Wenn der Focus Ossis gucken geht

Es gibt Texte, die wärmen uralte Klischees über die „Ossis“ auf und lassen einen etwas ratlos zurück. Die fünfte Folge der Reihe „FOCUS sucht das echte Deutschland“ ist so ein Text. Er ist übertitelt mit „Linkenhochburg Strausberg: Wo manche die DDR für das bessere Deutschland halten“ Focus-Redakteur Frédéric Schwilden besucht eine Hochburg der deutschen Parteien, in diesem Fall also Strausberg in Brandenburg.

Vorgetäuschte Reflexionen

Zu Beginn des Textes schreibt er ganz selbstironisch davon, dass er nun „Ossis gucken“ werde:

„Einfach dorthin fahren, wo man als Westdeutscher den edlen Wilden in Deutschland vermutet. Seit den ersten Pegida-Aufmärschen in Dresden, seit der Aushebung der rechten Terrorzelle in Freital, seit dem angegriffenen Flüchtlingsbus in Clausnitz ist es eben in Mode gekommen, mindestens einen Fotoapparat, aber besser noch eine Kamera mit Licht und Mikrofon auf den Ostdeutschen zu richten. Darauf zu warten, dass er die Zähne fletscht, sich auf die Brust schlägt oder den Hitlergruß zeigt, sein Revier verteidigt und danach genüsslich beim Discounter eine Banane und ein Dosenbier kauft.“

Da freut sich das einwende-Herz, denn soviel journalistische Selbstreflexion ist selten. Und doch bleibt ein schaler Beigeschmack. Können wir Stereotype aufbrechen, wenn sie erneut vorgekaut werden? Befriedigen diese Bilder nicht einfach nur die westdeutsche Sicht auf die „da drüben“?

Denn eines fällt auf: In den übrigen Folgen der Focus-Reihe passiert das nicht. Da steigt der Journalist mit Details und Personen ein. In der CDU-Folge über Groß Berßen nimmt Schwilden Schweineschnitzel, Klinker-Häuser und Christian Wulff in den Fokus. Zu den Grünen in Tübingen geht es gleich zu Beginn um Inge und Walter Jens. Und zu Jachenau (CSU) fällt Schwilden der durchaus poetische Satz ein: „jeder der 848 Einwohner hat eine Geschichte, die größer ist als 128 Quadratkilometer, die mindestens so groß ist wie die ganze Welt.“ Zu Strausberg fällt Schwildens Charakterisierung ungleich profaner aus:

„In der Kleinstadt Strausberg (26.213 Einwohner) in Brandenburg trifft man keine edlen Wilden, sondern echte Menschen aus Fleisch und Blut und mit Hirn.“

Links aber besser

Wir erinnern uns: Strausberg wurde in die Focus-Reihe aufgenommen, weil hier überdurchschnittlich viele Menschen die Linkspartei wählen. Das muss man betonen nachdem es im ersten Absatz um Pegida, rechte Terrorzellen und Hitlergruß ging. Wie bekommt der Artikel da die Kurve zu einer Partei, die mit diesem Phänomen nichts zu tun hat? Schwilden fällt dazu ein clever konstruierter Satz als Überleitung ein:

„Strausberg ist die Hochburg der Linkspartei.“

Und er fährt fort:

„In Strausberg sind noch immer Menschen, die die DDR als das bessere Deutschland empfinden.“

Das Problem mit diesem Satz, der es ja auch in die Überschrift geschafft hat: Er wird nicht belegt. Weder an dieser Stelle, noch im restlichen Artikel. Wenn Schwilden diese Menschen getroffen hat, haben sie es nicht in seinen Text geschafft. Wenn er sie nicht getroffen hat, ist es ein Vorurteil. Beides ist zumindest unsauberer Journalismus.

Gefährliche Nostalgie

Später im Artikel spricht Schwilden von einer „gefährlichen Nostalgie“. Es geht um den Linke-Abgeordneten Christian Steinkopf. Über ihn heißt es im Text: Er war Soldat in der DDR, Geschäftsführer einer Sicherheitsfirma und er hat Geschäfte für eine Spedition in Russland gemacht. Der DDR attestiert er akute demokratische Defizite, die er „nicht so schrecklich“ findet. Stasi-Gefängnisse hält er für rechtmäßig, da deren Insassen gegen Gesetze verstoßen hätten und er schätzt die DDR als Rechtsstaat ein. Das größte Problem Deutschlands sei, „dass wir die Widersprüche von Arm und Reich nicht lösen können“.

Viele Ansichten von Steinkopf kann man kritisieren, seinen Lebenslauf vielleicht auch. Doch all das macht der Text nicht. Er setzt den Abgeordneten in den Kontext der „gefährlichen Nostalgie“ und erklärt doch nicht, was daran gefährlich sein soll. Das ist gefährliche Argumentationslosigkeit, denn Schwilden fällt ein Urteil ohne es zu belegen.

Stasi aus heiterem Himmel

Aber halt! Ein Artikel mit Stereotypen, Klischees und Vorurteilen über den Osten ohne Stasi? Kann das sein? Natürlich nicht! Im letzten Absatz ist das offenbar auch Frédéric Schwilden aufgefallen:

„In Strausberg sieht man, dass der Verstand von Sahra Wagenknecht und die Bürgerlichkeit von Dietmar Bartsch 2017 noch immer nicht reichen, um stasifrei zu sein.“

Wohlgemerkt: Im Artikel war die Stasi bis auf die Bewertung der Gefängnisse kein Thema. Aber für eine Zeitschrift, die mal wieder „Ossis gucken“ will, ist das offenbar kein Grund, auf sie zu verzichten.

Das verflixte 26. Jahr

Und ich dachte schon, die Beiträge zum 25. Jahrestag des Mauerfalls wären merkwürdig gewesen. Mitnichten! Die Beiträge zum 9.11.2015 zeigen erst, welch Sternstunde des Journalismus das damals war. Beispiele? Leider gerne:

Pegida ist eine typisch ostdeutsche Mixtur aus autoritär geprägten Gruppen mit einer völkisch-nationalen Orientierung und einem tief sitzenden anti-libertären Misstrauen. Natürlich gibt es entsprechende Gruppen auch im Westen, aber hier sind sie kulturell eher marginalisiert, was auch nach über einem halben Jahrhundert Abstand von der autoritären Phase deutscher Staatlichkeit nicht überrascht. […] Pegida ist „Pack“, aber im Wesentlichen ostdeutsches „Pack“.

Politikwissenschaftler Gerd Mielke im Interview mit dem SWR

Sehr schade, dass wissenschaftliche Thesen in medialen Beiträgen immer nur kurz ausgeführt werden. Mehr als dieser eine Satz wäre aber vielleicht doch drin gewesen. Wenn man gewollt hätte. Aber offenbar lohnt es sich im Südwesten nicht nachzuhaken, wenn etwas „typisch ostdeutsch“ genannt wird. Merke: Allgemeinplätze gehen immer — typisch westdeutsch eben.

Neulich bin ich zurückgereist in die DDR. Ich war noch mal kurz „drüben“ einkaufen. Wer weiß, dachte ich mir, wie lange es all die typischen DDR-Waren noch gibt. So ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich neulich bei einer Recherche zufällig in einen verlassenen Keller geriet und vor Regalen mit vergessenem DDR-Hausrat stand.

Berliner Morgenpost: „Ich war noch mal kurz einkaufen in der DDR“

Und ich hatte schon befürchtet, die wunderbare journalistische Textgattung des Doofwessis im Osten wäre ausgestorben — mitnichten! Bitte, traut euch: Wir brauchen mehr Wessis, die von ihren unreflektierten Erlebnissen mit dem Osten / den Ossis in dunklen Kellern berichten! Wir brauchen mehr unhinterfragtes Unverständnis, das in so wunderbaren Sätzen steckt wie: „Shopping im Osten war schwierig“! Und gebt mir mehr Absätze über Weichspüler und ihre Aussagekraft für politische Systeme! P.S.: Das hippe junge Online-Magazin bento ist auf einem sehr, sehr guten Weg.

Vielleicht liegt es an ihrer Nähe zu Sibirien, doch (angeblich) frieren die Menschen im Osten weniger als im Westen.

Focus: 20 Merkmale, die beweisen, dass Ost- und West-Berlin unterschiedlich ticken

Die Königsdisziplin des deutsch-über-deutschen Journalismus: Sinnlose Listen. Zur Feier des 26. Jahrestages mit zwanzig dermaßen vorurteilsbeklebten, sinnentleerten und falschen Einträgen, dass ich darauf nicht weiter eingehen werde.

Aber vielleicht im nächsten Jahr, wenn ich das als großartigen redaktionellen Beitrag wahrnehmen werde.