Die DDR als reale Fiktion — Christoph Hein und die Ohnmacht seiner Erinnerung

Christoph Hein hat „Das Leben der Anderen“ kritisiert. In der öffentlichen Debatte dazu weicht man aber einer entscheidenden Frage aus: Wie authentisch kann die DDR noch sein, wenn die Fiktion überzeugender wirkt?

In der Süddeutschen Zeitung erschien am 24. Januar 2019 ein Auszug aus Christoph Heins Buch „Gegenlauschangriff — Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“. Er schildert darin, wie Florian Henckel von Donnersmarck im Jahr 2002 von ihm das „typische Leben eines typischen Dramatikers der DDR“ wissen wollte. Das Gespräch schildert Hein als Vorbereitung für „Das Leben der Anderen“. Der Film kam 2005 in die Kinos kam und Henckel von Donnersmarck führte Regie. Ausgezeichnet wurde der Film unter anderem mit dem Oscar.

In seinem Text kritisiert Hein verschiedene Aspekte des Films, dramaturgisch begründete Verkürzungen und Zuspitzungen. Er meint schließlich:

„Das Leben der Anderen“ beschreibt nicht die Achtzigerjahre in der DDR

Die anschließende Diskussion dreht sich vor allem darum, welche Deutungshoheit Christoph Hein über seine eigene Erinnerung haben kann. Eine „Selbstverleugnung des Wissens um die eigenen tristen Lebensumstände“, wirft ihm Andreas Platthaus in der FAZ vor. Thorsten Arend, ehemaliger Lektor von Hein, hielt bei Deutschlandfunk Kultur dagegen: „Es muss natürlich möglich sein, auf seinen Erfahrungen zu beharren und sie ernstgenommen zu sehen. Wenn dann gleich der Vorwurf kommt, na ja, wir wissen es besser, und deine Erinnerungen sind falsch, dann tut man sie so beiseite, wie das eigentlich überhaupt nicht sein dürfte. Das scheint mir schon ein Ost-West-Problem zu sein“.

„Möglichst große Authentizität“

Dabei sind Erinnerungen und die Frage nach authentischer Darstellung entscheidend, gerade bei diesem Film. Denn: Im damaligen Presseheft wird auf Seite 14 unterstrichen, dass „der Film bis ins kleinste Detail authentisch wurde“, man wollte „möglichst große Authentizität“ gewährleisten“. Dieser Anstrich des Authentischen wurde aufgenommen. Die Bundeszentrale hat 2006 ein Filmheft zu „Das Leben der Anderen“ veröffentlicht, gedacht zur Verwendung im Schulunterricht.

Die Authentizität war auch ein wichtiger Aspekt bei Veröffentlichung des Films. „Ja, sage ich, so war es“, urteilte Joachim Gauck 2006 im Stern. Werner Schulz hingegen meinte 2007 in der Welt, dass Donnersmarck das System Stasi nicht verstanden hätte. Einen Offizier wie im Film habe es entsprechend nicht geben können. Er stellte schon damals fest:

„Mit der DDR-Geschichte kann man offenbar losgelöst von historischer Authentizität frei und phantasievoll umgehen.“ 

Daran hat sich seitdem nichts geändert: Am 11. März 2019 bespricht Susanne Lenz in der Frankfurter Rundschau Dirk Brauns‘ „Die Unscheinbaren“. Der Roman ist an die Familiengeschichte des Autors angelehnt. Im letzten Absatz vergleicht die Rezensentin Fiktion und Realität: „Der Sohn, der in der DDR bei der Großmutter blieb, hatte anders als im Buch beschrieben, keine Nachteile oder Anfeindungen zu ertragen, wie der Buch-Sohn nach der Verhaftung der Eltern. Sogar studieren konnte er.“

„Westdeutsche Fantasie“

Ein Detail, mag man meinen. Doch auch fiktionale Stoffe prägen den Blick auf Vergangenheit. Vielmehr noch: Durch ihren emotionale Inszenierung, ihre Zuspitzung und ihren breite Öffentlichkeit sind sie oft weit prägender als klassische Dokumentationen – siehe etwa das Filmheft zu „Das Leben der Anderen“. Und wenn sich eine Darstellung explizit authentisch nennt, auf historische Berater_innen zurückgreift, die eigene Geschichte in den Fokus setzt, dann muss sie sich auch daran messen lassen. Dann kann und darf sie sich nicht mehr auf dramaturgische Ausreden zurückziehen. Mit jeder Fiktionalisierung wird ein Geschichtsbild, ein Bild, eine Sicht geprägt und immer mehr muss man fragen, wie sehr dieses Bild der realen Geschichte der DDR entspricht – oder dem Bild, wie das wir in der Rückschau sehen. Sehen möchten. Mit Bezug auf die Hein-Debatte meint etwa Adam Soboczynsk in der Zeit: „Wir hätten die DDR in der Rückschau gerne als Räuberpistole, sie war aber vor allem eine Qual.“

Warum hier nicht genug aufgehorcht werden kann, zeigt eine Episode, die Christoph Hein in seinem Auszug schildert und in der Debatte um die Verlässlichkeit seiner Erinnerung eher untergegangen ist. In einem Universitätsseminar habe ein Professor erklärt, dass Jakob Hein als Autor seiner Anti-Zensur-Rede von 1987 nicht ins Gefängnis gekommen sei.

„Das sei unmöglich, beharrten die Studenten, so könne es nicht gewesen sein, sie wüssten das ganz genau, weil sie ja den Film ‚Das Leben der Anderen‘ gesehen hätten.“ 

Hein resümiert:

„Der Film wurde ein Welterfolg. Es ist aussichtslos für mich, meine Lebensgeschichte dagegensetzen zu wollen. Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen.“ 

Die DDR, so muss festgehalten werden, existiert offenbar inzwischen vor allem als Fiktion, als ein Leben der Anderen in einer anderen Welt. Und an dieser Fiktion sind die Menschen, die die Realität dieses Landes kannten, kaum mehr beteiligt. So schreibt Adam Soboczynsk in seinem Artikel: „Auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR mit einer aufsehenerregenden Rede die Abschaffung der Zensur zu verlangen, dafür brauchte man mehr Rückgrat, als die westdeutsche Fantasie heute hergibt.“

Doch Geschichte ist komplexer als die Fantasie einer einzelnen Gruppe. Wie jüngst erst Historikerin Mary Fulbrook feststellt, gibt es nur dämonisierende oder verharmlosende Darstellungen der DDR. Es wird Zeit, dass die DDR-Darstellungen vielfältiger werden. Wie wäre es zur Abwechslung mit der Realität — und ostdeutschen Erinnerungen und Fantasien?

15 Gründe, warum die Huffington Post keine Ahnung vom Osten hat

Wenn wir die Huffington Post nicht hätten: Dann wüssten wir nicht, dass die Bundesrepublik vor allem vom Osten des Landes geprägt wird. Echt wahr! Hier steht’s: „15 Gründe warum in Deutschland heute mehr DDR steckt als jemals zuvor“!

Zugegeben, ein paar Dinge kennt man: die Merkel (alter Hut für uns), der Gauck (hamwa längst gewusst), aber auch: Der Gysi. Sind schon mal drei Punkte.

Dann: „Die SPD leidet als westdeutsch geprägte Partei unter erheblichen Bedeutungsverlust“ — also auch ein Punkt für den Osten. Irgendwie: „es gibt gute Gründe anzunehmen, dass zwischen dem Bedeutungsverlust der SPD und der Verschiebung der politischen Kraftzentren in Deutschland ein Zusammenhang besteht.“ Die Gründe hätte man dann doch gerne gewusst, aber soviel Zeit hat man ja nicht.

Vier Punkte. Was haben wir noch, werden sich die engagierten Huffingtoner gefragt haben. Irgendwie müssen die 15 Punkte doch voll werden. Pegida? Quatsch! Lass es uns Schritt für Schritt machen, erstmal eine schnittige These aufstellen: „Die bedeutendsten gesellschaftlichen Diskussionen werden heute im Osten vorangetrieben.“ Sehr cool, das zählt schon mal. Fünf!

Und jetzt diese These unterfüttern: Die Debatte um den demografischen Wandel nahm in Ostdeutschland ihren Anfang (6.), in Sachen Kinderbetreuung sind ostdeutsche Kommunen mittlerweile Vorbild (7.), in der Diskussion um ein modernes Familienbild hängt der Westen zurück (8.), die Energiewende wurde vor allem von westdeutschen Politikern ausgebremst (und ich dachte, das wären die Stromkonzerne gewesen, aber das macht ja keinen Unterschied — 9.), Pegida war ein Phänomen, das im Osten seinen Anfang nahm (also doch, haha! 10!).

Von der Elitenkritik geht’s dann direkt zur Linkspartei (wie naheliegend) und von dort zur AfD (noch naheliegender). 13, zwei fehlen noch. Da haben wir: Mehr Nato-Kritik und den Regierungsumzug nach Berlin. Wenn das mal kein Argument für den Osten ist.

Geschafft! 15mal ganz tolle Gründe, warum der Osten ganz doll das Land prägt. Beziehungsweise: 15 politische Einflüsse. Schade, dass man die Wirtschaft herausgelassen hat (etwa den einzigen Dax-Vorstand ostdeutscher Herkunft), die Kultur (zum Beispiel die Vorbehalte gegen ostdeutsche Regisseure), die Verwaltung (die westdeutsch besetzte Hierarchie in ostdeutschen Behörden) oder einfach nur die alltäglichen Vorurteile bei Fußballfans oder überhaupt.

Aber: Psst — nicht der Huffington Post verraten! Lassen wir sie lieber weiter im Ungewissen:

Wahrscheinlich ist das wohl das eines der größten Rätsel der politischen Gegenwart: Warum nur fühlen sich viele Bürger im Osten immer noch derart unverstanden?

Lacht doch mal — der Ironievorwurf des Michael Jürgs

1990 stellte Michael Jürgs in einem Leitartikel die Frage „Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?“ — und wurde als Chefredakteur des Stern gefeuert. Seitdem hat ihn das Thema „Osten“ (was immer da jetzt eigentlich das Thema sein soll) nicht losgelassen. Das sagt er auch im Interview mit der Zeit. Dort tritt er als Ost-Experte auf, der zu berichten weiß aus „winzige[n] Dörfer[n], die kein anderer westdeutscher Journalist freiwillig aufsuchen würde.“ Ach wie mutig. Jahrelang hat er also die im Osten beobachtet und freut sich, wenn sie sich weiter entwickeln. Zum Beispiel:

Für mich der wesentlichste Fortschritt: dass so viele Mitbürger in den neuen Ländern gelassener geworden sind. Dass sie über ironische Bemerkungen inzwischen lachen können. Ich mache seit den Neunzigern Lesereisen durch die neuen Länder, früher waren die meisten sofort beleidigt, wenn ich ironisch wurde und einen Witz auf ihre Kosten machte. Heute lachen sie.

Nun ist das mit Ironie und Witzen so eine Sache. Als Journalist sollte Jürgs die publizistische Warnung „Ironie versteht der Leser nie“ kennen. Außerdem unterstreicht die Wikipedia, wie wichtig es ist, das Gegenüber zu verstehen, damit die ironische Bemerkung zündet:

Die erfolgreiche Verwendung von Ironie zeugt nicht nur von der erfolgreichen Reflexion des eigenen Wissens, sondern auch vom erfolgreichen Erkennen des Wissens des Gegenübers und ist daher Ausdruck der Fähigkeit, die Gedanken des anderen vorwegzunehmen und zu reflektieren.

Ganz unironisch kann man also sagen: Es sind nicht die Ostdeutschen, die die jürgsche Ironie nicht verstehen. Es ist Jürgs, der die Ostdeutschen nicht versteht, trotz seiner langjährigen Beobachtung dieser Leute, auf die er so stolz ist:

Inzwischen habe ich dazu drei Bücher geschrieben und als Co-Autor zwei Dokumentationen gedreht.

Vielleicht ist genau das das Problem: Niemand bekommt gerne aus Hamburger Perspektive erklärt, wer man eigentlich ist. Vor allem nicht, wenn es so verallgemeinernd passiert:

ZEIT: Und das [mündige Bürger in einer Zivilgesellschaft zu sein] sollen Ostdeutsche nicht verinnerlicht haben?
Jürgs: Schauen Sie sich die Pegida-Demos an.

Ist das Jürgs‘ Ironie? Wer weiß. Problematisch ist auch, dass für Michael Jürgs am Ende alles auf Befindlichkeiten hinausläuft. In seiner Welt von Ost- und Westdeutschland gibt es keine Lohnunterschiede, keine Vorurteile, keine unterschiedlichen Lebensrealitäten. Nur unterschiedliche Fähigkeiten, mit sich selbst umzugehen:

[…] wir merken jetzt, dass sich viele Ostdeutsche noch nicht auf Augenhöhe mit den Westdeutschen sehen oder zu sehen wagen. Ihr Selbstbewusstsein wächst, aber eben langsam, viele suchen noch nach ihrer Identität.

Hier beginnt, Jürgs‘ Logik Löcher zu zeigen: Ist nicht schon die Ablehnung seiner als Ironie gemeinten Bemerkungen Ausdruck von Selbstbewusstsein? Oder steht am Ende nicht doch die Erkenntnis, dass der westdeutsche Journalist Michael Jürgs bestimmt, was Humor und was Selbstbewusstsein ist — nicht aber das ostdeutsche Publikum selbst? Dann ist es aber feige, sich hinter einem Vorhang aus Ironie zu verstecken. Soviel Selbstbewusstsein sollte aber gerade Michael Jürgs besitzen.

Schließlich sagte er 2008 in einem Interview — auch mit der Zeit, auch über das gleiche Thema „Osten“ — über seinen berüchtigten Stern-Artikel :

Ich würde den Text auch wieder so schreiben, denn mein Grundsatz war, dass die deutsche Einheit nicht zu meinem Traum von Europa gehörte.

Michael Jürgs möchte also nicht mit den Zonis zusammenleben. Warum denn nicht gleich so deutlich?

 

Kurios: Die DDR im Internet

Wir beschäftigen uns hier ja damit, wie der Osten in all seinen Projektionen in den Medien dargestellt wird. Dabei haben wir in der Regel die „klassischen“ Medien im Blick. Doch wie sieht es in diesem krassen neuen Teil, diesem Internet aus? Die Historikerin Irmgard Zündorf hat sich in einem Seminar angeschaut, wie die DDR im Internet dargestellt wird. Ihre Erkenntnis: Es überwiegt deutlich eine kritische Auseinandersetzung. Die Erklärung ist einfach, wie sie im Interview mit der Thüringischen Landeszeitung erläutert:

Eine gute Geschichtsdarstellung kostet Geld. Und für eine ostalgische Seite, die gut gemacht ist, kriegt man keine öffentlichen Gelder. […] Wir haben auch Seiten gefunden von ehemaligen Grenzern oder ein MfS-Forum. Die waren so schlecht gemacht, dass die Studierenden meinten: Das ist zwar ein kurioses Bild der DDR, aber zu den Seiten würde man sich als junger Mensch sowieso nicht verirren.

Ein durchaus überraschender Befund also: Gerade im pluralistisch angelegten Internet werden so die Sicht- und Erzählweisen viel eingeschränkter als es möglich wäre. Gerade in Hinblick auf einen Staat, von dem man sich mit der viel beschworenen Meinungsfreiheit abheben wollte und will, ist dies recht bedenklich. Dass dies auch nicht im Sinne einer kritischen und umfangreichen Geschichtsdarstellung sein kann, zeigt das Resümee der Wissenschaftlerin und ihren Studierenden:

Was den Studierenden wiederum negativ aufgefallen ist: Die DDR wird dort sehr häufig im Spiegel der Bundesrepublik dargestellt. Die Bundesrepublik ist das Positivbeispiel, und die DDR ist das Negativbeispiel. Ihnen war das zu sehr schwarz-weiß. Immer ist die DDR offensichtlich ein Staat, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, wo die Regierung völlig desolat war, die Stasi alles beherrschte und der überwiegende Teil der Bevölkerung in der Opposition war. Gerade der letzte Punkt hat uns irritiert. Wieso konnte dieser Staat überhaupt 40 Jahre lang bestehen, wenn keiner ihn haben wollte und alle dagegen waren? Diese Unklarheit führt dazu, dass für junge Leute, die keinen direkten Bezug zur DDR haben, dieser Staat eine kuriose Geschichte bleibt.

Mauerfall-Einheit: Vereinnehmen ohne übernehmen

Wie funktioniert eigentlich Vereinnahmung von Geschichte? Hier ein aktuelles Beispiel: Die in der DDR geborene Piraten-Politikerin Anke Domscheit-Berg hat der Zeit ein umfangreiches Interview gegeben. Darin sagt sie unter anderem:

Der Mauerfall ist die endlose Energiequelle, die mich immer antreiben wird. […] Ich wollte eine bessere DDR, einen dritten Weg. Aber davon sprach dann niemand mehr, die runden Tische verschwanden, viele wollten nur noch die D‑Mark. […] Als wir auf die Straße gingen, hatten wir eine Vision von einer besseren Welt. […] Wir, die dablieben, wollten den dritten Weg, wir wollten eine bessere Gesellschaft. Das geht ja nicht, wenn man abhaut und alle anderen dalässt. […] Überlegen Sie mal: Wir Ostdeutschen wissen sogar, wie man Geheimdienste abschafft, wir haben das selbst einmal gemacht.

Der dritte Weg, das war ein zentrales Ziel der Dissidenten ab Anfang der 1980er Jahre: Sie wollten eine demokratisch reformierte DDR. Die Idee des Sozialismus fanden sie nicht schlecht — nur dessen Umsetzung. Die Wiedervereinigung hingegen war eine politisch und ökonomisch motivierte Idee der bundesdeutschen Kohl-Regierung. Der Rest ist Geschichte.

Nun aber zur Vereinnahmung. Im Tagesspiegel schreibt Chefredakteur Lorenz Maroldt eine Replik zu diesem Text — er argumentiert aber gar nicht für oder gegen Domscheit-Berg, sondern führt ausgehend von ihrem Interview die Meinungen von SPD-Politiker aus dem Jahr 1989 vor. Das sieht dann so aus:

Die wichtigste Botschaft des Lebens gehe von den Ereignissen damals aus: Nichts, wirklich nichts müsse so bleiben wie es ist, schreibt sie, egal, wie stabil es aussieht. […] Dass irgendwann die Mauer fällt und die Einheit kommt, dass so etwas geht, das haben vor ’89 – und auch noch mittendrin – nur die wenigsten erwartet. Erich Honecker sah sie noch in hundert Jahren stehen, und auch im Westen, hier besonders im linken, grünen, sozialdemokratischen Milieu, war die Sache abgehakt, mindestens das. […] Noch kurz vor dem Mauerfall erklärte [Egon Bahr apodiktisch]: ‚Es gibt keine Chance, die deutschen Staaten zusammenzuführen.‘ […] Doch die Wucht der Ereignisse, die Bahr überrollte, so wie auch Hans-Jochen Vogel (‚illusionäres Wiedervereinigungsgerede‘, September ’89), Oskar Lafontaine (‚historischer Schwachsinn‘, Dezember ’89), Willy Brandt (‚die Hoffnung auf Wiedervereinigung wird gerade zur Lebenslüge‘, September ’89), Gerhard Schröder (‚keine Chance‘, September ’89), wirkt nach, ist nicht vergangen.

Und wir sehen: Plötzlich sind der Mauerfall und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten untrennbar miteinander verbunden. Und es scheint Maroldt nicht zu stören, dass seine Zitatgeberin etwas ganz anderes sagt. Da passt es, dass sein Mauerfall-Einheits-Brei zu einem Naturereignis ohne Akteure wird: „Ereignisse“, „die Sache“. Keine Rede von denen, die auf die Straße gingen und viel riskierten. Keine Rede von Menschen wie Anke Domscheit-Berg. Sie würden wohl nur diese vereinnahmende Sichtweise stören.

Westdeutsche Relevanzkritieren

Malte Lehming ist Leitender Redakteur im Bereich Meinung beim Berliner „Tagesspiegel“. Dort befasst man sich seit den letzten „Enthüllungen“ über Angela Merkel über deutsch-deutsche Befindlichkeiten. Lehmings Artikel „Einwanderer ohne Auswanderung“ fasst all seine Probleme bereits in der Überschrift zusammen. Er beginnt mit einem Witz, der kurz nach der Wiedervereinigung entstanden sein soll und in dem ein „Ossi-Ehepaar“ und ein „Türke“ aufeinander treffen. Lehming erklärt den Witz so:

Aus der Sicht vieler Einwanderer, die in der Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten gelebt hatten, waren die Ostdeutschen 1990 eine große Gruppe von Neueinwanderern. Das Ungewöhnliche an diesen Immigranten war nur, dass sie überwiegend gut Deutsch sprachen und ihre Heimathäuser nicht hatten verlassen müssen. Ansonsten benahm sich ein Stralsunder, der zum ersten Mal nach Köln kam, kaum anders als ein Grieche, Pole oder Spanier. Er fremdelte, staunte, fand sich nicht zurecht.

Das ist eine interessante Art, eine westdeutsche Sicht darzustellen: Sie gar nicht zu benennen und auf andere Bevölkerungsgruppen zu projizieren. Tatsächlich gewinnen Ostdeutsche in dieser Erzählform noch an Exotik, wenn sie zusammen mit ebenfalls als exotisch imaginierten Gruppen dargestellt werden. Westdeutsch, das bleibt auf diese Weise eine unsichtbare und doch allgegenwärtige Norm und Bezugsebene. Dass dies nicht ganz einfach ist, erkennt Lehming zumindest an:

Anders sah es für die Westdeutschen aus. Ihr Leben änderte sich so gut wie nicht. […] Dieser Unterschied hatte eine gravierende Folge. Er führte zu einer Asymmetrie in der Relevanz von Biografien und Vergangenheiten.

Doch bleibt es bei dieser Feststellung. Bereits im folgenden Absatz führt Lehming vor, auf welcher Seite dieser Asymmetrie er selbst steht — und was es bedeutet, die Relevanz von Biografien und Vergangenheiten anderer Menschen abzusprechen:

[D]er Gesamtkomplex DDR – von ZV-Ausbildung über Sättigungsbeilage bis NVA – hatte seine Wirkungsmacht vor mehr als zwei Jahrzehnten unwiederbringlich verloren. Man kann ihn seitdem aus historischen, ethnologischen oder exotischen [sic!] Gründen studieren. Doch wirklich notwendig ist das zum Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft nicht.

Damit irrt Lehming nun außerordentlich. Denn es ist ja insbesondere die Wirkungsmacht, die auch nach 1990 fortbesteht — ganz im Gegensatz zur ZV-Ausbildung, Sättigungsbeilage oder NVA, die ja nun nicht mehr real existierten. In ostdeutschen Gruppen wird noch immer auf Erfahrungen in der DDR Bezug genommen, auf die Sprache und die Unterschiede zu heutigen Lebensumständen. Ein Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ist also erst dann möglich, wenn man diese Wirkungsmacht ernst nimmt. Zumindest dann, wenn man die „deutsche Gesellschaft“ als gesamtdeutsch begreift und nicht nur auf die ehemalige BRD verweisen möchte. Wenn schon eine homogene Gruppe konstruiert werden muss, dann richtig.

Lehming schreibt auch noch über eine interessante westdeutsche Perspektive:

Ob Euro-Krise oder Pädophilie bei den Grünen, CSU-Vetternwirtschaft oder der Drohnenskandal im Verteidigungsministerium: Fast kein aktuell relevantes Thema hat auch nur am Rande mit der DDR zu tun.

Wie sollte es auch? Immerhin existiert dieses Land seit über 20 Jahren nicht mehr. Ich möchte einmal behaupten, dass es da durchaus folgerichtig ist, dass es kaum ein „aktuell relevantes Thema“ gibt. Wobei es aber durchaus relevant ist, wer etwas zu einem Thema machen kann. Die Jugendjahre einer Kanzlerin erscheinen schon allein aufgrund ihrer politischen Position wichtig und auch wenn westdeutsche Pharmaunternehmen in der DDR forschen ließen, wird es zu einem Thema, denn: In jedem Fall gibt es einen Bezugspunkt aus westdeutscher Sicht — relevant sind ostdeutsche Themen also dann, wenn sie den Westen betreffen. Was andersherum bedeutet: Ohne westdeutschen Bezug haben es ostdeutsche Themen ungleich schwerer, zu einem „Thema“ zu werden. Also gehört zu werden. In den Medien aufzutauchen. Relevant zu sein.

Damit schließt sich der Kreis zum Fazit von Lehming, der ganz ähnlich feststellt:

Das ist vermutlich die nachhaltigste psychologische Folge der deutschen Einheitswerdung. Der Ossi erfährt, dass sich der Wessi kaum stärker für ihn interessiert als für andere Einwanderer. Deren Schicksale aber werden zumindest gelegentlich durch Integrationsgipfel und Islamkonferenzen aufgewertet.

Das ist eine durchaus wichtige Erkenntnis in sehr entlarvenden Worten. Denn Lehming scheint „Einwanderer“ als Gruppen zu verstehen, denen es in erster Linie darum geht, wahrgenommen und geliebt zu werden. Integrationsgipfel sollen aber — so kritisch man ihre politische Konstruktion auch sehen muss — gerade nicht darauf reduziert werden, „Schicksale aufzuwerten“. In ihnen soll es darum gehen, wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden kann, zwischen dominanten Mehrheiten und Minderheiten. Es geht um handfeste gesellschaftliche Probleme.

Und es geht auch nicht darum, dass der Ossi — oder wie Lehming wohl meint: der Jammer-Ossi — erkennt, dass sich der Wessi nicht für ihn interessiert. Es geht auch nicht darum, dass  westdeutsch sozialisierten Menschen die Geschichte, Erfahrungen und Werte ost- und gesamtdeutsch sozialisierter Menschen egal ist.

Es geht darum, dass Menschen mit westdeutscher Biographie trotzdem darüber schreiben und urteilen. Und kraft ihrer Deutungshoheit die Diskussion zu einem Thema bestimmen, von dem sie keine Ahnung haben.

Die demaskierten Ostdeutschen 1

Typisch „Die Zeit“: Da reist der Autor Tuvia Tenenbom durch ganz Deutschland, veröffentlicht seine Erfahrungen in dem Buch „Allein unter Deutschen“ — und im Interview mit der Wochenzeitung geht es fast nur um Ostdeutschland. Sie möchte ihren Leserinnen und Lesern offenbar wieder einmal dieses Land näher bringen, das so anders ist als die ihnen so vertraute Bundesrepublik. Oder, wie Tenenbom meint:

Ostdeutschland ist besonders.

Im Interview geht es denn auch in erster Linie darum, diese Besonderheit zu erklären: Wie sind sie so, die Ossis? Und warum sind sie so nostalgisch und unzufrieden? Tenenbom erzählt vom ostdeutschen Humor und resümiert aus seinen Beobachtungen:

Die Menschen sind stolz auf ihre Herkunft – und schämen sich gleichzeitig dafür, in der DDR geboren zu sein.

Dass es in seinem Buch um mehr geht, als den Volksstamm der Ostdeutschen anthropologisch einzuordnen, kommt nur am Rande vor. Der ständig vorhandene und latente Antisemitismus in Deutschland wird etwa nur gestreift:

Die Ostdeutschen sind nicht antisemitischer als die Westdeutschen, sie setzen nur schneller ihre Maske ab.

Aber wie so oft wählt „Die Zeit“ den sicheren Weg: Bevor man sich selbst — und man selbst ist natürlich westdeutsch — von außen betrachtet, schaut man doch lieber auf den Osten. Das ist eben lehrreich und lustig zugleich und birgt nicht die Gefahr, unrühmliche Dinge zu entdecken.

„Zone“

Bei manchen Begriffen über den Osten Deutschlands wundert man sich, dass sie immer noch gebraucht werden. „Zone“ ist einer von ihnen.

Wer dieses Wort verwendet, stammt ziemlich sicher aus der ehemaligen Bundesrepublik, denn „Zone“ ist Kalter Krieg pur: Damit wird nicht sachlich auf eine der Besatzungszonen verwiesen, die nach dem 2. Weltkrieg errichtet worden sind. Stattdessen war es stets eine pejorative Wendung, die immer aus westdeutscher Sicht gesprochen wurde und die Sowjetische Besatzungszone bzw. die Deutsche Demokratische Republik meinte. „Zone“, das klingt abgegrenzt, klein, nicht eigenständig. Dieses kleine Wort fasst also prägnant zusammen, wie der Osten im Westen gerne gesehen wurde und wird — auch wenn dieser Westen Deutschlands rein politisch am Anfang auch nicht mehr war als eben dies: Ein Haufen Zonen. Das Reden von der „Zone“ half aber dabei, das Land im Osten nicht als Land bezeichnen zu müssen.

Als es nach 1990 keine zwei deutsche Staaten und schon gar keine Zonen mehr gab, existierte die „Zone“ dennoch munter weiter. Stellvertretend dafür mögen Vorschläge im openthesaurus stehen, die die „Zone“ als Synonym für die neuen Bundesländer begreifen. Auch in der Presse taucht das Wort immer wieder gerne und vor allem unreflektiert auf: „Zielstrebig aus der Zone“ (Die Welt, 12.06.2012) heißt es da oder auch „Zärtlich in der Zone“ (Der Spiegel, 11.02.2012). Die „Zone“ wird offenbar vor allem der Alliteration wegen verwendet. Natürlich nur deswegen.

Wer sich also einem westdeutsch geprägten Wahrnehmungskosmos anbiedern möchte, sollte die „Zone“ verwenden, so wie es Jana Hensel bereits 2002 recht erfolgreich mit „Zonenkinder“ getan hat.

Die DDR, Land ohne Literatur

Die Buchhandlungen müssen wohl umsortieren, wenn sich die Ansicht von Werner Fuld durchsetzt. Der Autor und Literaturkritiker spricht den Werken von Christa Wolf, Heiner Müller, Franz Fühmann und anderen nämlich jede ästhetische Qualität ab. Grund sei die Zensur in der DDR gewesen. Die in der DDR publizierte Literatur verdiene daher nicht den Namen Literatur im Sinne westeuropäischer Literatur — es habe sich vielmehr um „Lebenshilfe“ gehandelt.

So behauptet Fuld im Interview mit Deutschlandradio Kultur:

Und ein Buch, das erscheinen durfte, nur weil es vollkommen konform mit den gesellschaftspolitischen und ästhetischen Vorstellungen der herrschenden Klasse ist, das kann keine besonders gute Literatur sein.

Hier ließe sich ähnlich polemisch entgegnen: Schade, dann ist kein einziges Buch auf dem gesamtdeutschen Buchmarkt im fuldschen Sinne als Literatur zu bezeichnen — in der Marktwirtschaft werden nun einmal die Dinge publiziert, bei denen davon ausgegangen wird, dass sie von vielen Menschen gekauft werden. Heißt: Mit dieser Argumentationslinie kann man sich wohl kaum einem sinnvollen Literaturbegriff nähern.

Ein großes Lob kommt indes Frank Meyer zu, der das Interview mit Fuld führte. Er macht auf dessen westzentrierte Zirkelschlüsse aufmerksam:

Fuld: Im Übrigen ist ein Großteil der DDR-Literatur ja inzwischen verschwunden. Man redet überhaupt nicht mehr davon, und das ist ja auch ein Zeichen, dass es …

Meyer: Das tun Sie vielleicht nicht, Herr Fuld. Ich kenne viele andere Leser, die das genau tun.

Er weist auf die simple Argumentation Fulds hin:

Meyer: Ja, im Bezug auf die sozialistischen Länder schließen Sie ja genau diesen vereinfachten Schluss, dass alles, was verboten wurde, die bessere Literatur ist, und alles, was erscheinen durfte, literarisch nichts wert ist.

Und schließlich zeigt Meyer auf, was Werner Fuld mit diesem Interview unter Beweis gestellt hat — er hat keine Ahnung von dem, was er kritisiert:

Meyer: Ich habe leider den Eindruck, dass Sie keine Kenntnis haben von den Literaturverhältnissen in der DDR. Es gab eine Unmenge von Büchern, die DDR-Leser ermutigt haben, sich gegen dieses System zu stellen.

Christa Wolf, so behauptet Fuld, wäre in Kürze vergessen. Für den Autoren Werner Fuld ist ein ähnliches Schicksal anzunehmen. Bis dahin unbedingt zu empfehlen als Lehrstück deutsch-deutscher Literaturkritik ist das Interview von Frank Meyer mit Werner Fuld.

Die subversive Schnauze

Wer als ostdeutsch sozialisierter Mensch darüber schreibt, wie westdeutsch sozialisierte Menschen den ostdeutschen Osten sehen, der braucht oft einiges an subversivem Potenzial; vor allem, wenn diese ostdeutsche Sicht auf die westdeutsche Sicht westdeutsch herausgegeben wird.

Holger Witzel tut dies seit 2009 in seiner Glosse „Schnauze, Wessi“ auf stern.de. Nun sind diese Glossen in Buchform erschienen — und darüber, wie dieses Buch zustande gekommen ist, gibt es eine eigene Glosse. Wie schwierig es dabei ist, nicht bei DDR-Nostalgie oder Humorbüchern zu landen und dabei all die Stereotypen fortbestehen, wird hier besonders auffällig — denn genau darum geht es in „Schnauze, Wessi“:

So kann ich nur hoffen, dass die eigentlichen Adressaten ordentlich dafür blechen, sich beschimpfen zu lassen: Wie bei einer Domina sollen sie dafür nicht etwa Schmerzensgeld bekommen, sondern für alles bezahlen. Sind sie ja gewohnt aus dem Osten, werden sie denken. Aber das ist genauso ein Irrtum, wie sich die überraschend freundlichen — das kann man ruhig auch mal zugeben — Verlagsleute vielleicht einen anderen Selbstvermarktungs-Text zum Verkaufsstart ihres Buches vorgestellt haben.