizsäcker-Rede von 1985:

Vor 35 Jahren hat Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Interpretation geprägt, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Das war damals ein mentaler Durchbruch, denn viele hatten bis dahin den 8. Mai nur als Tag der Niederlage begriffen.

Berliner Zeitung, 21. Juli 2020

Interessant sind dabei zwei Dinge: Das Wort „viele“ ist ziemlich unpräzise und die Sicht der DDR – Weizsäcker vertrat ja die BRD – kommt nicht vor. Holen wir das doch nach.

In der DDR war der „Tag der Befreiung“ Teil der offiziellen Erinnerungskultur. Er wurde ab 1950 begangen, teilweise als Feiertag. Die in der Rede angesprochene Sichtweise – der „Tag der Niederlage“ – war eine westdeutsche Sicht, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung ausführt.

Dieses Verständnis ist übrigens heute noch problemlos sagbar – so war eine Rede der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 2013 überschrieben mit „Der 8. Mai war nicht für alle Deutschen ein Tag der Befreiung“. Der Grund: Die deutsche Teilung und das politische System der DDR. Das sind die gleichen Aspekte, die auch im alten Westdeutschland als Begründung für das Sprechen von der „Niederlage“ angeführt wurden. Doch verharmlost das nicht die Verbrechen Deutschlands während der NS-Zeit? Öffentliche Debatten dazu gibt es nicht – der westdeutsche Blick gilt offenbar immer noch als legitim.

Dass das höchste Staatsamt der Bundesrepublik erst 35 Jahre nach der DDR von der Niederlage spricht, kann man also als „Interpretation prägen“ bezeichnen, wie es Antje Vollmer und Philipp von Schulthess tun. Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen. Eine ostdeutsche etwa und es wie Christoph Dieckmann formulieren: „Endlich gesteht’s der Westen!“

Bündnis 90: Bedeutend gefeiert und prominent ignoriert

Stell dir vor, du bist als Journalist auf einer Feier und weißt anschließend nicht, was gefeiert wurde. Klingt seltsam? Leider ist dies an diesem Wochenende mehrfach passiert. Denn die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ beging am 10. Januar 2020 einen Doppelgeburtstag — 40 Jahre „Die Grünen“ und 30 Jahre „Bündnis 90“. Und einige Medienberichte haben einen Teil der Feier übersehen.

Zuvor ein kurzer Exkurs in die Geschichte (ausführlich bei Wikipedia): Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“ gegründet. 1990 wiederum bildeten verschiedene Oppositionsgruppen in der DDR die Listenvereinigung „Bündnis 90“. Drei Jahre später schlossen sich beide Gruppen zusammen, die Partei heißt seitdem offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“.

Im Januar 2020 nun also das große Jubiläumsfest, die großen Medien berichten ausführlich. Allerdings scheinen sie von ganz unterschiedlichen Festen zu schreiben. Und von ganz unterschiedlichen Parteien.

Die Problematik der zweiteiligen Partei wird allein von Jana Hensel benennt, in der Zeit schreibt sie:

Nicht nur der 40. Geburtstag der West-Grünen wurde begangen, sondern auch der 30. Geburtstag von Bündnis 90, dem ostdeutschen Vorläufer der Partei, der in der Vergangenheit gern mal vergessen wurde.

Jana Hensel: Happy Birthday, Gegenwart, Die Zeit, 11.01.2020

Weitere Erläuterungen zu dieser Problematik oder zur Bedeutung von Bündnis 90 gibt sie allerdings nicht.

Die Süddeutsche Zeitung stellt die Geschichte der Partei ausführlich dar. Selbst die Geschichte der Grünen in der DDR bekommt einen eigenen Abschnitt — so detailliert ist sonst kein Medium bei diesem Thema. Constanze von Bullion schlägt in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen eine Verbindung zwischen der Partei und der deutsch-deutschen Geschichte:

Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

Constanze von Bullion: Langer Lauf zum deutschen Staat, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2020

Bedeutung von Bündnis 90

Auch andere Artikel sehen die Verbindung aus Bündnis 90 und Grünen als bedeutungsvoll an. So schreibt etwa Sascha Lehnartz in Die Welt:

Dass die Partei in die Mitte der Gesellschaft gerückt sei, sei nicht zuletzt dem Zusammenschluss mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 zu verdanken

Sascha Lehnartz: Eine Mahnung von Grumpy Opa Joschka an die stürmische Jugend, Die Welt, 11.01.2020

Und Stephan-Andreas Casdorff meint im Tagesspiegel:

Dass die Grünen zu einer politischen Institution werden konnten, haben sie der Wiedervereinigung zu verdanken. Ohne die und eine nachfolgende Vereinigung mit Bündnis 90 aus dem Osten gäbe es sie heute womöglich gar nicht mehr. Oder nicht so. (…) Die Bürgerbewegung der DDR war gewissermaßen ihre Rettung.

Stephan-Andreas Casdorff: Dem Osten sei Dank!, Tagesspiegel, 12.01.2020

Die DDR-Oppositionellen haben also nicht nur einen Staat zu Fall gebracht, sondern auch die Grünen gerettet! Das ist in dieser Lesart überraschend deutlich und wäre vor ein paar Jahren wahrscheinlich so noch nicht möglich gewesen.

Bündnisgrüne: Konflikte und Ausblicke

Wo aber steht diese Partei aus zwei Herkünften heute? Das Magazin Cicero sieht eine westdeutsche Dominanz:

Doch trotz aller Verneigungen (…) kann auch an diesem Abend auch der Auftritt der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne Birthler, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei westdeutsch dominiert ist

Moritz Gathmann, Bastian Brauns: Piep, piep, piep, Cicero, 11.01.2020

Diesen Blick innerhalb hatten wir auf einwende bereits 2018 als „Wessi-Brille“ thematisiert. Beim Jubiläumsfest gerät diese Fokussiert aber in Bewegung, das beobachtet Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Auch Marianne Birthler, die einst Sprecherin von Bündnis 90 und zuletzt Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen war, hatte noch einen Wunsch: Die Partei möge sich in „Bündnisgrüne“ umbenennen. Viele Vertreter der Bürgerbewegungen aus der DDR (…) stören sich daran, dass im normalen Sprachgebrauch der volle sperrige Name „Bündnis 90/Die Grünen“ oft zu „Die Grünen“ verkürzt wird und der Anteil der Ostdeutschen untergeht. Beide Parteivorsitzenden ließen am Freitagabend deutliche Sympathien für diesen Vorstoß erkennen.

Helene Bubrowski: Die Grünen genießen ihren Albtraum, FAZ, 11.01.2020

Valerie Höhne vom Spiegel fällt die Bezeichnung ebenfalls auf — und wagt einen Blick in die Zukunft:

Der Begriff „Bündnisgrüne“ fällt auf, er wird an diesem Abend mehrfach gebraucht. (…) Vielleicht ist es der erste Schritt, den umständlichen Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen in einen einfacheren umzuwandeln, in einen, der dem ostdeutschen Bündnis im Namen einen ebenbürtigen Platz einräumt

Valerie Höhne: Trau‘ keinem über 40, Der Spiegel, 11.01.2020

Prominent ausgeblendet

Ohne Bündnis 90 würde es die Grünen nicht mehr geben. Eine neue Bezeichnung für die Partei wird etabliert. 

Das sind bedeutende Erkenntnisse aus einer Jubiläumsfeier, an der eine journalistische Berichterstattung nicht vorbei kommen kann, oder?

Doch! Schließlich wurde 2019 ausreichend auf Ostdeutsche und ihre Befindlichkeiten geschaut — jetzt ist mal eine gute westdeutsche Partei aus guter alter westdeutscher Sicht dran!

So verkürzt der Stern den Zusammenschluss auf eine Umbenennung, das Twix unter den Parteien also:

1993 hatten sie sich — trotz heftiger Konflikte — zusammengeschlossen und heißen nun seitdem Bündnis90/Die Grünen.

Von der Öko-Opposition zur Regierungspartei: Wie sich die Grünen verändert haben, stern, 10.01.2020

Der Bonner General-Anzeiger verkürzt weiter und schmeißt sowohl Bündnis 90 als auch den Zusammenschluss von 1993 aus der Wahrnehmung:

Das war die Lehre der verlorenen Bundestagswahl von 1990. Wie keine andere Partei hat sie sich danach gewandelt.

Helge Matthiesen: Eine Erfolgsgeschichte, General-Anzeiger, 10.01.2020

Die Augsburger Allgemeine, die tageszeitung und Die Welt schweigen sich über die ostdeutschen Aspekte der Partei gleich komplett aus. Eine 45-minütige Dokumentation der ARD findet darüber auch auch kein Wort. (Danke an Robert Heinrich für den Hinweis.)

Sensible Sichtbarmachung

Nun ließe sich vortrefflich streiten: Welche Rolle spielt die DDR-Opposition denn heute noch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen? Welchen Stellenwert hat dieser Zusammenschluss im Vergleich zu den ökologischen Ansprüchen der Partei? Lässt sich die Partei überhaupt als eine west-ostdeutsche Partei verstehen? 

Das alles sind und wären wichtige Fragen, die in Medienberichten im doppelten Jubiläumsjahr – 40 Jahre „Bündnis90/Die Grünen“ und 30 Jahre Wiedervereinigung – unbedingt gestellt werden müssten. Denn gerade durch die ausführliche Berichterstattung über den Osten im letzten Jahr ist deutlich geworden: Es kann nicht so weiter gehen wie bisher.

Es ist also gut, dass der mediale Blick auf diese Parteifeier so unterschiedlich ist. Denn er zeigt, dass die Wahrnehmung ostdeutscher Belange sensibler wird. Und dass noch viel zu tun ist.

Das Nudossi-Klischee: Nuss, Nougat und Nostalgie

Wer über den Brotaufstrich Nudossi spricht, muss zwangsläufig auch die Konkurrenz Nutella erwähnen. Das ist offenbar so auffällig, dass der Wikipedia-Eintrag von Nudossi gleich im ersten Absatz das Thema verhandelt:

Die Bezeichnung „Ost-Nutella“ ist nur bedingt zutreffend, da die Zusammensetzung mittlerweile völlig anders ist als noch zu DDR-Zeiten und sich stark von Nutella und vergleichbaren Aufstrichen unterscheidet.

Und noch ein Aspekt unterscheidet die beiden Cremes voneinander: Nudossi wird nur über seine Herkunft wahrgenommen. Ein Artikel auf Zeit Online vom 11.9.2017 ist da ein schönes Beispiel. Denn über Nudossi wird darin auf folgende Weise gesprochen:

  • [es gibt Menschen], die sich nach den guten alten Dingen sehnen
  • alte DDR-Marke
  • Bis heute schmieren sich viele Ostdeutsche mit Nudossi allmorgendlich eine Schicht Sehnsucht auf die Stulle.
  • die Marke, die immer von diesem süßen Gestern lebte
  • DDR-Kultmarke
  • die Sehnsucht nach einem Produkt von damals befriedigt
  • Der hohe Nussanteil geht zurück auf die Mangelwirtschaft der DDR
  • der neue ostdeutsche Öko-Mut
  • sein größtes Geschäft [bleibt] das mit der Nostalgie. An Nostalgie darf man nichts verändern.
  • das Ost-Original bleibt aber in Plaste

Essen als Erinnerung

Fassen wir also zusammen: Nudossi kommt aus der DDR und steht für Nostalgie und Sehnsucht. Das ist bemerkenswert, denn Essen funktioniert oft darüber, dass der Geschmack an die eigene Kindheit erinnert. Das nutzt die Lebensmittel-Industrie gezielt aus, wie die Augsburger Allgemeine 2014 berichtete. Und 10 Jahre zuvor war der 40. Geburtstag von Nutella Anlass für eine Ausstellung. Der Werbetext damals:

Für die „Generation Golf” ist sie eine süße Erinnerung an die Kindheit, für Ernährungswissenschaftler ein Graus: Die Schokoladencreme „Nutella”.

Abseits davon wird Nutella vergleichsweise selten als West-Produkt charakterisiert, stattdessen spricht man lieber von „Deutschlands Liebling bei den Nuss-Nougat-Cremes“ (so etwa der Stern).

Nudossi hingegen kommt ohne die ausdrückliche Zuschreibung einer nostalgischen Vergangenheit nicht aus. Und wird damit klar reduziert. Denn dann spielen qualitative Unterschiede keine große Rolle — oder werden kritisch zur Kenntnis genommen. „36 Prozent Haselnuss sollen drin sein“, schreibt Werben & Verkaufen vorsichtig-ungläubig – bei Nutella sind es 13 Prozent.

Nostalgie allein verkauft nicht

Wenn aber etwas rückwärtsgewandt ist, dann ist es der Bezug auf die Herkunft von Ost-Produkten als Produkte aus dem Osten. Die Hersteller haben nämlich längst erkannt: Die Nostalgie-Schiene funktioniert nicht mehr (so die Sächsische Zeitung im Jahr 2015). Einfacher Grund: Der Generationenwechsel. Der Kauf aus DDR-Nostalgie ist inzwischen nur noch ein ständig wiederholtes Klischee.

Damit wären wir wieder beim eingangs erwähnten Artikel der Zeit. Denn er schwingt nicht nur die Nostalgie-Keule, sondern berichtet auch über ein neues Nudossi-Produkt, das auf Palmöl verzichtet. Damit will das Unternehmen nicht nur einen weiteren qualitativen Vorsprung zur Nutella-Konkurrenz setzen – es will sich auch abseits seines Nostalgie-Klischees positionieren. Doch solange Medien diese Vorurteile unkritisch wiederholen, haben es alle Ost-Produkte schwer gegen „Deutschlands Liebling“ jeder Art.

Update

Josa Mania-Schlegel, Autor des Zeit-Artikel, verweist auf die Radiospots von Nudossi, die tatsächlich sehr stark an Nostalgie appellieren. Auch die Unterstützung ostdeutscher Sportler_innen zeigt eine starke regionale Verortung:

Ignoriert: Ost und West ändern Einstellungen zu Flüchtlingen

Der Journalist Hans Zippert schreibt jeden Tag eine Kolumne in der Tageszeitung Die Welt. Dafür wurde er 2007 und 2011 mit dem renommierten Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Das muss man wissen, wenn man den Auszug aus seiner Kolumne vom 7. April 2017 liest:

Die Unwillkommenheitsgefühle [sind] im Osten des Landes weitaus größer als im Westen. Das könnte daran liegen, dass die Ostdeutschen sich 1989 auch zu wenig geliebt gefühlt haben. […] Die Westdeutschen wurden aber auch nicht gefragt, ob sie ostdeutsche Wirtschaftsflüchtlinge willkommen heißen würden.

Das wäre schon in den 90ern ziemlich unlustig gewesen, aber darum geht es hier gar nicht. Wir wollen ja inhaltlich argumentieren.

Zippert bezieht sich in seinem Text auf eine neue Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Sie hat untersucht, welche Stimmung in Deutschland Flüchtlingen gegenüber herrscht. Dumm nur: Diese Umfrage stellt das genaue Gegenteil fest — die Stimmung in Ost und West hat sich umgekehrt. So steht in der Welt, ebenfalls am 7. April:

Inzwischen sind demnach 55 Prozent der Westdeutschen gegen einen weiteren Flüchtlingszuzug und 51 Prozent der Ostdeutschen.

Hans Zippert hätte also in seiner eigenen Zeitung lesen können, dass sein Text nicht auf Tatsachen beruht. Dass er über 27 Jahren nach dem Fall der Mauer immer noch in Klischees denkt und seine Kolumne mit müden Stereotypen füllt.

Ach ja, dafür bekommt man übrigens Henri-Nannen-Preise.

Weniger Gehalt im Osten, keine Meldung für den Osten

Es ist eine simple Meldung: In Deutschland ist das Gehalt unterschiedlich hoch. Je nach Region verdienen Menschen im gleichen Beruf deutlich mehr Geld. Oder deutlich weniger in den neuen Bundesländern: Sie stehen am Ende der Tabelle. Das ist prinzipiell keine neue Erkenntnis, vor genau fünf Jahren hatte eine Studie festgestellt, dass der wirtschaftliche Unterschied zwischen Ost und West noch lange bestehen wird.

Mit welchen Überschriften aber machen Medien diese Meldung auf? So heißt es bei der FAZ:

Ostdeutschland lohnt sich noch immer nicht

Und die Website von n‑tv titelt:

Hier arbeiten Sie besser nicht

Gemeinsam ist diesen Überschriften eine wirtschaftlich-westdeutsche Perspektive: Der Osten lohnt sich erst dann, wenn man dort mehr Gehalt bekommt. Dort also besser nicht arbeiten!

Übersehen hat man beim Texten der Überschriften wohl, dass es bereits Menschen gibt, die in Ostdeutschland arbeiten. Welche Botschaft soll bei ihnen ankommen? Ihre Arbeit lohnt sich nicht? Sie sollten besser nicht arbeiten? Dazu sagen uns die Überschriften nichts, sie wollen es gar nicht. Denn sie sagen uns vor allem: Als Zielgruppe der Beiträge stellt man sich die Menschen im Osten nicht vor.