Gauck und Merkel: Als die Ossis die Macht übernahmen 4

Erstaunlich wenig ist davon zu hören, dass (wahrscheinlich) zwei Ostdeutsche die wichtigsten politischen Ämter in der Bundesrepublik besetzen werden. Die Blätter sind voll von Berichten über Joachim Gauck, seine DDR-Zeit, seine Zeit in einer Behörde, die lustigerweise genauso hieß wie er selbst und vor allem über seine Gedanken zu Freiheit und Verantwortung. Aber das ostdeutsche Duo, das ist offenbar nur ein Nischenthema. Vielleicht weil es nach 20 Jahren einfach nicht mehr relevant ist, aus welchem ehemaligen Teil Deutschlands jemand stammt?

Vielleicht doch. So schreibt Cornelius Pollmer im Magazin der Süddeutschen Zeitung:

Ja, als Ostdeutscher darf man sich einen Moment freuen, dass bald zwei Ostdeutsche höchste Ämter im Staat innehaben – es gibt wenig genug von ihnen in wichtigen Positionen. Gleich danach aber darf man sich bewusst machen, dass es nichts zu bedeuten hat. Der Bundespräsident soll ein Bundespräsident aller sein, ganz gleich, ob er nun aus dem Westen kommt oder aus dem Osten

Er sieht es als eine Gelegenheit, dass Ostdeutsche nun nicht nur Gegenstand, sondern auch Teilhaber an öffentlichen Debatten werden können: Gauck als Vorbild. Inwieweit diese Erwartung gerechtfertigt ist, muss sich zeigen — trotz einer in Hamburg geborenen DDR-Physikerin hat sich in dieser Hinsicht nicht viel getan.

Und auch im Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik ist es immer noch ein Thema, woher die Menschen stammen. Auch wenn es selten so drastisch-plump formuliert wird wie von Achstaller-Erhard im Blog der Augsburger Allgemeinen:

Unsere westdeutschen Politiker lassen sich das Heft aus der Hand nehmen von den ehemaligen DDR-Bürgern. […] Zuerst unsere Kanzlerin, jetzt dann der Bundespräsident und unsere saubere Linkspartei, alle kommen sie aus der ehemaligen DDR. Wenn wir nicht aufpassen, so werden wir bald wieder ostdeutsche Verhältnisse bekommen. […] Früher haben wir über die DDR geschimpft und heute kriechen wir ihnen in den Hintern.Wir haben im Westen Deutschland auch gute Politiker und müssen nicht in den neuen Bundesländern Ausschau halten.

Er formuliert Vorbehalte gegenüber „Stasileuten“ und Ostdeutschen insgesamt. Es sind geradezu klassische Ängste vor einer Überfremdung, die hier zum Ausdruck kommen: Der östliche Teil Deutschlands ist in der Sicht des Autors eine fremde Kultur und nicht wirklich Teil der BRD.

Möglicherweise ist dies der Grund, warum die Kombination Merkel/Gauck kaum thematisiert wird: Sie sind neben allen parteitaktischen Überlegungen immer noch ein Reizthema, die mächtigen Ossis. Und reizen kann nur, was ungewöhnlich ist und/oder in der Vorstellungswelt nicht vorgesehen ist.

Danke an Mareen für den Hinweis.

Alternative Geschichte

Manchmal kann man sich schon darüber wundern, was sogenannte Experten in Interviews sagen:

„Berlin ist immer eine Stadt gewesen, in der notorische Protestwähler zu Hause waren. Früher war das die Alternative Liste, später war das die PDS.“

So der Politikwissenschaftler Jochen Staadt (Forschungsverbund SED-Staatin der Berliner Zeitung.

Allerdings: Vor 1990 konnte die Alternative Liste in der Hälfte der Stadt nicht gewählt werden — ein wenig Differenzierung bei einer jahrzehntelang geteilten Stadt wäre also durchaus angebracht. Und auch die Wahlergebnisse der PDS als Ergebnis einer „Protestwahl“ lassen sich durchaus hinterfragen.

Und der Rest wählt rechts 1

Wenn etwas gefährlich ist, dann sind es Vereinfachungen. Im Osten Deutschlands leben nur Nazis ist eine davon. Die Begründungen (Kindergärten, Abschottung durch Mauer) sind sogar noch einfacher und dümmer, haben aber eines gemeinsam: Sie verweisen in der Regel auf die Zeit vor 1989.

Dabei steckt ein komplexes demographisches Phänomen dahinter: Dem Wirtschaftsabbau Anfang der 90er Jahre folgte Armut folgte Wegzug von Frauen, die im Westen Arbeit und Bildung fanden. So gibt es nun einen überdurchschnittlichen Anteil von Männern, die keine Perspektive sehen: Denn würden sie eine Perspektive sehen, wären sie nicht mehr da. Das alte Rollenbild — der Mann, der für seine Familie arbeitet — greift nicht mehr und daraus erwächst Frustration. Auch da ist stark vereinfacht, das wird hier weit detaillierter ausgeführt.

Hinzu kommt: Die etablierten Parteien haben viele Orte im Osten bereits abgeschrieben, Nazis und NPD sind jedoch präsent mit Freizeitangeboten für Jugendliche und mit Schuldzuweisungen nach außen.

So vereinfachend es auch klingen mag:  An der aktuellen Situation ist die aktuelle Politik Schuld, nicht ein Land, das es seit über 20 Jahren nicht mehr gibt.