Vice weiß, warum Westdeutschland wichtiger ist

Was passiert, wenn man das Sommerloch, die Vice (Slogan: „Unbequemer Journalismus“) und ihr Deutschlandbild in einen Raum sperrt?

Zugegeben, darauf muss man erst einmal kommen: Kurt Beck schlägt vor, dass es weniger Bundesländer geben sollte und die Vice-Redaktion reagiert mit „Wir haben deutsche Bundesländer nach Nutzlosigkeit sortiert“. Klingt lustig. Wir schauen uns das aber mal ganz spaßbefreit an und fragen: Welches Bild von Deutschland hat die Vice da eigentlich?

Eigentlich reicht ein Blick auf die Bebilderung des Artikels: Eine Schere schneidet ein Stück aus Deutschland heraus. Der ausgeschnittene Teil zeigt den Osten des Landes und verweist damit auf die Grundaussage des Artikels. Das ist etwas verwunderlich, geht es Kurt Beck bei seinem Vorschlag ja um die Fusion von Bundesländern, nicht um deren Herauslösung. Aber warum eine adäquate Bebilderung finden, wenn man auch was mit den guten alten DDR-Grenzen machen kann?

Der Artikel selbst beginnt mit einer launigen Einleitung (ist schließlich ein lustiger Text!), die eines deutlich machen möchte: Hier bekommen alle was auf den Deckel. Das stimmt auch. Auffällig ist aber: Im Artikel gibt es zwei Herangehensweisen an die Verulkung von Bundesländern. Schauen wir sie uns einmal an:

Bundesland-Verhohnepiepelung, Variante 1

Bei dieser Argumentationsstrategie werden kleine und große Eigenheiten eines Bundeslandes genutzt, um für oder gegen dieses Land zu argumentieren. Teilweise kommt auch zur Sprache, wie sehr dieses Bundesland dafür steht, was der Artikel als allgemeindeutsch annimmt.

Zu dieser Kategorie gehören:

  • Bayern (groß, reich, Quelle vieler deutscher Klischees, Oktoberfest, Weißwurst, FC Bayern, Markus Söder)
  • Baden-Württemberg (fleißig, sauber, tolles Wetter, toller Wein, technische Innovationen, knuffeliger Dialekt)
  • Berlin (Kampf um WG-Zimmer, BER, schafft nichts, gelebte Internationalität, Offenheit, Laissez-faire, Ausnahme in Deutschland)
  • Nordrhein-Westfalen (allerdeutschestes Bundesland, Kohlegrube, Beton, Karstadt, Kölner Dom, Rocker, ThyssenKrupp, Schokoladen-Brunnen, Teutoburger Wald, Neonazis vs Salafisten, Karneval)
  • Hessen (prollig, protzig, elegant, großartig im Fußball, offene Crack-Szene in Frankfurt a. Main, reichste Gegenden in Deutschland)
  • Rheinland-Pfalz (exzellente Weine, V2-Raketen, romantische Burgen, Worms, Speyer Koblenz, Mainz, Trier, „die gesamte moderne deutsche Zivilisation wurde hier geprägt“)
  • Schleswig-Holstein (Marzipan, Wendy, beliebtes Urlaubsziel, landschaftlich schön, wichtiger Standort für deutsche Sportpferdezucht)
  • Niedersachsen (absolut durchschnittlich, absolut unauffällig, absolut vergessbar, VW-Werk)
  • Hamburg (Reeperbahn, Fischbrötchen, Jan Delay)
  • Saarland (kleinstes Flächenland, Heiko Maas, Inzest-Witze, absurdester deutscher Dialekt, Lyoner Ringwurst, hat sich 1955 für Bundesrepublik entschieden)
  • Bremen (bestimmt ganz nett, Hafen, Fische, ehrwürdige Geschichte)

Bundesland-Verhohnepiepelung, Variante 2

Ganz anders funktioniert es bei den übrigen Bundesländern. Um Eigenheiten geht es hier auch, allerdings sind es deutlich weniger. Auffällig betont wird, dass das Fehlen dieser Bundesländer nicht auffallen würde. Ein Standpunkt, der bei den Bundesländern der Variante 1 nicht zur Sprache kommt. Der Aspekt des „allgemeindeutschen“ kommt hingegen nicht zur Sprache. Und ja: Der Beitrag zu Thüringen ist fast vollständig zitiert, im Vice-Artikel ist noch ein schlechtes Schlagervideo zu Thüringer Klößen dabei.

  • Sachsen (Pegida, AfD, schöne Städte in schöner Landschaft, schnellstes Wirtschaftswachstum, Eastclub in Bischofswerda, „Würde das vielleicht sogar alle Probleme lösen, wenn man das ganze Ding zum Beispiel im ‚Sachsen‘-Teil von Sachsen-Anhalt verschwinden ließe? Außerhalb würde es keiner merken, und für die Einheimischen wäre es auch keine wirklich große Umstellung“)
  • Thüringen (Klöße, „Tja, Thüringen… Thüüüü-ringen. Thü ringen. Thü-rin- gennnnn. Ha, ist das nicht komisch, wie einem ein Wort immer fremder wird, je öfter man es ausspricht? OK, aber zu dem Bundesland, als o… mmmmh. […] Ob Thüringen jetzt eine Daseinsberechtigung hat oder nicht? Mir egal, soll es machen, was es will. Echt mal.“)
  • Sachsen-Anhalt (AfD, das älteste erhaltene Naturalienkabinett Deutschlands, Tokio Hotel, „Warum also nicht noch mal ganz von vorne anfangen, sich mit dem Nachbarbundesland Sachsen zusammentun?“)
  • Brandenburg (Leere, Weite, „Wenn wir ehrlich sind, gibt es keinen logischen Grund für Brandenburg. […] Brandenburg ließe sich ohne Weiteres in eine Metropolregion Berlin integrieren, und es würde in Gesamtdeutschland wahrscheinlich nicht einmal auffallen.“
  • Mecklenburg-Vorpommern (Wildnis, „Was hält uns davon ab, das Bundesland komplett zu räumen und in einen weitläufigen Wildpark zu verwandeln? Nichts, absolut gar nichts.“)

Das heißt?

Auch wenn die Begriffe „Ostdeutschland“ oder „DDR“ nicht erwähnt werden, prägt diese Einteilung immer noch das Denken. Wie sonst ist zu erklären, dass ausschließlich westdeutsche Bundesländer mit dem Begriffen „allgemeindeutsch“ oder „durchschnittlich“ in Verbindung gebracht werden? Das ist umso bemerkenswerter, da die Vice-Redaktion ein junges Durchschnittsalter hat, 2014 lag es bei 28 Jahren. Die Mauer in den Köpfen gibt es also immer noch: Die hippe junge Vice hat sie mit ihrem eigenen Text dokumentiert.

 

Danke an Josa Mania-Schlegel für den Hinweis!