Die DDR im Roman „Gittersee“: Innere Wahrheit oder Verfügungsmasse?

Es gibt aktuell eine Debatte im Literaturbetrieb um „Gittersee“, den Debütroman von Charlotte Gneuß. Die Handlung spielt im Jahr 1976 in Dresden, die Autorin wurde 1992 im westdeutschen Ludwigsburg geboren. Der S. Fischer Verlag hat dem DDR-stämmigen Autoren Ingo Schulze das Manuskript vor Erscheinen zugeschickt. Er hatte anschließend eine Liste an Korrekturvorschlägen erstellt. Von den 24 Punkten hat Gneuß zehn übernommen, andere bewusst nicht. Diese interne Liste ist auf nicht nachvollziehbaren Wegen an die Jury des Deutschen Buchpreises gelangt, für den „Gittersee“ nominiert ist.

Damit ist die Liste nicht mehr intern und das Feuilleton diskutiert die Frage: Was darf Literatur? Hier sind einige der Argumente:

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) schreibt Sandra Kegel unter der Überschrift „Die Akte Gneuß“:

„Glittersee“ wurde bislang wohlwollend rezensiert, auch in der F.A.Z.: … [auch] dafür, dass es gut recherchiert sei und die DDR-Lebenswelt glaubwürdig darstelle.

Die Beanstandungen … werfen die Frage auf, ob sie überhaupt den Goldstandard eines Romans treffen. Ob also die Frage „War das damals in der DDR nun genauso, oder war es das nicht?“ die richtige ist, um die Qualität von Literatur zu beurteilen. Und ob ein Roman, der in den Siebzigerjahren in Dresden spielt, zwangsläufig ein DDR-Roman ist, wo doch der Fokus womöglich auf ganz anderen Themen liegt, auf Jugend und Liebe, Geheimnis, Verrat.

Spielfilme wie Romane … sind Werke der Fiktion. Sie müssen dramaturgisch verdichten, um ihre innere Wahrheit zu intensivieren. Daran sind sie zu messen, das ist der Goldstandard.

Beim Deutschlandfunk kommentiert Christoph Schröder:

[Charlotte Gneuß ist] Vertreterin einer jungen Generation von Autoren, die die DDR nicht mehr aus eigener Anschauung kennen und darum eine weitaus größere Distanz zu ihrem Material haben als noch die Generation eines Ingo Schulze oder beispielsweise auch einer Katja Lange-Müller. Anders gesagt: Der fiktionale Raum im Hinblick auf die erzählte DDR weitet sich derzeit, und „Gittersee“ ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür.

Es geht also auch darum, wer die Deutungshoheit über Geschichte und Geschichten hat, und inwieweit die präzise Darstellung der äußeren Umstände automatisch auf die innere Wahrheit eines Kunstwerks ausstrahlt. Provokant gefragt: Wen interessiert es, ob Tolstois Beschreibungen der Uniformen des napoleonischen Heers in „Krieg und Frieden“ bis ins Detail korrekt sind?

Die Süddeutsche Zeitung interviewt Ingo Schulze, den Verfasser der Korrekturvorschläge. Er meint:

„Wenn eine bestimmte Zeit und ein bestimmter Ort beschrieben werden, sollte das möglichst stimmen, vor allem auch der Sprachgebrauch. … Oder man weicht ganz bewusst ab, das geht ja auch. 

Dass so etwas wie meine Anmerkungen, die jedem Leser meines Alters aus dem Osten auffallen könnten, überhaupt den Anschein erweckt, etwas substanziell Anstößiges zu markieren oder selbst anstößig zu sein, ist vielleicht auch ein Indiz für eine gewisse Schieflage. … Auch der Literaturbetrieb [ist] westdeutsch geprägt.

Ich würde immer dafür eintreten, dass jede und jeder jederzeit und überall über alles schreiben darf. Deshalb gibt es ja Literatur. Andererseits ist der Osten oft eine Verfügungsmasse, derer man sich für die eigenen Geschichten bedient, was in aller Regel klischeehaft wird.“

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