Wenn der Focus Ossis gucken geht

Es gibt Texte, die wärmen uralte Klischees über die „Ossis“ auf und lassen einen etwas ratlos zurück. Die fünfte Folge der Reihe „FOCUS sucht das echte Deutschland“ ist so ein Text. Er ist übertitelt mit „Linkenhochburg Strausberg: Wo manche die DDR für das bessere Deutschland halten“ Focus-Redakteur Frédéric Schwilden besucht eine Hochburg der deutschen Parteien, in diesem Fall also Strausberg in Brandenburg.

Vorgetäuschte Reflexionen

Zu Beginn des Textes schreibt er ganz selbstironisch davon, dass er nun „Ossis gucken“ werde:

„Einfach dorthin fahren, wo man als Westdeutscher den edlen Wilden in Deutschland vermutet. Seit den ersten Pegida-Aufmärschen in Dresden, seit der Aushebung der rechten Terrorzelle in Freital, seit dem angegriffenen Flüchtlingsbus in Clausnitz ist es eben in Mode gekommen, mindestens einen Fotoapparat, aber besser noch eine Kamera mit Licht und Mikrofon auf den Ostdeutschen zu richten. Darauf zu warten, dass er die Zähne fletscht, sich auf die Brust schlägt oder den Hitlergruß zeigt, sein Revier verteidigt und danach genüsslich beim Discounter eine Banane und ein Dosenbier kauft.“

Da freut sich das einwende-Herz, denn soviel journalistische Selbstreflexion ist selten. Und doch bleibt ein schaler Beigeschmack. Können wir Stereotype aufbrechen, wenn sie erneut vorgekaut werden? Befriedigen diese Bilder nicht einfach nur die westdeutsche Sicht auf die „da drüben“?

Denn eines fällt auf: In den übrigen Folgen der Focus-Reihe passiert das nicht. Da steigt der Journalist mit Details und Personen ein. In der CDU-Folge über Groß Berßen nimmt Schwilden Schweineschnitzel, Klinker-Häuser und Christian Wulff in den Fokus. Zu den Grünen in Tübingen geht es gleich zu Beginn um Inge und Walter Jens. Und zu Jachenau (CSU) fällt Schwilden der durchaus poetische Satz ein: „jeder der 848 Einwohner hat eine Geschichte, die größer ist als 128 Quadratkilometer, die mindestens so groß ist wie die ganze Welt.“ Zu Strausberg fällt Schwildens Charakterisierung ungleich profaner aus:

„In der Kleinstadt Strausberg (26.213 Einwohner) in Brandenburg trifft man keine edlen Wilden, sondern echte Menschen aus Fleisch und Blut und mit Hirn.“

Links aber besser

Wir erinnern uns: Strausberg wurde in die Focus-Reihe aufgenommen, weil hier überdurchschnittlich viele Menschen die Linkspartei wählen. Das muss man betonen nachdem es im ersten Absatz um Pegida, rechte Terrorzellen und Hitlergruß ging. Wie bekommt der Artikel da die Kurve zu einer Partei, die mit diesem Phänomen nichts zu tun hat? Schwilden fällt dazu ein clever konstruierter Satz als Überleitung ein:

„Strausberg ist die Hochburg der Linkspartei.“

Und er fährt fort:

„In Strausberg sind noch immer Menschen, die die DDR als das bessere Deutschland empfinden.“

Das Problem mit diesem Satz, der es ja auch in die Überschrift geschafft hat: Er wird nicht belegt. Weder an dieser Stelle, noch im restlichen Artikel. Wenn Schwilden diese Menschen getroffen hat, haben sie es nicht in seinen Text geschafft. Wenn er sie nicht getroffen hat, ist es ein Vorurteil. Beides ist zumindest unsauberer Journalismus.

Gefährliche Nostalgie

Später im Artikel spricht Schwilden von einer „gefährlichen Nostalgie“. Es geht um den Linke-Abgeordneten Christian Steinkopf. Über ihn heißt es im Text: Er war Soldat in der DDR, Geschäftsführer einer Sicherheitsfirma und er hat Geschäfte für eine Spedition in Russland gemacht. Der DDR attestiert er akute demokratische Defizite, die er „nicht so schrecklich“ findet. Stasi-Gefängnisse hält er für rechtmäßig, da deren Insassen gegen Gesetze verstoßen hätten und er schätzt die DDR als Rechtsstaat ein. Das größte Problem Deutschlands sei, „dass wir die Widersprüche von Arm und Reich nicht lösen können“.

Viele Ansichten von Steinkopf kann man kritisieren, seinen Lebenslauf vielleicht auch. Doch all das macht der Text nicht. Er setzt den Abgeordneten in den Kontext der „gefährlichen Nostalgie“ und erklärt doch nicht, was daran gefährlich sein soll. Das ist gefährliche Argumentationslosigkeit, denn Schwilden fällt ein Urteil ohne es zu belegen.

Stasi aus heiterem Himmel

Aber halt! Ein Artikel mit Stereotypen, Klischees und Vorurteilen über den Osten ohne Stasi? Kann das sein? Natürlich nicht! Im letzten Absatz ist das offenbar auch Frédéric Schwilden aufgefallen:

„In Strausberg sieht man, dass der Verstand von Sahra Wagenknecht und die Bürgerlichkeit von Dietmar Bartsch 2017 noch immer nicht reichen, um stasifrei zu sein.“

Wohlgemerkt: Im Artikel war die Stasi bis auf die Bewertung der Gefängnisse kein Thema. Aber für eine Zeitschrift, die mal wieder „Ossis gucken“ will, ist das offenbar kein Grund, auf sie zu verzichten.

Die queer-hinkende Stasi-Inquisition der Zeit

Neulich in der Redaktion der Zeit:

„In unserer Überschrift fehlt noch was. Da soll das Thema Unterdrückung ganz differenziert…“

„Schreib einfach ‚Stasi‘ rein!“

„Super, danke. Was gibt’s heute in der Kantine?“

Dieses Gespräch mag ausgedacht sein – aber tatsächlich prangt diese Überschrift über einer Rezension der Zeit zum Essayband „Beißreflexe“ (Herausgeberin: Patsy l’Amour laLove). Sie lautet:

„Die queer-feministische Gender-Stasi“

Was soll das sein? Der Text selbst gibt nicht sonderlich viele Antworten. Er macht auch nicht transparent, ob der Begriff aus dem besprochenen Buch stammt oder vom Rezensenten. Der Begriff ist nicht einmal zentral im Text und wird nur an einer Stelle beiläufig erwähnt. Hier ist das komplette Zitat:

„Die eigene soziale und politische Position ist niemals rein. Das gilt für die in diesem Buch an den Pranger gestellte queer-feministische Gender-Stasi der akademischen Aktivistenszene genauso, wie für die protestierenden Polittunten um Patsy.“

Was queer und Überwachung verbindet

Was sich über den Text erschließen lässt: Der Essayband kritisiert, dass der ursprünglich befreiend gemeinte Begriff „queer“ in der deutschen Hochschul- und Aktivistenszene inzwischen anders zum Einsatz komme. Die menschlichen Körper sollten durch die Analysen von Michel Foucault und Judith Butler nicht mehr gesellschaftlich konstruiert sein, Identitäten sollten aufgelöst werden. Inzwischen gebe es aber eine „Sprachpolizei“ [im Artikel übrigens ohne Anführungszeichen], die die richtige Anwendung queerer Vorstellungen überwache. Bei Fehlverhalten werde mit Denunziation und Ausschluss gestraft. Im Text heißt es dazu:

„Aus einer radikalen sexualpolitischen Kritik ist eine moralische Kontrolle geworden. Wie konnte es zu dieser Form der Überwachungskultur kommen?“

Kritisiert wird die massive Selbstkritik an einer Homosexualität im Mainstream. Auch die Hierarchisierung von Diskriminierungserfahrungen steht in der Kritik, das Verhältnis von Lesben, Schwulen und Muslimen etwa sei schwierig. Und schließlich analysiert der Essayband: Es sei eine Vorstellung entwickelt worden, es gäbe eine Form von Subjektivität außerhalb von Herrschaftsverhältnissen. Er führt aus:

„Ein moralisch einwandfreies Wesen, vollkommen frei von Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie. Ein queerer Unschuldsengel. Eben dieser Fantasie von Reinheit und Gewissenhaftigkeit verdankt sich die inquisitorische Atmosphäre, die sich innerhalb der queer-feministischen Szene breitgemacht hat.“

Was Inquisition, Stasi und queer verbindet

Und da sind wir wieder bei der Überschrift. Aus einer Analogie – der Inquisition – erwächst die nächste – die Stasi. Dabei lassen sich durchaus Parallelen finden, grundsätzlich steht in allen drei Fällen die Überwachung von Weltbildern im Zentrum. Und da beginnen die Probleme, denn bereits diese Beschreibung ist sehr verkürzt. Schaut man genauer hin, gibt es immer weniger Ähnlichkeiten:

  • Die Inquisition waren kirchliche Gerichtsverfahren gegen Vertreter_innen einer Meinung, die gegen kirchliche Glaubensgrundsätze stand.
  • Die Stasi war Nachrichtendienst und Geheimpolizei, die unter anderem Menschen beobachtete, bei denen Verdacht auf politischen Widerstand oder Republikflucht bestand.
  • Die queer-Auseinandersetzung ist genau das: Eine Auseinandersetzung, in der eine Bewegung und eine Theorie den besten Weg für sich suchen. Zu ihren Methoden gehören beispielsweise Essays, wie die in der Zeit rezensierten.

Zu den Aufgaben der Medien gehört es, solche Auseinandersetzungen kritisch und nachvollziehbar zu begleiten. Wenn die Vergleiche hinken und nicht einmal klar ist, ob es am rezensiertem Werk oder am Rezensenten liegt, dann ist das eher nicht gewährleistet.

Berlinale und DDR 1

Es ist Berlinale — wie wird bei diesem Filmfestival eigentlich der Osten Deutschlands (re)präsentiert?

Nicht gut: Seit 1990 geht der Anteil von Filmen ostdeutscher Filmmacher_innen stark zurück. Westdeutsche konnten ihren Anteil hingegen steigern. Die Studie „Geschichten und Filme kennen [keine] Grenzen“ meint daher:

Dennoch liegt bei gerade einmal insgesamt 20 abendfüllenden Produktionen von Filmemachern mit ostdeutscher Herkunft zwischen 2002 und 2016 das Versäumnis einer ausgewogenen Berücksichtigung von Regisseuren aus den neuen Bundesländern nicht allein in der deutschen Förder- oder Produktionslandschaft und sollte deutlich mehr in den Blick genommen werden.

Eine Zusammenfassung der Studie gibt es bei der Jungen Welt. Anderen Medien war die Untersuchung von Vielfalt auf dem Berliner Filmfestival keine Meldung wert.

Stasi-Berlinale-Gefängnis, virtuell

Aber keine Angst: Zumindest ein altbekanntes DDR-Thema hat es auf die diesjährige Berlinale geschafft. Das Stasi-Gefängnis. Und es ist technisch ganz vorne dabei — man sieht es nämlich per Virtual Reality. In der Ich-Perspektive. Als Häftling. Mehr dazu gibt es bei der Produktionsfirma IntoVR.

Woher stammen eigentlich die Macher_innen dieser Produktion? Mit Blick auf die oben genannte Studie ist es tatsächlich zentral, wer auf einem Festival mit dieser Bedeutung Geschichte in Film umsetzt. Vor allem, wenn es auch die Themenauswahl betrifft. Grit Lemke, Leiterin des Filmprogramms beim DOK Leipzig, äußert sich in der Studie etwa wie folgt:

Ich habe den Eindruck, dass ostdeutsche Geschichten offenbar in Deutschland nicht wirklich willkommen sind. Denn sobald nur die geringste Verbindung zu den neuen Bundesländern besteht, ein Leipzig im Untertitel, die Abstammung des Regisseurs, eine Geschichte aus Mecklenburg-Vorpommern, wird der Film ungeachtet seines eigentlichen Themas stigmatisiert und – wie ich finde – pauschal abgelehnt.

Ein Beitrag zur Stasi hat es hingegen leichter, der Grusel ostdeutscher Geschichte funktioniert halt immer. Wir sollten aber aufpassen, dass wir Ostdeutschland und seine Geschichte nicht darauf reduzieren.

Aktuelle DDR-Vergleiche #28 — Verfassungsschutz

Bundesinnenminister Thomas de Maizière möchte die Vollmachten des Verfassungsschutzes ausbauen: So sollen die Landesämter für Verfassungsschutz dem Bundesverfassungsschutzamt untergeordnet werden.

Das wird kritisiert. So meint Jürgen Hoffmann von der Deutschen Polizeigewerkschaft, dass es bedenklich sei, alle Kompetenzen beim Bund zu konzentrieren:

Schon in der DDR hatten Zentralbehörden alles bestimmt.

Noch deutlicher wird Kai Christ von der Gewerkschaft der Polizei: Als ostdeutscher Gewerkschafter fühle er sich an die ehemalige Stasi erinnert. Im gleichen Atemzug meint er auch: Eine Art deutsches FBI wolle er auf keinen Fall.

DDR = USA?

Die ehemalige Stasi (im Gegensatz zur gegenwärtigen?) ist also ein deutsches FBI? Dann ist die deutsche DDR also eine gegenwärtige USA? So ein Unsinn! Es ist natürlich genau anders herum.

(Quelle der Zitate: MDR Thüringen)

Wir sind Stasi (wenn es uns passt) — Der Fall Andrej Holm

Wir sind Stasi (wenn es uns passt) - Der Fall Andrej Holm

Das Verhältnis zur Staatssicherheit der DDR ist zwiegespalten: Während ihre Vorgehensweise als „Stasi-Methode“ zur Blanko-Kritik geworden ist, werden die Ergebnisse ihrer Arbeit weiterhin gerne genutzt. Das muss Andrej Holm nunmehr erneut erfahren.

Gentrifizierung, Verhaftung und Stasiakten 2007

2007 wurde der Stadtsoziologe Holm verhaftet, weil er sich wissenschaftlich mit dem Thema „Gentrifizierung“ beschäftigt hatte. Der Begriff wird heute selbstverständlich gebraucht — vor nicht einmal 10 Jahren reichte er aber aus, um Holm eine Nähe zur „militanten gruppe“ zu unterstellen.

Als die Bundesanwaltschaft gegen diese linksradikale Organisation ermittelte, nutze sie Stasiakten. Also auch bei den Ermittlungen gegen Andrej Holm. Dies hat er Ende 2007 in einem Interview mit der taz thematisiert.

In diesem Interview sprach Andrej Holm auch seine Grundausbildung beim Wachregiment Felix Dzierzynski der Stasi an, die er als 18-jähriger begonnen hatte. Und wie er sie rückblickend beurteilt:

Die Reflexion darüber, was Staatssicherheit tatsächlich war, die begann bei mir erst nach der Wende. Seitdem habe ich da auch einen anderen Blick drauf.

Andrej Holm

Foto: Stephan Röhl (CC BY-SA 2.0), Quelle: Flickr

Diskussion um Andrej Holm als Staatssekretär 2016

Letzte Woche wurde Andrej Holm als Staatssekretär des neuen Rot-Rot-Grünen Senats von Berlin benannt. Seine Stasi-Vergangenheit wurde angesprochen und seitdem gibt es eine Diskussion darüber, was diese Entscheidung bedeutet:

Ich halte das für einen Tabubruch.

Hubertus Knabe, Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Wir haben alle ein Recht auf Irrtum und Korrektur.

Senatorin Katrin Lompscher

Die Berufung verhöhnt die Opfer des DDR-Regimes.

FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja

Ich habe Schlussfolgerungen gezogen, dass ich mit wirklich vollster Überzeugung eine Gesellschaft, in der Freiheit, Demokratie, Mitbestimmung und Meinungsfreiheit herrschen, allen anderen vorziehe.

Andrej Holm

(alle Zitate von Zeit Online)

Es werden also Standpunkte formuliert, bei denen an großen Worten nicht gespart wird. Es wird debattiert, was moralisch heute möglich sein sollte und was nicht. Und über den Wissenschaftler Andrej Holm und welche inhaltliche Bedeutung seine Berufung hat, wird überhaupt nicht mehr gesprochen.

B.Z. denunziert mithilfe der Stasi

Die Berliner Boulevard-Zeitung B.Z. geht nun den nächsten Schritt: Sie veröffentlicht die Stasi-Akte Holms. Und sie tut das nicht nur in einem Artikel auf ihrer Website, sondern stellt das Dokument auch auf Facebook bereit. Kaum geschwärzt und ohne journalistische Einordnung. Die aber wäre nötig, um Sprachgebrauch und Inhalt der Quelle zu verstehen.

Mit anderen Worten: Die B.Z. bedient sich der Methoden der Stasi: Sie pfeift auf Persönlichkeitsrechte und fördert eine öffentliche Denunziation. Und ohne Stasi hätte man keine Unterlagen, die man heute noch nutzen kann.

Im oben genannten taz-Interview von 2007 kam auch die Dissidentin Cornelia Kirchgeorg-Berg zu Wort, die im Neuen Forum aktiv war. Ihre Haltung zu Stasi-Unterlagen ist eindeutig:

Für uns war damals klar, dass das nicht rechtmäßig erworbene Informationen sind, und dass die Staatssicherheit eine kriminelle Vereinigung ist. Und darauf soll man plötzlich Zugriff haben? Eigentlich dachte ich, da müsste ein Aufschrei durch die Reihen der BürgerrechtlerInnen gehen.

Jetzt haben wir offenbar alle Zugriff auf diese Informationen. Und wir haben kein Problem damit, sie zu nutzen.

IMfiziert #4: Amadeu-Antonio-Stiftung

Was kann man heute eigentlich richtig machen, wenn man inoffiziell mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hat? Offenbar nicht viel. Anetta Kahane war 1974 bis 1982 IM, hat später gegen die DDR protestiert, ist ausgereist und hat 2004 offen über ihre Vergangenheit gesprochen. 1998 gründete sie die Amadeu-Antonio-Stiftung und gehört bis heute zu ihrem Vorstand. Die Stiftung möchte die Zivilgesellschaft in Deutschland gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus stärken.

Doch all das hilft nichts: 2007 fiel eine Diskussionsrunde der  Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen aus — mutmaßlicher Grund: Kahanes inzwischen 25 Jahre zurückliegende Tätigkeit.

Und heute, noch einmal 10 Jahre später: Rechtsextreme dringen in die Räume der Stiftung ein, sie tragen Stasi-Uniformen. Grund war eine Broschüre zu „Hetze gegen Flüchtlinge in Sozialen Medien“, die die Stiftung herausgebracht hatte. Die Organisation berät inzwischen Facebook, wenn es um rechte „Hasspostings“ geht. Einen direkten Einfluss hat sie nicht. Diese entscheidende Differenzierung wurde in medialen Darstellungen aber nicht vorgenommen, wie derStandard berichtet: Ein ZDF-Beitrag spricht von „Bespitzelung“, auf Twitter wird als Hashtag „SocialMediaStasi“ genutzt und die FAZ schreibt, dass man an Kahanes Stasi-Vergangenheit nicht herumkomme.

Ja, man kann vieles tun: Man kann gegen ein Land protestieren, man kann ausreisen, man kann die eigene Vergangenheit öffentlich kritisieren, eine zivilgesellschaftliche Gesellschaft gründen und sich gegen Hass im Netz engagieren. Aber richtig machen kann man es trotzdem nicht, wenn man als 19-jährige für die Stasi tätig war. Denn Godwin’s Law (Stasi-Edition) schlägt auf jeden Fall zu, wenn die Leute sich nicht inhaltlich mit deiner Position auseinander setzen wollen, sondern persönlich werden möchten.

Update 4.12.2016

Hubertus Knabe bestärkt im Focus die Vorwürfe gegen Anetta Kahane. Dass die Stiftung nur berät und nicht selbst entscheidet, erwähnt er nicht.

Stasi? Auf Facebook sagt man alles

Privates bleibt nicht privat — die Kunstinstallation „Am Telefon sagt man nix“ zeigt, wie es ist, wenn fremde Personen über persönliche Dinge Bescheid wissen. Genutzt werden Telefonmitschnitte der Stasi aus den 1980er Jahren, die man über rote Telefonhörer selbst belauschen kann. Die Stasi, ganz schlimm.

Die Künstler_innen sehen aber auch einen aktuellen Bezug:

Für die Initiatoren der Installation weisen die einstigen Abhöraktionen Parallelen zur heutigen Sammelwut von Informationen durch Konzerne wie Google oder Facebook auf. Viele Menschen verstünden das Ausmaß aber gar nicht, beklagt Künstlerin Stefanie Kinsky.

Dumm nur: Die Veranstaltung ist fein säuberlich auf Facebook eingetragen, verlinkt von der Projektwebseite, die gleichfalls bemerkt:

Dennoch geben Menschen weiterhin freigiebig ihre Daten an internationale Großkonzerne wie Google oder Facebook weiter. Doch sind Daten ersteinmal vorhanden, werden sie auch genutzt.

Stimmt: Über die Facebook-Veranstaltung kann ich sehen, wer sie besucht — und wer dazu einlädt. Darunter ist auch die Initiatorin, die sich im Interview noch über den bedenkenlosen Umgang mit persönlichen Daten beklagte. Wer durch ihre Facebook-Chronik scrollt, findet Dinge, auf die sie verweist und Kommentare, die sie mit Freunden austauscht. Für diese Gespräche brauche ich keine Stasi und keine Kunstaktion. Facebook, ganz alltäglich.

Ja, unsere Daten sind abrufbereit. Wir tun es ganz freiwillig. Es wäre Zeit, mit dem Zeigefinger auf uns selbst zu zeigen, nicht auf einen längst vergangenen Geheimdienst.

IMfiziert #3: Detlev Spangenberg

Das hat ja gedauert: Die Alternative für Deutschland (AfD) steigt in den Umfragewerten, der Westen zeigt mit dem Finger auf den Osten — und erst jetzt taucht ein IM-Verdacht auf. Detlev Spangenberg, sächsischer Landtagsabgeordneter der Partei, soll als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) gearbeitet haben. „Godwin’s Law (Stasi-Edition)“ schlägt wieder zu.

Und die Freie Presse berichtet: Spangenberg ist nicht erreichbar, Fragen in der Fraktion wenig erfolgreich, Mitglieder des Bewertungsausschusses geben sich „zugeknöpft“. Kein Wunder, sind sie doch zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aber, ach wie ärgerlich — wo die Zeitung doch von der Ungeheuerlichkeit berichten will!

Also bleiben nur bekannte Fakten, und die klingen weit weniger reißerisch:

  • Detlev Spangenberg war vermutlich von 1964 bis 1967 IM. Er war 19 bis 23 Jahre alt. Ein Alter, in dem Jugendliche heute gerne Tutorial-Videos auf Youtube hochladen.
  • Er handelte aus freien Stücken. Sagen zumindest die Unterlagen der Stasi. Der man ja gerne vertraut.
  • „Ich bin ja ein Betroffener“, sagte Spangenberg über seine Akten: „Als ich dann Einsicht nahm, war darin viel Blödsinn enthalten.“ Er meinte damit Dokumente zu seiner Republikflucht.
  • Sein erster Fluchtversuch misslang, Detlev Spangenberg landete über ein Jahr im Gefängnis.
  • Schließlich gelang die Flucht und er wurde Mitglieder der CDU.
  • Wie lange er in der Partei war, ist für die Freie Presse ein Mysterium: „bis 2004, gab er mal selbst an; bis 2006, heißt es auf der Internetseite des Landtags.“

So mag dies der schwerwiegendste Vorwurf sein:

„Dass er mal in der CDU war, hat er der AfD mitgeteilt, der er 2013 beitrat. Über eine 50 Jahre zurückliegende Stasi-Tätigkeit habe er hingegen keine Angaben gemacht.“

Dass es mal soweit kommen musste: Stasi- und CDU-Tätigkeiten in einem Atemzug! Zumindest erwähnt die Freie Presse nicht Spangenbergs Engagement in rechten Gruppierungen.

Die Stasi und die Rechten: Aufregung statt Neuigkeit

Manchmal ist Sommerloch: Das erklärt vielleicht, weshalb kürzlich die Aktivitäten von Stasi-Agenten bei Neonazis recht breitgetreten wurden, zum Beispiel in der Berliner Zeitung, bei Spiegel Online, beim Handelsblatt und bei der Tagesschau. Neuigkeitswert? Vernachlässigbar. Telepolis hat sich mit den Fakten und dem medialen Tenor auseinander gesetzt:

Die deutschen Medien haben in der letzten Woche in großer Anzahl […] darüber berichtet, dass die Stasi ihre „Spitzel“(= IM) in der westdeutschen „rechten Szene“ gehabt habe und dann seien es noch „viel mehr als bisher angenommen“. Die Wortwahl war unisono: sowohl herunterspielend ( „rechte Szene“ anstatt Rechtsterrorismus, um den es im Kern geht, „Spitzel“ anstatt Agent), wie aber auch aufgeregt, ob der neuen Meldungen aus der Stasi-Welt. […]

Doch neu ist an dem vermeintlich erst jetzt entdeckten Sachverhalt rein gar nichts. Die Tatsache der Einschleusung von „Spitzeln“ oder „Informanten“ in gegnerische Organisationen des „Operationsgebietes“ (Stasi- Begriff für die BRD) ist ein alter Hut und gehört zum Handwerk eines jeden Geheimdienstes, zumal im Kalten Krieg.

Denunziert euch mal nicht so

Nach 25 Jahren beständiger Aufdeckung von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Staatssicherheit ist es soweit: Alle gefunden, Mission beendet. Aber weil es so ganz ohne DDR-Denunzianten-Grusel ja langweilig wäre, startet der Spiegel die nächste Stufe: Auch Westdeutsche haben in der DDR angeschwärzt.

Wessis der DDR zugeliefert? Nein! Doch! Oh! Aber damit wir nicht in der Schreckstarre eines Louis de Funès verharren, gibt uns der Spiegel gleich die Begründung: Die Westdeutschen schwärzten Menschen aus der DDR an,

damit diese nicht rüber kommen, weil die „uns“ sonst „die Arbeit wegnehmen.“

Starkes Stück. Damit man aber nicht allzu sehr ins Grübeln kommt (Wo gibt es da Parallelen?), macht der Spiegel gleich weiter: Nicht nur die IM haben gespitzelt, nicht nur die Westdeutschen haben angeschwärzt, nein:

Anschwärzen im Alltag war für viele eine Selbstverständlichkeit — ganz ohne Zutun der Stasi

Noch stärkeres Stück. Damit man da richtig ins Grübeln kommt, liefert der Spiegel gleich noch ein Interview mit der Historikerin Hedwig Richter mit. Sie sagt etwa:

Die DDR-CDU hat dabei eine ganz negative Rolle gespielt, über die kaum ein Mensch redet.

Deshalb belässt es der Spiegel auch damit. Statt einer Auseinandersetzung mit dem Wahlgewinner ’90 („Allianz für Deutschland“) geht es also um das Fußvolk. Denn das war — man staune — eigentlich noch schlimmer als die Stasi-IMs. Historikerin Richter:

wer zur Stasi ging, der wusste ganz genau, dass er hier was Zweifelhaftes macht. [Aber] dieses Berichtswesen war ein niedrigschwelliges Angebot zur Denunziation ohne dass die, die denunzierten, sich wirklich schlecht fühlen mussten.

Denunzieren ohne schlechtes Gewissen! Was werden sich all die armen IM jetzt ärgern, dass sie sich damals immer in den Schlaf weinen mussten — hätten sie doch nur niedrigschwelliger gearbeitet. Stattdessen mussten die einen bewusst etwas Zweifelhaftes tun und die anderen: auch. Aber unbewusst. Also alle fiese Denunzianten in der DDR?

Natürlich ist die ostdeutsche Bevölkerung nicht prinzipiell irgendwie denunziationsfreudiger als die in einem anderen Land. Aber, wie so oft, hat diese Diktatur das Niedrige befördert. […] In einer freien Gesellschaft kann Denunziation gar nicht diese Rolle spielen, weil es dem Staat egal ist, was X über Y sagt.

Da hat der Spiegel die eigentlich spannende Entdeckung — Westdeutsche, die in der DDR denunzieren — schon längst vergessen. Stattdessen prangert das Interview die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der DDR-Bewohner_innen an. Und man freut sich: Endlich reden wir nach 25 Jahren über dieses Thema.

Und vielleicht reden wir dann in 25 Jahren auch über die denunzierenden Westdeutschen. Mal schauen, ob wir dann soweit sind.