Ostloses Europa

Von einer Schublade in die nächste: Zunächst wirft Peer Steinbrück Angela Merkel fehlende Begeisterung für Europa vor. Geschenkt. Er tut dies allerdings mit einem äußerst westzentrierten Blick:

Die Tatsache, dass sie [Merkel] jedenfalls bis 1989/ 90 eine ganz andere persönliche und politische Sozialisation erlebt hat als die, die diese europäische Integration seit Anfang der 50er Jahre erlebt haben, […] das spielt in meinen Augen schon eine Rolle

Peer Steinbrück im Tagesspiegel, 04.08.2013

Der SPD-Spitzenkandidat glaubt offenbar, er könne einen Wahlsieg erringen, wenn er sich gegen die ostdeutsche Bevölkerung wendet. Das ist Rhetorik eines kalten Kriegers: Die im Osten sind doch zurück geblieben. Nicht so günstig für die Umfragewerte, also wurde bei einer Wahlveranstaltung in Halle munter zurück gerudert. Steinbrück entdeckt nun auch ganz tolle Eigenschaften der Ostdeutschen:

Zupacken, zusammenhalten, Solidarität, Probleme gemeinsam meistern, sich nicht entmutigen lassen

Peer Steinbrück in Halle an der Saale, 10.08.2013

Bau auf, bau auf — wir sind das Volk — Solidarität! Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Und zu dieser differenzierten Einschätzung ist der Peer von ganz alleine gekommen? Wie gut, dass er da nicht auf alte SED-Propaganda hereingefallen ist.

Jedenfalls hat Steinbrücks Ossi-Wissen auch Kritik hervorgerufen. Bei SPD und Bündnis90/Grüne (Schwachsinn, dämlich, peinlich), aber natürlich auch in den Medien. So findet Katja Tichomirowa:

Europa in der jetzigen Form gäbe es nicht ohne die Osteuropäer

Berliner Zeitung, 11.08.2013

Und eine äußerst differenzierte Einschätzung kommt von FAZ-Redakteur Matthias Wyssuwa:

Steinbrück rede über Ostdeutsche wie über Fremde, kritisiert Sachsens Ministerpräsident Tillich und benennt doch nicht den entscheidenden Fehler des SPD-Kanzlerkandidaten: Dass der überhaupt noch pauschal über Ostdeutsche redet. Als gäbe es keine regionalen Unterschiede, keine eigenen Wege und Entscheidungen, als würde der Stempel „ostdeutsch“ noch immer alles erklären — oder entschuldigen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.2013

Jetzt, eine Woche danach, interessiert das alles übrigens niemanden mehr. Schließlich stehen CDU und SPD kurz vor der ‑ähem- Wiedervereinigung.

Kinder und Filme gehen immer

Relativieren müsse man Behauptungen von Behörden-Leiter Roland Jahn, wonach das Interesse an den Akten stetig wachse. Es wachse lediglich, wenn es viele Stasi-Filme gebe und Kinder plötzlich die Akten ihrer Eltern einsehen könnten.

So wird Richard Schröder in der Berliner Zeitung zitiert. Er ist Vorsitzender des Beirats der Stasi-Unterlagen-Behörde. Im gleichen Atemzug stellte er auch das Amt des Bundesbeauftragten infrage: Zu herausgehoben sei es, unabhängig wie sonst nur die Regierung.

Hat die Behörde also mal wieder Probleme: Einfach die alte Werbeweisheit befolgen und irgendwas mit Kindern machen. Oder Filme.

Aktuelle DDR-Vergleiche #12 — Bayreuth

Der in Ost-Berlin geborene Frank Castorf inszeniert in Bayreuth den „Ring des Nibelungen“ als 17-stündige Großproduktion. Und zugleich kritisiert er im Spiegel das Leitungsteam der Festspiele:

„Jeder von außen ist der Feind. Das ist pure DDR.“

Außerdem verglich er die Arbeit an der Aufführung mit „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Ob damit aber auch die TV-Soap und die DDR gleichgesetzt werden können, wurde nicht geklärt.

Westdeutsche Relevanzkritieren

Malte Lehming ist Leitender Redakteur im Bereich Meinung beim Berliner „Tagesspiegel“. Dort befasst man sich seit den letzten „Enthüllungen“ über Angela Merkel über deutsch-deutsche Befindlichkeiten. Lehmings Artikel „Einwanderer ohne Auswanderung“ fasst all seine Probleme bereits in der Überschrift zusammen. Er beginnt mit einem Witz, der kurz nach der Wiedervereinigung entstanden sein soll und in dem ein „Ossi-Ehepaar“ und ein „Türke“ aufeinander treffen. Lehming erklärt den Witz so:

Aus der Sicht vieler Einwanderer, die in der Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten gelebt hatten, waren die Ostdeutschen 1990 eine große Gruppe von Neueinwanderern. Das Ungewöhnliche an diesen Immigranten war nur, dass sie überwiegend gut Deutsch sprachen und ihre Heimathäuser nicht hatten verlassen müssen. Ansonsten benahm sich ein Stralsunder, der zum ersten Mal nach Köln kam, kaum anders als ein Grieche, Pole oder Spanier. Er fremdelte, staunte, fand sich nicht zurecht.

Das ist eine interessante Art, eine westdeutsche Sicht darzustellen: Sie gar nicht zu benennen und auf andere Bevölkerungsgruppen zu projizieren. Tatsächlich gewinnen Ostdeutsche in dieser Erzählform noch an Exotik, wenn sie zusammen mit ebenfalls als exotisch imaginierten Gruppen dargestellt werden. Westdeutsch, das bleibt auf diese Weise eine unsichtbare und doch allgegenwärtige Norm und Bezugsebene. Dass dies nicht ganz einfach ist, erkennt Lehming zumindest an:

Anders sah es für die Westdeutschen aus. Ihr Leben änderte sich so gut wie nicht. […] Dieser Unterschied hatte eine gravierende Folge. Er führte zu einer Asymmetrie in der Relevanz von Biografien und Vergangenheiten.

Doch bleibt es bei dieser Feststellung. Bereits im folgenden Absatz führt Lehming vor, auf welcher Seite dieser Asymmetrie er selbst steht — und was es bedeutet, die Relevanz von Biografien und Vergangenheiten anderer Menschen abzusprechen:

[D]er Gesamtkomplex DDR – von ZV-Ausbildung über Sättigungsbeilage bis NVA – hatte seine Wirkungsmacht vor mehr als zwei Jahrzehnten unwiederbringlich verloren. Man kann ihn seitdem aus historischen, ethnologischen oder exotischen [sic!] Gründen studieren. Doch wirklich notwendig ist das zum Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft nicht.

Damit irrt Lehming nun außerordentlich. Denn es ist ja insbesondere die Wirkungsmacht, die auch nach 1990 fortbesteht — ganz im Gegensatz zur ZV-Ausbildung, Sättigungsbeilage oder NVA, die ja nun nicht mehr real existierten. In ostdeutschen Gruppen wird noch immer auf Erfahrungen in der DDR Bezug genommen, auf die Sprache und die Unterschiede zu heutigen Lebensumständen. Ein Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ist also erst dann möglich, wenn man diese Wirkungsmacht ernst nimmt. Zumindest dann, wenn man die „deutsche Gesellschaft“ als gesamtdeutsch begreift und nicht nur auf die ehemalige BRD verweisen möchte. Wenn schon eine homogene Gruppe konstruiert werden muss, dann richtig.

Lehming schreibt auch noch über eine interessante westdeutsche Perspektive:

Ob Euro-Krise oder Pädophilie bei den Grünen, CSU-Vetternwirtschaft oder der Drohnenskandal im Verteidigungsministerium: Fast kein aktuell relevantes Thema hat auch nur am Rande mit der DDR zu tun.

Wie sollte es auch? Immerhin existiert dieses Land seit über 20 Jahren nicht mehr. Ich möchte einmal behaupten, dass es da durchaus folgerichtig ist, dass es kaum ein „aktuell relevantes Thema“ gibt. Wobei es aber durchaus relevant ist, wer etwas zu einem Thema machen kann. Die Jugendjahre einer Kanzlerin erscheinen schon allein aufgrund ihrer politischen Position wichtig und auch wenn westdeutsche Pharmaunternehmen in der DDR forschen ließen, wird es zu einem Thema, denn: In jedem Fall gibt es einen Bezugspunkt aus westdeutscher Sicht — relevant sind ostdeutsche Themen also dann, wenn sie den Westen betreffen. Was andersherum bedeutet: Ohne westdeutschen Bezug haben es ostdeutsche Themen ungleich schwerer, zu einem „Thema“ zu werden. Also gehört zu werden. In den Medien aufzutauchen. Relevant zu sein.

Damit schließt sich der Kreis zum Fazit von Lehming, der ganz ähnlich feststellt:

Das ist vermutlich die nachhaltigste psychologische Folge der deutschen Einheitswerdung. Der Ossi erfährt, dass sich der Wessi kaum stärker für ihn interessiert als für andere Einwanderer. Deren Schicksale aber werden zumindest gelegentlich durch Integrationsgipfel und Islamkonferenzen aufgewertet.

Das ist eine durchaus wichtige Erkenntnis in sehr entlarvenden Worten. Denn Lehming scheint „Einwanderer“ als Gruppen zu verstehen, denen es in erster Linie darum geht, wahrgenommen und geliebt zu werden. Integrationsgipfel sollen aber — so kritisch man ihre politische Konstruktion auch sehen muss — gerade nicht darauf reduziert werden, „Schicksale aufzuwerten“. In ihnen soll es darum gehen, wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden kann, zwischen dominanten Mehrheiten und Minderheiten. Es geht um handfeste gesellschaftliche Probleme.

Und es geht auch nicht darum, dass der Ossi — oder wie Lehming wohl meint: der Jammer-Ossi — erkennt, dass sich der Wessi nicht für ihn interessiert. Es geht auch nicht darum, dass  westdeutsch sozialisierten Menschen die Geschichte, Erfahrungen und Werte ost- und gesamtdeutsch sozialisierter Menschen egal ist.

Es geht darum, dass Menschen mit westdeutscher Biographie trotzdem darüber schreiben und urteilen. Und kraft ihrer Deutungshoheit die Diskussion zu einem Thema bestimmen, von dem sie keine Ahnung haben.

Nichts Wissen im Westen über Merkel

Im Wahlkampf geschehen ja immer die interessantesten Dinge. Was sich nun aber um die Veröffentlichung der Merkel-Biographie „Das erste Leben der Angela M.“ ereignet, lässt sich nur in einem Wort zusammenfassen: Unwissen.

Die westdeutsch sozialisierten Autoren Günther Lachmann und Ralf Georg Reuth haben dabei das Wunder vollbracht, die x‑te Biographie über die Bundeskanzlerin zu einem Thema in den Medien zu machen. Der Kniff: Sie stellen die Jahre Angela Merkels vor dem Mauerfall in den Mittelpunkt — die Mystik der DDR zieht offenbar noch immer.

Dabei offeriert die Lebensgeschichte nichts wirklich Neues, auch wenn die aufgeregten Medienstimmen anderes vermuten lassen. Dahinter steckt eben: Unwissen. Unwissen, dass die Kanzlerin bereits in dem 2004 erschienen Buch „Angela Merkel — Mein Weg. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg“ darauf verwiesen hatte, dass das Thema FDJ Teil ihre Lebens sei:

„Das ist bekannt, da habe ich nichts zu verbergen.“ Sie sei Kulturbeauftragte der FDJ für ihre Gruppe an dem Institut gewesen: „Ich kann mich nicht erinnern, in irgendeiner Weise agitiert zu haben.“ Zugleich hatte sie betont, sie sei keine Widerstandskämpferin oder Bürgerrechtlerin gewesen.
(zitiert nach Märkische Allgemeine Zeitung)

Es zeugt aber auch von Unwissen darüber, wie die DDR funktioniert hat. Was dazu führt, dass der Focus seiner Leser_innenschaft eine Lehrstunde geben muss: „FDJ, FDGB und DSF: Wie die DDR die Massen organisierte“.
Und was dazu führt, dass Werner Schulz, Politiker von Bündnis90/Die Grünen*, Angela Merkel in einem Zeit-Artikel verteidigt. Mitten im Wahlkampf.

Wie gesagt: Es geschehen interessante Dinge — insbesondere, wenn Westdeutschen die DDR erklärt werden muss.

 

* Auf der Seite der Zeit wird Werner Schulz als „Grüner“ bezeichnet. Damit wird der Anteil ostdeutscher Oppositioneller an der Partei marginalisiert, die am 14. Mai 1993 neugegründet wurde: Bündnis 90/Die Grünen.

Danke an Mareen für den Hinweis!

Aktuelle DDR-Vergleiche # 11 — Die Zonen-Bären 1

Im Berliner Stadtbezirk Mitte gibt es einen Bärenzwinger. Dort leben die Braunbärinnen Maxi und Schnute unter nicht ganz so „artgerechten“ Bedingungen, was auch schon länger kritisiert wird. Die taz hat nun erneute Bemühungen die Bärinnen umzusiedeln zum Anlass genommen, einen DDR-Vergleich anzubringen, der irgendwo zwischen lahm und dämlich angesiedelt ist:

Im Artikel Zonen-Bären hoffen auf Reisefreiheit ist zu lesen

„Seit ihrer Geburt in der DDR leben die beiden Bärinnen hinter einer Mauer in einem 480 Quadratmeter großen Zwinger…“

Ich habe ein wenig gerechnet. Seit 1990 gibt es bekanntermaßen die DDR nicht mehr. Die Zonen-Bärin Schnute ist jetzt 31 Jahre alt und lebt seit 23 in der BRD. Sie hat also acht Jahre ihres Lebens in der DDR verbracht. Die Zonen-Bärin Maxi ist 27 Jahre alt und hat damit ganze vier Jahre in der DDR und 23 Jahre in der BRD gelebt. In diesen 23 Jahren BRD hat sich für die beiden nicht viel geändert.

Die Verweise auf die Zone, die DDR, die Mauer und die Reisefreiheit erscheinen mit da sehr angemessen, lustig und geradezu sensationell-originell.
Ich hätte aber trotzdem einen Vorschlag für einen tagesaktuelleren Vergleich: BeBerlin-Bären hoffen auf Abschaffung der Residenzpflicht.

Aktuelle DDR-Vergleiche #10 — Mehmet Scholls Jacke

Jetzt wird es doch ein wenig absurd: Mehmet Scholl soll eine „Erich-Hoenecker-Gedächtnisjacke“ getragen haben. Das hat zumindest das Fußball-Magazin „11Freunde“ beobachtet und deshalb die Pressesprecherin des Berliner DDR-Museums interviewt.

Aber bevor die Enttäuschung groß ist: Die „Erich-Hoenecker-Gedächtnisjacke“ ist einfach nur eine Jacke, wie sie der Staatsratsvorsitzende getragen haben sollen könnte. Sagt „11Freunde“, das Fachmagazin für DDR-Mode.

Roland Berger in the Ost/West Mix 1

Der Unternehmensberater Roland Berger hat der Zeit ein ausführliches Interview gegeben. Zunächst wollte ich mich mit seinen Aussagen auseinandersetzen, habe aber dann aber gemerkt: Eigentlich hat er das selbst schon getan. Er spricht lobend über „wir Westdeutschen“ und kritisch über „einige“ aus dem Westen. Und zugleich weiß er, dass viele Fachkräfte im Westen aus dem Osten gekommen sind, dem nun geholfen werden muss. Von wem? Natürlich von „Wirwestdeutschen“. Und von Zuwandernden, für die die übrig gebliebenen Ostdeutschen (vulgo: „Nazis“) aber erst über mehr Kultur fit gemacht werden müssen. Die ja eigentlich aus dem Osten stammt.

Das klingt wie ein verwirrendes Selbstgespräch? Dann lassen wir doch Roland Berger selbst sprechen mit einer Montage der Aussagen seines Interview:

Der Osten hat für ganz Deutschland gebüßt, 45 Jahre sozialistisches Regime ertragen. Dafür verdient er durchaus ein Extra-Engagement von uns Westdeutschen, vor allem eben auf persönlicher Ebene.

Es gab [nach dem Mauerfall] leider einige, die dem Ruf unserer Branche sehr geschadet haben. Zumeist Ein-Mann- oder Zwei-Mann-Beratungen, die vom Mangel profitieren wollten. Die im Westen seit Jahren aussortiert waren und in den neuen Ländern nun mit Inkompetenz und Arroganz eine Menge Unheil anrichteten.

Eine der größten Leistungen der Westdeutschen besteht darin, Geld geschickt zu haben, um diese wunderbaren Innenstädte [im Osten] wieder aufzubauen. Aber kaum ein Westdeutscher kennt sie.

[E]s gab allerhand Exmanager, die im Westen längst ohne Job waren und vielleicht auch nicht immer zur ersten Klasse gehörten – plötzlich starteten die im Osten durch.

Das heißt, dass etwa 310000 Menschen ihre Arbeit verloren haben! Die arbeiteten zum Teil in VEBs, die vorher die großen Einzelhandelskonzerne im Westen beliefert hatten.

Der Osten braucht Investitionen, um aufzuholen.

1,8 Millionen Menschen sind abgewandert, darunter vor allem die jungen, fleißigen, unternehmerischen. Viele von ihnen tragen heute zum Wachstum in Westdeutschland bei.

[Ein Rat an die Ostdeutschen:] Sie sollten eher mit einem Lächeln zu viel als zu wenig auf ihre Mitbürger aus dem Westen zugehen. Sie sollten einem Besucher das Gefühl geben, dass man gern gesehen ist. Auch mal öfter Danke sagen wäre nicht unbedingt verkehrt.

Nur steht [der Zuwanderung aus dem Ausland] etwas entgegen: das Problem mit dem Rechtsextremismus. Ich werde den Namen Hoyerswerda nicht vergessen. Wer zweimal pro Woche im Fernsehen Neonazis durch ostdeutsche Städte marschieren sieht, möchte da normalerweise nicht hin. Was denkt da erst ein Migrant?

Wer Kultur und Bildung fördert, bekämpft Extremismus.

Der Osten ist Wiege der deutschen Kultur!

Heute tun wir gut daran, Bundeskanzlerin und Bundespräsident zuzuhören, wenn sie von ihrer Herkunft sprechen. Wir Wessis können noch viel lernen von den Ostdeutschen.

P.S.: Ich bin sehr froh, dass Roland Berger nicht die Stasi als Ursache für die wirtschaftliche Schwäche Ostdeutschlands anführt. Das war sie nämlich noch vor kurzem.

Der freie Wille

Gregor Gysi und die Stasi: Ein aktueller Spitzenkandidat, der für ein diktatorisches System gearbeitet haben soll. Welch ein Politikkrimi! Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Hamburg, denn Gysi könnte bei seiner eidesstattlichen Versicherung gelogen haben. Das Dokument lässt sich bei der Welt nachlesen. Die entsprechende Stelle lautet:

Ich habe zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staatssicherheit berichtet.

Um diese Aussage geht es der Staatsanwaltschaft und darum geht es auch in den Medien: Hat Gregor Gysi als Anwalt dem Ministerium für Staatssicherheit zugearbeitet? Oder konkreter (bei der FAZ): Hat er „wissentlich Kontakt zur Staatssicherheit der DDR gehabt?“

Das Wissen ist aber nicht der entscheidende Teil seiner Aussage. Entscheidend ist der Wille. Denn wenn das aktuelle Verfahren Beweise dafür liefern sollte, dass Gysi der Staatssicherheit zugeliefert hat, dann hätte er wissentlich berichtet. Ob er dies aber auch aus freien Stücken getan hätte: Das ließe sich überzeugend abstreiten. Denn wie hätte man willentlich handeln können in einem Land, das bereits beim gemeinsamen Töpfchengehen mit voller Autorität zum Kollektiv erzog? In einem System, in dem die Stasi allgegenwärtig war? Ein Land, das sich dem Rechtsstaat derart verweigerte, konnte ja gar keinen Platz lassen für einen freien Willen.

Zumindest nicht, wenn man den Großteil der medialen Stimmen über die DDR ernst nimmt. Und warum sollten wir damit aufhören, wenn es um Gregor Gysi und die Stasi geht? Freier Wille in einer Diktatur, ts…

[Unpassenden NS-Vergleich bitte hier einfügen.]

Wenn DDR-Mord, dann Stasi

In der ARD lief am 30. Januar 2013 der Spielfilm „Mord in Eberswalde“ (und ist zur Zeit nach 20 Uhr in der Mediathek zu sehen). Grundlage ist der „Fall Hagedorn“, bei dem 1969 zwei Jungen ermordet wurden. Bereits 1974 wurde dieses Verbrechen für den DDR-„Polizeiruf“ verfilmt, aber erst 2011 ausgestrahlt. 2001 produzierte die ARD eine Dokumentation über die Morde.

Und nun diese neue Verfilmung. Als Rezensent der Berliner Zeitung schreibt Torsten Wahl (leider nicht online verfügbar), dass sich der Film sachlich gebe, aber letztlich Klischees aneinander füge: lebenspraller Ost-Mann trifft verkniffenen Karrieristen, zudem spannt der eine dem anderen die Frau aus. An einer grauen Wand hängt ein FDJ-Emblem. Außerdem schreibt Wahl:

Wer sich noch einmal die ARD-Doku zum „Fall Hagedorn“ ansieht, in der die damals beteiligten Kriminalisten nüchtern ihre lange Zeit vergebliche Arbeit erklären, sieht deutlich, wie sehr die jetzige Verfilmung die damalige Tätersuche unbedingt politisch aufladen und den ignoranten Stasi-Leuten eine Mitschuld an einem weiteren Mord des Täters unterschieben will. Merke: Die Stasi ist halt immer schuld.

Ein DDR-Film ohne Stasi, das ist offenbar undenkbar. Und mir kommt auch die Verknüpfung zwischen dem Triebleben eines Kommissars mit einem Verbrechen bekannt vor: Dies gibt es ebenfalls in der DDR-Fiktion „Plan D“. Zufall?