Wenn der Westen weint: Wendeverlierer, buhuhu

Westdeutschland ist Wendeverlierer.

So beginnt Henryk M. Broder seine Polemik in der Welt. Dies ist als journalistische Spielart ganz famos, denn man kann munter Behauptungen aufstellen, emotional argumentieren und an altbekannte Bilder in den Köpfen anknüpfen. Da wachsen im Osten ganz ironiefrei blühende Landschaften und schöne Innenstädte. Und im Westen?

Die Industrieruinen stehen jetzt im Westen und legen Zeugnis ab vom Niedergang ganzer Regionen.

Dass vor allem das Ruhrgebiet den Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft verkraften musste, ist bekannt. Was dies allerdings mit der Wende zu tun hat, erschließt sich nicht so ganz. Und der Blick auf Gebäude und Landschaften bleibt bezeichnenderweise an der Oberfläche. Ganz andere Aussagen mal kurz angerissen: Die meisten Millionäre Deutschlands gibt es in Düsseldorf, München, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg. Schlusslichter sind hier übrigens Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Beim monatlichen Nettoeinkommen treten die Wendegewinner laut Broder erst ab Platz 10 auf, damit allesamt unter dem deutschen Durchschnitt. Westdeutscher Niedergang sieht anders aus.

Düsseldorf sieht heute wie Leipzig vor 30 Jahren aus: heruntergekommen, trostlos, verschlissen. Allerdings immer noch besser als Dortmund, Duisburg, Mannheim, Stuttgart, Aachen oder Mainz, wo man sich offenbar mit der fortschreitenden Verelendung abgefunden hat.

Das Problem ist eher: Düsseldorf sieht immer noch aus, wie es vor 30 Jahren ausgesehen hat. Und ich sage es nur ungern, dafür aber polemisch: Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Städte jemals schön waren. So wie auch Eisenhüttenstadt niemals eine Perle an der Oder war. Wer schöne Innenstädte sucht, wird sie auch an vielen Stellen in Deutschland finden. Unabhängig von der Region, aber auch nur da, wo es die Städte hergeben: Münster, Lübeck, Nürnberg oder Rothenburg ob der Tauber etwa.

Es geht aber eigentlich um etwas ganz anderes, das erkennt auch Henryk M. Broder:

Während man inzwischen im Osten als Gast fair und freundlich behandelt wird, regiert im Westen die Abzocke.

[…] Hässlichkeit wirkt wie ein Virus, wer sich vor Ansteckung schützen will, macht entweder die Augen zu oder redet sich ein, er müsse eben Opfer bringen, damit sich eines Tages eine Utopie erfüllt. So war es bis zur Wende in der DDR, und so ist es heute in weiten Teilen des Westens, wo sich allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass man zu den Wendeverlierern gehört. Wozu soll man sich dann noch anstrengen?

Damit ist das Bild komplett: Schäbige Innenstädte, Abzocke, fehlende Anstrengung — und das bei einem hohen Einkommensniveau und vielen Millionären. Das Problem, lieber Herr Broder, lieber Westen: Es ist hausgemacht.

Watt’n das? 1

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung gibt es in Europa noch einige unentdeckte Gebiete. Doch Markus Lanz nimmt es auf sich, die weißen Flecke auf der Landkarte zu erforschen. Als investigativer Nahost-Experte fragte er also in der „Wetten dass“-Ausgabe vom 9.11.2013:

Waren Sie schon einmal so weit um Osten?
zitiert nach diepresse.com

Die Sendung fand in Halle (Saale) statt, die Frage ging an Lukas Podolski. Ja, an Lukas Podolski.

Es scheint, die Deutschlandkarte muss ein wenig überarbeitet werden: Irgendwo zwischen Ost- und Westdeutschland muss noch Polen hinein gequetscht werden. Und Halle schien ja bereits für den Deutschlandfunk den östlichsten Zipfel des bekannten Universums darzustellen.

Wenn das Bildungsniveau von Osten nach Westen fällt 1

„Ein Grund für das gute Abschneiden der ostdeutschen Länder ist tatsächlich die Tradition der polytechnischen Bildung in der DDR“, glaubt Hans Merkens, Erziehungswissenschaftler an der Freien Universität (FU). „Diese Art Bildung war technikfreundlicher als die Allgemeinbildung in der Bundesrepublik.“ […] Auch die Lehrerausbildung sei viel praxisnäher gewesen. […] Erst jetzt werde dieser Praxisbezug wieder in die gesamtdeutsche Lehrerausbildung übernommen, so Merkens.

Erziehungswissenschaftler Hans Merkens in der Berliner Zeitung

Ein Bildungstest des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen hat Neuntklässler in naturwissenschaftlichen Fächern überprüft. Und ein überraschend deutliches Bildungsgefälle Ost-West festgestellt — bislang konnten Unterschiede eher von Norden nach Süden ausgemacht werden. Ost/West? Kaum ein Artikel stellte sich einer so naheliegenden Interpretation wie einleitendes Zitat. Man nehme etwa den Bericht der Süddeutschen Zeitung, die ansonsten durchaus auf das Erbe der DDR Bezug nimmt, hier aber kaum Ursachen für das Testergebnis aufzeigt.  Im Tagesspiegel kommt zudem eine Stimme zu Wort, die das Ergebnis gar nicht so toll findet:

„Erschreckend“ nannte dagegen der Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger die großen Leistungsunterschiede im Ländervergleich. Deutschland dürfe sich nicht damit abfinden, „weil damit auch unterschiedliche Zukunftschancen verbunden sind“.

Komisch. Solange noch das Nord-Süd-Gefälle galt, wurde eher gefragt, wie die Bundesländer von Bayern lernen könnten. Erschreckend war dies nie.

Goldrausch: Eine strukturlose Dokumentation

„Wie können die Menschen zum Subjekt ihrer Geschichte werden?“

Matthias Artzt und Gerd Gebhardt stellten sich im Oktober 1989 diese Frage, als sie das Ende der DDR kommen sahen. Die Wissenschaftler sahen das Eigentum in einer Schlüsselrolle — der Wechsel zum Kapitalismus musste sinnvoll gelöst werden. Sie entwickelten ein Konzept, in dem das DDR-Wort des „Volkseigentum“ ernst genommen wurde: Länder und Kommunen hätten etwas vom Staatsbesitz erhalten, vor allem aber die Bürgerinnen und Bürger. Einen Namen für dieses Konzept hatten sie auch: Treuhand.

Es kam aber anders als gedacht: Politische Entscheidungen wurden in der alten BRD gefällt, auch die durchführenden Personen und Firmen stammten von dort. Sie einte, dass ihre eigenen Interessen im Vordergrund standen: Die Sicherung der eigenen Position, die Ausschaltung möglicher Konkurrenz oder persönliche Bereicherung. Der Umgang der Treuhandanstalt mit dem Vermögen der DDR wird mittlerweile als Fehlleistung eingeschätzt, Werner Schulz (Bündnis90/Grüne) nennt es das „größte Betrugskapitel in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands“.

Geschenkt. Die wirtschaftliche Abwicklung eines Staates war ohne Beispiel — das Vorgehen war also schon von der Grundanlage risikohaft und damit fehleranfällig.

Ein guter Grund also, daraus zu lernen: Die ARD zeigte am 9.10. die Dokumentation „Goldrausch — die Geschichte der Treuhand“ (hier in der Mediathek). Doch dass sie diese Geschichte und ihre Strukturen erklärt, scheint nach einer Reportage der Berliner Zeitung fraglich. Artzt und Gebhardt tauchen im Film nur kurz als Stichwortgeber auf, ihre Konzepte gar nicht. Stattdessen setzt der Film einen Fokus auf Klaus Klamroth, den Leiter der Hallenser Treuhand-Niederlassung. Er wird als naiv dargestellt — das strukturelle Problem der Treuhand verschwindet so hinter persönlichen Unzulänglichkeiten. (Ganz ähnlich sieht übrigens Roland Berger diese Zeit: Nur einige wenige Westdeutsche hätten schadhaft gehandelt. Die Individualisierung von Verantwortung scheint en vogue). Artzt und Gebhardt kritisieren diese Schwerpunktsetzung, denn:

„Wie soll ein großer Zusammenhang erzählt werden mit Figuren, die nicht überblicken, was sie tun?“

So sah es wohl auch Dirk Laabs, der seinen Namen als Regisseur der Dokumentation zurückzog. Seine Recherchen finden sich im gleichnamigen Buch. Es macht deutlich: Die wirtschaftliche Abwicklung der DDR war voller Akteure, deren unterschiedlichen Motive miteinander verflochten waren. Doch dahinter standen professionelle Entscheidungsträger, die entsprechende Strukturen schafften.

Dass es eine Dokumentation im Jahr 2013 nicht schafft, diese Zusammenhänge darzustellen, zeigt eines: Artzt und Gebhardt waren erfolglos in ihrem Bestreben, die Menschen zum Subjekt ihrer Geschichte zu machen.

[mediathek url=„http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1137852/Frontal21-Dokumentation%3A+Beutezug+Ost#/beitrag/video/1137852/Frontal21-Dokumentation-Beutezug-Ost“]

(Die ZDF-Doku „Beutezug Ost“ von 2010 hatte mit dem komplexen Thema hingegen kein Problem.)

Was nützt das Doping in Gedanken?

„Die Polarisierung Ost kontra West ist jetzt beendet. Jetzt zeigt sich deutlich, dass der Sport auf beiden Seiten politisch benutzt wurde.“

Christian Schenk, Olympiasieger im Zehnkampf, im Interview mit der Welt am Sonntag

Am Wochenende hat die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die BRD in bislang ungekanntem Ausmaße Staats-Doping betrieben gefördert hat. Seit April 2013 wurde die Veröffentlichung der Studie zurückgehalten.

(Dieser Text wurde bereits vorsorglich relativiert.)

Verschlusssache: Nach der Stasi

Es scheint, als sollten wir beim Hinweis auf „Stasi-Methoden“ vorsichtiger sein, differenzierter und vor allem selbstkritischer. Wie netzpolitik.org zeigt, werden Unterlagen der Staatssicherheit auch weiterhin für geheimdienstliche Zwecke genutzt. Einrichtungen auf der ganzen Welt fordern die Akten an, darunter das Bundesministerium des Innern und der NSA. Im Zuge des jüngst bekannt gewordenen Abhörskandals des US-Geheimdienstes wurde das Schlagwort der „United Stasi of America“ vor allem in englischsprachigen Medien in Umlauf gebracht. Dass die Verbindungen so eng sind, war da noch nicht bekannt.

Dabei überraschen diese geheimdienstlichen Methoden nicht wirklich. Bedenkenswerter ist allerdings: Während die Tätigkeiten der Stasi immer noch ein breites mediales Echo finden, geriet die fortgesetzte geheimdienstliche Auswertung ihrer Akten nach 1990 schnell in Vergessenheit. Dass auch die Stasi-Unterlagenbehörde diesen Umstand nicht thematisierte, sondern vielmehr den Bedürfnissen der Geheimdienste entsprochen hat, erschreckt umso mehr. Schreibt sie sich doch selbst auf die Fahne, Unrecht aufzuklären und die Bespitzelten zu informieren Die Behörde selbst schreibt dazu:

Da die Stasi massiv in das Persönlichkeitsrecht der Menschen eingegriffen hat, werden die Unterlagen – anders als in gewöhnlichen Archiven – nach strengen Datenschutzrichtlinien vorgesichtet und nur für bestimmte Zwecke und nach besonderen, im Stasi-Unterlagen-Gesetz festgelegten Regeln herausgegeben.

Merke also: Wenn die Staatssicherheit spioniert hat, verletzt es das Persönlichkeitsrecht. Wenn diese Observierungen heute genutzt werden, wird es nicht einmal thematisiert.

Westdeutsche Relevanzkritieren

Malte Lehming ist Leitender Redakteur im Bereich Meinung beim Berliner „Tagesspiegel“. Dort befasst man sich seit den letzten „Enthüllungen“ über Angela Merkel über deutsch-deutsche Befindlichkeiten. Lehmings Artikel „Einwanderer ohne Auswanderung“ fasst all seine Probleme bereits in der Überschrift zusammen. Er beginnt mit einem Witz, der kurz nach der Wiedervereinigung entstanden sein soll und in dem ein „Ossi-Ehepaar“ und ein „Türke“ aufeinander treffen. Lehming erklärt den Witz so:

Aus der Sicht vieler Einwanderer, die in der Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten gelebt hatten, waren die Ostdeutschen 1990 eine große Gruppe von Neueinwanderern. Das Ungewöhnliche an diesen Immigranten war nur, dass sie überwiegend gut Deutsch sprachen und ihre Heimathäuser nicht hatten verlassen müssen. Ansonsten benahm sich ein Stralsunder, der zum ersten Mal nach Köln kam, kaum anders als ein Grieche, Pole oder Spanier. Er fremdelte, staunte, fand sich nicht zurecht.

Das ist eine interessante Art, eine westdeutsche Sicht darzustellen: Sie gar nicht zu benennen und auf andere Bevölkerungsgruppen zu projizieren. Tatsächlich gewinnen Ostdeutsche in dieser Erzählform noch an Exotik, wenn sie zusammen mit ebenfalls als exotisch imaginierten Gruppen dargestellt werden. Westdeutsch, das bleibt auf diese Weise eine unsichtbare und doch allgegenwärtige Norm und Bezugsebene. Dass dies nicht ganz einfach ist, erkennt Lehming zumindest an:

Anders sah es für die Westdeutschen aus. Ihr Leben änderte sich so gut wie nicht. […] Dieser Unterschied hatte eine gravierende Folge. Er führte zu einer Asymmetrie in der Relevanz von Biografien und Vergangenheiten.

Doch bleibt es bei dieser Feststellung. Bereits im folgenden Absatz führt Lehming vor, auf welcher Seite dieser Asymmetrie er selbst steht — und was es bedeutet, die Relevanz von Biografien und Vergangenheiten anderer Menschen abzusprechen:

[D]er Gesamtkomplex DDR – von ZV-Ausbildung über Sättigungsbeilage bis NVA – hatte seine Wirkungsmacht vor mehr als zwei Jahrzehnten unwiederbringlich verloren. Man kann ihn seitdem aus historischen, ethnologischen oder exotischen [sic!] Gründen studieren. Doch wirklich notwendig ist das zum Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft nicht.

Damit irrt Lehming nun außerordentlich. Denn es ist ja insbesondere die Wirkungsmacht, die auch nach 1990 fortbesteht — ganz im Gegensatz zur ZV-Ausbildung, Sättigungsbeilage oder NVA, die ja nun nicht mehr real existierten. In ostdeutschen Gruppen wird noch immer auf Erfahrungen in der DDR Bezug genommen, auf die Sprache und die Unterschiede zu heutigen Lebensumständen. Ein Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ist also erst dann möglich, wenn man diese Wirkungsmacht ernst nimmt. Zumindest dann, wenn man die „deutsche Gesellschaft“ als gesamtdeutsch begreift und nicht nur auf die ehemalige BRD verweisen möchte. Wenn schon eine homogene Gruppe konstruiert werden muss, dann richtig.

Lehming schreibt auch noch über eine interessante westdeutsche Perspektive:

Ob Euro-Krise oder Pädophilie bei den Grünen, CSU-Vetternwirtschaft oder der Drohnenskandal im Verteidigungsministerium: Fast kein aktuell relevantes Thema hat auch nur am Rande mit der DDR zu tun.

Wie sollte es auch? Immerhin existiert dieses Land seit über 20 Jahren nicht mehr. Ich möchte einmal behaupten, dass es da durchaus folgerichtig ist, dass es kaum ein „aktuell relevantes Thema“ gibt. Wobei es aber durchaus relevant ist, wer etwas zu einem Thema machen kann. Die Jugendjahre einer Kanzlerin erscheinen schon allein aufgrund ihrer politischen Position wichtig und auch wenn westdeutsche Pharmaunternehmen in der DDR forschen ließen, wird es zu einem Thema, denn: In jedem Fall gibt es einen Bezugspunkt aus westdeutscher Sicht — relevant sind ostdeutsche Themen also dann, wenn sie den Westen betreffen. Was andersherum bedeutet: Ohne westdeutschen Bezug haben es ostdeutsche Themen ungleich schwerer, zu einem „Thema“ zu werden. Also gehört zu werden. In den Medien aufzutauchen. Relevant zu sein.

Damit schließt sich der Kreis zum Fazit von Lehming, der ganz ähnlich feststellt:

Das ist vermutlich die nachhaltigste psychologische Folge der deutschen Einheitswerdung. Der Ossi erfährt, dass sich der Wessi kaum stärker für ihn interessiert als für andere Einwanderer. Deren Schicksale aber werden zumindest gelegentlich durch Integrationsgipfel und Islamkonferenzen aufgewertet.

Das ist eine durchaus wichtige Erkenntnis in sehr entlarvenden Worten. Denn Lehming scheint „Einwanderer“ als Gruppen zu verstehen, denen es in erster Linie darum geht, wahrgenommen und geliebt zu werden. Integrationsgipfel sollen aber — so kritisch man ihre politische Konstruktion auch sehen muss — gerade nicht darauf reduziert werden, „Schicksale aufzuwerten“. In ihnen soll es darum gehen, wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden kann, zwischen dominanten Mehrheiten und Minderheiten. Es geht um handfeste gesellschaftliche Probleme.

Und es geht auch nicht darum, dass der Ossi — oder wie Lehming wohl meint: der Jammer-Ossi — erkennt, dass sich der Wessi nicht für ihn interessiert. Es geht auch nicht darum, dass  westdeutsch sozialisierten Menschen die Geschichte, Erfahrungen und Werte ost- und gesamtdeutsch sozialisierter Menschen egal ist.

Es geht darum, dass Menschen mit westdeutscher Biographie trotzdem darüber schreiben und urteilen. Und kraft ihrer Deutungshoheit die Diskussion zu einem Thema bestimmen, von dem sie keine Ahnung haben.

DDR-Architektur: Von Ignoranz zum Abriss

„Es wird das gleiche Muster verfolgt wie beim Palast der Republik: Erst lässt man das Haus leerstehen und pflegt es nicht. So dass es vergammelt und alle sich dann mit dem Abriss abfinden.“

So Architekt Wolf Rüdiger Eisentraut. Er hat vor 25 Jahren die „Galerie M“ in Berlin-Marzahn entworfen, die nun abgerissen statt saniert werden soll. Bei dem Gebäude handelt es sich um eines von zwei Neubauten, die in der DDR für die Bildende Kunst errichtet worden sind. Bei einem Abriss würde nur noch die Kunsthalle Rostock bezeugen, wie dieser Staat Kunst präsentieren wollte.

Stasi raus! SED rein!

Dabei haben wir uns alle so schön damit eingerichtet: Alle paar Monate wird ein neuer Stasi-IM enttarnt, kommen ein paar neue Stasi-Details in die Zeitung oder ein Stasi-Film ins Fernsehen. Da hat man was Verlässliches. Da kann man drauf aufbauen.

Und jetzt: Alles aus.

Denn der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat die Arbeit „Stasi konkret“ vorgelegt, in der er zeigt, dass es weniger Inoffizielle Mitarbeiter (so wird IM ausgeschrieben, falls das jemand vergessen hat) gab, als bislang angenommen. Statt 189.000 seien es 109.000 gewesen, Schuld an der bisherigen Zahl seien unter anderem Doppelnennungen gewesen. Doch damit nicht genug. Kowalczuk stellt gegenüber Cicero fest:

Nicht jeder, der IM war, hat Verrat begangen, und viele, die nicht IM waren, müssten im Nachhinein als Verräter eingestuft werden.

Ui, das würde doch heißen, dass alles viel komplexer war, als wir immer dachten? Damit macht er uns die schöne heile Stasi-Welt kaputt! Und er macht weiter:

Ich war selbst Teil des Problems.

Kritik an der bisherigen Stasi-Forschung?

Und das von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen? War doch alles ganz anders, damals in der DDR? Weniger schwarz-weiß-Malerei und weniger Grau im Alltag? Kowalczuk kriegt dann doch noch die Kurve:

Die Stasi war ein wichtiges, aber nur ein Strukturelement des Herrschaftssystems. Das Bild wird in der Geschichtsbetrachtung verzerrt. Die SED muss wieder an Platz 1 gesetzt werden. Es handelte sich um eine SED-Diktatur und nicht um eine Stasi-Diktatur.

Also dann — wir haben eine neue Nummer 1: SED! SED! SED!

Wie wolle man dem auch widersprechen? Denn die Partei Stasiunterlagenbehörde hat immer Recht.

Einseitig gedopt: Eine Doku in der öffentlichen Wahrnehmung

Man stelle sich vor: Da stört sich die Filmemacherin Sandra Kadelka am eindimensionalen Bild, das vom DDR-Sport gezeichnet wird und dreht „Einzelkämpfer“, einen differenzierten Dokumentarfilm über die Menschen und den Sport. Und was dringt von diesem Film an die Öffentlichkeit?

DDR-Olympiasieger gedopt.

„Ach was“, schreibt Claudio Catuogno in der Süddeutschen über diese Reduktion und lobt den Film. Er resümiert: Der DDR-Sport mit seiner Leistungs-Optimierung habe seine Protagonisten ganz gut vorbereitet auf die Leistungs-Optimierung um jeden Preis im Spitzensport West.

„Einzelkämpfer“ feiert seine Premiere am 15.2.2013 auf der Berlinale.