Irgendwie sind 33 Jahre Mauerfall wie ein 33 Jahre andauernder Grundkurs, journalistisch angemessen über eine Region und ihre Menschen zu berichten. Mit Erfolg: Bei der Berichterstattung zu Ost-West-Themen sind die Antworten fundierter und erhellender geworden.
Doch es ist beim Blick auf den Osten Deutschlands geblieben. Denn eine Hälfte der vielbeschworenen deutsch-deutschen Geschichte blieb gerne außen vor. Denn:
Was ist mit Westdeutschland?
Unsichtbar: Westdeutschland
Bei all den Berichten, Analysen und Erkenntnissen über Ostdeutschland bleibt die alte Bundesrepublik so blass wie, nun ja: die neuen Bundesländer den Westdeutschen nach der Vereinigung.
Denn anders als bei Ostdeutschen gibt es keine medialen Deutungsversuche, was Westdeutsche vom Rest Deutschlands unterscheidet. Westdeutschland ist zwar die Norm, an und mit der sich Ostdeutschland beständig messen muss – doch wo wird diese Norm benannt?
Tatsächlich sind der westdeutsch schauende Blick und die aus Westdeutschland agierende Position oft nicht sichtbar. Ähnlich sieht es bei westdeutschen Privilegien aus: Auch sie sind unsichtbar — aber stets vorhanden. So können Westdeutsche aus der Perspektive eines allgemein-deutschen „Wir“ sprechen und ihre Herkunft ist gemeint, wenn über „Deutschland“ gesprochen wird. Westdeutschland und Westdeutsche scheinen derart selbstverständlich, dass sie nicht erklärt werden müssen.
Erklärungsbedürftig: Westdeutschland
Das ist der Stand, den man für die aktuelle mediale Berichterstattung feststellen muss. Dabei gehört es zu den zentralen Aufgaben des Journalismus, kritisch zu sein. Und das heißt: Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Blinde Flecken sichtbar machen. Insbesondere bei denjenigen, die in der Öffentlichkeit sprechen und entscheiden können. Leider passiert das nicht und eine machtvolle Position bleibt unsichtbar – und zieht möglicherweise einen Teil ihrer Macht aus dieser Unsichtbarkeit.
Dabei wäre es wichtig, diesen Teil Deutschlands zu verstehen. Schließlich ist es in der Regel ein westdeutscher Blick, der Debatten in Deutschland setzen und durchführen kann. Gleichzeitig stellen westdeutsch sozialisierte Menschen den Großteil der Eliten, etwa in Politik, Wirtschaft und Medien.
Es sollte daher ein breites Interesse geben, Westdeutschland und Westdeutsche zu verstehen. Deren Kultur und die davon geprägten Selbstverständnisse würden helfen, Stimmungen und Entscheidungen zu verstehen.
Deshalb: #WestdeutschAwareness Week!
Wir wollen daher unseren Beitrag leisten, das unsichtbare Westdeutschland zu erkennen: Am 9. November rufen wir die #WestdeutschAwareness-Week aus!
Im 33. Jahr des Mauerfalls wollen wir so auf die Leerstelle „Westdeutschland“ aufmerksam machen. Wir wollen Diskussionen in Bewegung bringen und Akteur*innen vernetzen. Wir wollen zusammentragen, was es bereits an Erhellendem über diesen Teil von Deutschland gibt. Vor allem aber wollen wir: Westdeutschland verstehen.
Wer jetzt irritiert ist: Dieses Gefühl gehört dazu, wenn eine unsichtbare Norm ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt word. Sich mit ihr zu beschäftigen, heißt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und ja, das muss zwangsläufig irritieren.
Wer jetzt schmunzelnd den Kopf schüttelt, denkt wahrscheinlich an all die einseitigen und klischeehaften Medienberichte über Ostdeutschland. Soll es den gleichen Quatsch jetzt auch über Westdeutschland geben? Auf keinen Fall! Wir sollten daraus lernen, wie wir über- und miteinander sprechen können. Damit aus der deutsch-deutschen Berichterstattung auch ein deutsch-deutsches Verständnis werden kann.
Fragen an Westdeutschland
Um gute Gedanken über Westdeutschland zu finden, stehen bei dieser #WestdeutschAwareness-Week Fragen im Mittelpunkt. Das bedeutet konkret: sieben Aspekte über Westdeutschland, die wir zusammen beleuchten können.
Machen Sie mit und sprechen Sie über Westdeutschland! Unten in den Kommentaren, drüben bei Twitter, per Mail oder bei Freunden und Bekannten.
Was hat sich durch den Mauerfall in Westdeutschland und in westdeutschen Biografien verändert?
Was sind aktuelle Herausforderungen, die spezifisch westdeutsch sind?
Warum sind in Westdeutschland rechte Positionen weniger stark als im Rest von Europa?
Warum verstehen sich Westdeutsche nicht als westdeutsch, sondern eher als Nord- oder Süddeutsche, als Deutsche oder als Europäer*innen?
Gibt es Privilegien in Westdeutschland bzw. für in Westdeutschland sozialisierte Menschen? Wenn ja: Welche sind das?
Was lernen Schüler*innen über westdeutsche Geschichte und Kultur?
Warum ist Westdeutschland anders als Ostdeutschland?
Bonusfrage: Was sollte auf diesem Titelbild zu sehen sein?
Was es schon gibt: Westprivilegien, Critical Westness und Beispiele
Zu ihrem Zapfenstreich als Bundeskanzlerin wünschte sich Angela Merkel den Titel „Du hast den Farbfilm vergessen“, im Original 1974 von Nina Hagen gesungen. Nina Hagen, die spätere „Godmother of Punk“? Wie passt das mit Angela Merkel zusammen?
Merkel sprach in dieser Rede etwas aus, das wohl viele Ostdeutsche lange von ihr erwartet hatten: nämlich das Erleben einer subtilen Form der Diskriminierung.
Und nun ließ sie diese Kritik auch noch musikalisch erklingen. Subversiv.
Was unterscheidet den Tag der deutschen Einheit, den Tag des Mauerfalls und den Tag des Mauerbaus? Zu den ersten beiden Tagen präsentieren Medien gerne Ost-West-Paare, die von ihrer Beziehung berichten dürfen. Um den 13. August herum hingegen stehen Menschen im Mittelpunkt, die nach dem Mauerbau aus der DDR geflohen sind. Wir versuchen uns an einer Systematik der Veröffentlichungen zum diesjährigen Gedenktag, denn: Gibt es nach 60 Jahren Mauerbau noch überraschende, neue Ansätze?
Fluchtwege
Im Auto, in der Luft, im Wasser, durch den Tunnel: Diese Artikel zeigen, dass der Weg eine große Herausforderung war. Nervenkitzelspannung inklusive.
Eine Flucht aus der DDR ist immer auch ein Kampf gegen ein System und seine Vertreter*innen. Wer da ein paar Tricks auf Lager hat, konnte es schaffen, zeigen uns diese Texte:
Ja, eine ungewöhnliche Kategorie, aber gleich mehrfach vertreten: Wie sind eigentlich Menschen geflohen, die im medizinischen Bereich tätig waren? Dieses Jahr erfahren Sie es endlich!
Auch wenn die Mauer etwas weiter weg stand: Menschen sind aus der DDR in die ganze ehemalige BRD geflüchtet. Eine Lokalzeitung mit Anspruch kann also einen davon finden.
So platt es klingt: All diese Fluchtgeschichten sind letztlich Fluchtgeschichten. Dramatisch bis lebensgefährlich für die Betroffenen, dramatisch bis einfühlend von den jeweiligen Medien geschildert. Mehr Erkenntnis als „Die DDR war schlimm, wir wollten weg und die Flucht war nicht leicht“ bleibt aber kaum.
Warum diese Geschichten trotzdem so häufig erzählt werden? Damit es menschelt, die trockenen Zahlen der Fluchten wirken längst nicht emotional.
Und dennoch: Gerade der Mauerbau — Sinnbild des Kalten Krieges und der deutschen Teilung — er wäre eine gute Gelegenheit, diese Aspekte ausführlicher zu beleuchten und zu fragen: Wo kommen wir her, wohin führt der Weg für uns als Gesellschaft? Ein paar dramatische Fluchtgeschichten können das nicht.
Update
Auch nicht unwichtig — Auch 30 Jahre nach der Wende taucht der ostdeutsche Otto Normalverbraucher, der nicht fliehen wollte, in den westdeutschen Medien nicht auf.
— Dritte_Person (AstraZ getuned) (@Dritte_Person) August 14, 2021
Durch die Fokussierung auf Fluchtgeschichten versäumen es Medien leider auch, die DDR-Gesellschaft so komplex zu zeichnen, wie sie gewesen sein dürfte. Denn: nicht alle sind geflohen oder hatten es auch nur vor. Warum? Auch darauf geben uns all diese Erzählungen keine Antworten.
Da es hier in letzter Zeit etwas ruhiger geworden ist, begeben wir uns auf die Reise in eine Parallelwelt – und das gleich doppelt!
Zum einen ist einwende auf Twitter etwas aktiver, und deshalb gibt es hier unsere Tweets zum heutigen Wahlsonntag im Überblick. Zum anderen sind diese Tweets aus einer alternativen Perspektive geschrieben: Was wäre, wenn über Wahlen in Westdeutschland in der gleichen Logik berichtet würde wie über Wahlen in Ostdeutschland?
Und als Bonus gibt es ein paar Hintergründe zu den Tweets gleich dazu. Denn wir wissen ja: Lustiges wird noch erheiternder, wenn es erklärt wird!
Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. Oder wie wie es in einer Medienwelt mit gerechten parallelen Formulierungen heißen würde:
Der Westen wählt.
Haben wir die Seele des Westens zu wenig beachtet?
Wenn in Ostdeutschland in mehr als einem Bundesland gewählt wird, sind es „Ost-Wahlen“ (beispielhaft: Berliner Morgenpost) Auch die „ostdeutsche Seele“ ist zu einem geflügelten Erkläransatz geworden (beispielhaft: Die Zeit). Die Darstellung des ostdeutschen Mannes war bei uns bereits Thema.
„Die alte Bundesrepublik wählt. Wie viel NSDAP steckt noch in den Parteien?“
Die Partei „Die Linke“ wird die Frage nicht los, wieviel SED noch in ihr stecke (beispielhaft: Deutsche Welle).
„Im Talk mit Carmen Nebel geben Kati Witt, Henry Maske, Wolfgang Lippert und Bill Kaulitz Einblicke in die Lebenswelt der Wessis: Wie weit haben sie sich seit der Wende angepasst? Mit Jogi Löw ist natürlich auch ein Betroffener dabei.“
„Warum wählt der Westen rechts? Da besteht eine direkte Verbindung zum Hausfrauen-Modell der alten Bundesrepublik, das sich natürlich auch jetzt noch in Protestwahlen Luft verschafft.“
Warum Ostdeutschland „anders“ wählt oder mehr Menschen hier rechts denken: Da gibt es viele mehr oder minder plausible Erkläransätze. Legendär ist etwa das gemeinsame Auf-die-Toilette gehen in den Kindergärten der DDR. Oder das fehlende Westfernsehen im „Tal der Ahnungslosen“.
„Anlässlich der Wahlen ist unsere Reporterin extra in die ehemalige Zone gefahren und berichtet: Woher kommt unser Soli? Und geht es den Leuten deshalb wirklich soviel schlechter?“
„Angesichts der zu erwartenden Wahlergebnisse fragt der Kommentar einen überregionalen Zeitschrift: ‚War es ein Fehler, dass wir die Wessis damals reingelassen haben?‘ “
Die Initiative „Wir sind der Osten“ zeigt Menschen, die positiv für Deutschland stehen sollen.
„Durch die West-Wahl droht ein Riss durch das Land. Deshalb meint der Bundespräsident: wir müssen die Lebensleistungen der Menschen aus dem Westen würdigen. Was er damit , meint, bleibt unklar.“
Für Ostdeutsche werden immer wieder „Demokratiedefizite“ festgestellt (beispielhaft: RND). Dass Ostdeutsche Demokratie gut finden, aber Kritik an der bestehenden Form der Demokratie, wird allerdings nicht immer differenziert getrennt.
„So isser, der Wessi: Zu viele Bananen Schuld am Wahlergebnis!“
„Um negativen Folgen der Wahl entgegen zu wirken, betont die Initiative 3te Generation West: ‚Die Kontinuitätserfahrung der Westdeutschen ist auch eine Ressource.‘ “
Die Initiative „3te Generation Ost“ verweist auf die Umbrucherfahrung bzw. Transformationskompetenz der Ostdeutschen als Ressource.
„Jammer-Wessis beschweren sich, dass sie in den Medien zu pauschal und negativ dargestellt werden. Allein schon, dass von einer West-Wahl gesprochen wurde, obwohl die drei Bundesländer gar nicht vergleichbar wären! So würde über den Osten Deutschlands nie gesprochen werden!“
Regelmäßig zu den Gedenktagen am 9. November und 3. Oktober legen sich die Zeitungen ins Zeug – und das von Jahr zu Jahr mehr, was Umfang und Qualität der Beiträge angeht. Aber was steckt eigentlich drin? Hier unser Überblick zum Tag der deutschen Einheit 2020:
Überblick: Zeitungen zum 3. Oktober 2020
Süddeutsche Zeitung
Für die SZ ist 3. Oktober wie schon im letzten Jahr eine „Feiertagsausgabe“ wert. Neben dem kreativsten Titel finden wir hier übrigens auch die langweiligste Karikatur im Konkurrenzfeld.
Die Zeitung nennt es „eine besondere Ausgabe“ und eine Sache ist tatsächlich besonders (aber nicht einmalig, siehe unten): Sie hat nicht nur eine Titelseite, sondern gleich noch eine zweite. In beiden Fällen sind die Feierlichkeiten vom 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag zu sehen. Einmal glückliche Politiker ganz nah, einmal die Totale mit Menschen und schwarz-rot-goldenen Flaggen.
Die FAZ will klotzen: Alles in allem präsentiert sie 34 Beiträge zu einem breiten Themenfeld . Außerdem gibt es bei mehreren Beiträgen Inhalte in Augmented Reality. Das heißt konkret: Smartphone raufhalten und interaktive Bilder oder Videos ansehen. Da kann man es der Zeitung nur ein wenig verübeln, wenn sie auf dem Titel vor allem sich selbst thematisiert (und lobt): „Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.“ Eine zweite Titelseite bietet sie ebenfalls an – man nimmt ja mit, was geht.
Buzzwords: FKK, Sex, Vaterland, Helmut Kohl, Wolf Biermann, Nina Hagen, Todesstreifen, Tal der Ahnungslosen, Staatsdoping, Joachim Gauck, Krippe, Berliner Schloss, Singen
Symbolische Orte: Kohl und Kongo
Statistisches
2 Titelstorys
3 Kommentare
2 Interviews
12 Artikel
1 interaktive Galerie
1 Karikatur
Weitere 13 Texte in einer Beilage
Die Zeit
Die Wochenzeitung stellt den US-Wahlkampf zwischen Trump und Biden groß auf den Titel, die Wiedervereinigung steht deutlich kleiner in der Seitenspalte. Das ist übrigens nicht überall so: In der Zeit im Osten ist die Wiedervereinigung das große Titelthema und enthält dort drei weitere Texte. Diese völlig unterschiedlichen Schwerpunkte der Zeit-Ausgaben sagen wahrscheinlich mehr über den Stand der Einheit als die eigentlichen Inhalte.
Buzzwords: Einigungsvertrag, Identitäten
Symbolischer Ort: Erinnerung
Statistisches
1 bisschen Titel
2 Artikel
1 Interview
Die großen Themen
Einheit — ja, nein, vielleicht?
Das zentrale Thema auf den Titeln ist die „Einheit“. „Endlich vereint“, meint die Süddeutsche. „Nicht immer einig. Aber immer eins“, sagt die FAZ. „Hurra wir müssen uns nicht mehr einig sein!“, ruft die Zeit. Die Welt macht gleich auf Kohl-Fanzine und zitiert ihn mit den Worten „Mit dem heutigen Tage ist das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiedervereint“. Auch bei weiteren Blättern schafft es das Thema auf die Titelblätter: „30 Jahre – sind wir uns einig?“, fragt der Tagesspiegel und „30 Jahre deutsche Einheit – Wir sind eins“, weiß die Berliner Morgenpost.
In den Ausgaben selbst wird die Frage der Einheit aber nicht mehr ganz so zentral verhandelt, kommt aber in verschiedenen Aspekten vor. Im SZ-Leitartikel von Ulrike Nimz etwa heißt es: „Die Andersartigkeit des Ostens, sie ist mit geradezu therapeutischem Eifer beschrieben worden.“
„Wenn Sie einige oder gar alle Fragen mit Ja beantworten können, müssen Sie sich nicht schämen. Es wird die meisten Ostdeutschen nicht wundern, auch nicht den ostdeutschen Autor dieses Textes. ‚Wir‘ im Osten wissen, dass ‚Sie‘ im Westen irritiert sind. Dass Sie dachten, ‚wir‘ alle wären weiter, gleicher.“
Es folgt ein kurzer Abriss der letzten 30 Jahre inklusive der Feststellung: „Streit wird produktiver, wenn er gleichberechtigt geführt wird.“
„Diese offene Debatte vereint uns eher, als dass sie uns spaltet. Aber dieses ‚Jetzt gebt doch endlich mal Ruhe, ihr ewig jammernden, unzufriedenen Ostdeutschen‘, das wird uns nicht heilen.“
„Wer am 3. Oktober Willy Brandts Satz vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, in einer Rede oder einem Leitartikel zitiert, muss 250 Euro Bußgeld wegen Verphrasierung der deutschen Sprache bezahlen. … Nach dreißig Jahren jedenfalls ist die Vereinigung geglückt, an der Einheit wird noch gearbeitet.“
Übereinander sprechen
Überhaupt: Das Sprechen über das Sprechen zieht sich ebenfalls durch die Ausgaben. So widmet Stefan Locke in der FAZ einen ganzen Text der medialen Darstellung von Ostdeutschland. „Wie aus dem Kongo“ heißt er postkolonial eher fragwürdig, aber mit treffenden Beispielen und Feststellungen:
„Die gesamtdeutsche Norm aber bleibt westdeutsch, aus ihr wird das Land beschrieben und kommentiert.“
Ulrike Nimz schreibt in der Süddeutschen: „Bei welcher Gelegenheit ‚die Lebensleistung der Ostdeutschen‘ zur Phrase wurde, lässt sich schwer sagen“ und außerdem meint auch: „Paternalistische Zwischentöne haben das Ost-West-Verhältnis immer wieder strapaziert.“
Zu den westdeutschen Sprachbildern zählt Thomas Oberender in der Zeit auch den Begriff „Mauerfall“: „Mir schien es irgendwann nicht mehr selbstverständlich, so davon zu sprechen, weil dahinter eben auch die Sicht vieler Westdeutscher steht, für die die Mauer tatsächlich irgendwann einfach umfiel – huch!“
Apropos Welt-Chefredakteur: Ulf Poschardt prangert die Dinge an, die aus seiner Sicht öffentlich nicht mehr vorkommen:
„30 Jahre nach der Wiedervereinigung mögen die Mauertoten in Debatten verdrängt oder im postmodernen Allerlei vergessen sein, aber die Erfrage dieser Wiedervereinigung nach dem Verhältnis zu Selbstbestimmung und Freiheit bleibt nur halb beantwortet.“
Freiheit, das ist übrigens das große Thema in dieser Ausgabe Welt.
Ganz neue sprachliche Ansätze liefert der FAZ-Herausgeber Kohler in seinem Kommentar. Mit „real existierendem Föderalismus“ und „der Zukunft zugewandt“ bringt der gebürtige Oberfranke DDR-Versatzstücke unter. Und meint, dass die Linkspartei ähnlich wie die Grünen ins politische System integriert werden könnte.
Wer ist schuld?
Ein weiteres Thema dreht sich darum, ob die Ostdeutschen die Einheit (so) wollten und warum das eigentlich alles so gekommen ist.
In der Welt stellt sich Sven Felix Kellerhoff, leitender Geschichtsredakteur aus Stuttgart, sich den Klagen zur Wiedervereinigung entgegen: Die Ostdeutschen seien gegen ihren Willen oder ohne nach ihren Wünschen gefragt worden zu sein Teil des vereinigten Deutschlands geworden. Dafür zählt er jüngere Publikationen auf von Sascha-Ilko Kowalczuk („Die Übernahme“), Petra Köpping („Integriert erstmal uns!“) und Daniela Dahn („Die Einheit – eine Abrechnung“). Es bleibt aber fraglich, ob Kellerhoff sie tatsächlich gelesen hat – die Veröffentlichungen argumentieren sehr quellennah und bestreiten gar nicht den Willen der Ostdeutschen. Vielmehr zeichnen sie Entwicklungslinien nach, wie sie damals gar nicht vorhergesagt werden konnten. Aber Kellerhoff sind ohnehin andere Dinge wichtiger:
Die DDR so oft im Text nennen, wie möglich. Neben notwendigen historischen Verweisen sind es auch mal regionale Bezüge („Petra Köpping … landete einen Bestseller in der vormaligen DDR“), die Beschreibung einer Person („die schon in der DDR aktive Schriftstellerin Daniela Dahn“) und die Einordnung eines SPD-geführten Brandenburg („bald bürgerte sich für das Land der Spitzname ‚kleine DDR ein‘“).
Einen Grundkurs in politischer Bildung geben. Denn den derzeit murrenden Bürgern aus der damaligen DDR muss man das wohl ganz einfach erklären: „Zum Wesen jeder Demokratie gehört die Mehrheitsentscheidung bei gleichzeitigem Respekt vor der Position der Minderheit. (…) Eine Demokratie stellt die Wünsche der Mehrheit per Abstimmung aller Wahlberechtigten fest. Weil aber so ein Verfahren organisatorisch aufwendig und teuer ist, kann es nur relativ selten umgesetzt werden.“ Aus welchem langweiligen Lehrbuch Kellerhoff abgeschrieben hat, legt er allerdings nicht offen.
Den Ossis die Schuld geben. Also zitiert Kellerhoff die Zahlen aus den Wahlen und Umfragen im Jahr 1990, zeigt die breite Unterstützung der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung und schließt mit den Worten: „Eigentlich beschimpfen jene Ostdeutsche, die heute die Wiedervereinigung kritisieren, also ihre eigenen unrealistischen Vorstellungen.“ Den Satz mit den dümmsten Kälbern musste er sich dann doch verkneifen. Schließlich hätte er dann Bertolt Brecht zitiert (DDR!) und er selbst wäre dann zum Metzger geworden und ach nein, das kommt nicht gut.
„Gerade in der DDR war Karl Marx in Vergessenheit geraten, weil man dort im Irrtum lebte, sein Hauptwerk heiße ‚Der Sozialismus‘. Andererseits hätte ihnen Karl Marx auch nicht viel geholfen, um die spürbare Missachtung und Selbstgerechtigkeit zu verwinden, die nicht nur alle ökonomischen Segnungen begleitete, sondern auch den Befund, an der DDR sei schlechterdings nichts erhaltenswert und nichts, wovon etwas zu lernen gewesen wäre. Jahre danach erst kam man beispielsweise im Westen darauf, was von den ostdeutschen Schulen hätte gelernt werden können. Oder ganz allgemein: von der Erfahrung, in einem solchen Land gelebt zu haben.“
Symbolische Orte
Die beiden Beiträge in der Süddeutschen und in der Welt zu symbolischen Orten zeigen schließlich auf, dass es nicht allzu viel bringt, an einen Ort zu fahren, an dem man Deutschland angeblich verstehen könnte. So lernt man in der Süddeutschen, dass der Verkehr am Rosenthaler Platz stark zugenommen hat. Von den acht Porträtierten lebt übrigens nur ein Mann schon länger als 30 Jahre hier.
Und über den geografischen Mittelpunkt Deutschlands erfährt man in der Welt: „Er liegt in Thüringen, mitten im Nichts.“ In dem Text gibt es dann doch mehr als Nichts. Aber auch das Geständnis, dass insgesamt acht Mittelpunkte von Deutschland existieren. Der Erkenntnisgewinn ist dann recht überschaubar und der Artikel endet damit, dass eine Frau weint, als sie von ihrem Besuch 1986 im Westen erzählt. Weil sie damals glaubte, dass nicht noch einmal sehen zu können. Parfüm, Früchte und Farben nennt sie. Und Türen, die von alleine aufgingen: „Mein Onkel öffnete das Garagentor mit einer Fernbedienung.“ Da sind sie wieder: Ostdeutsche, wie sie sich Westdeutsche schön vorstellen können.
Bilder
Man kann es nicht anders sagen: Die Bildsprache in den Zeitungen ist langweilig. Die Politikprominenz am Eineheitstag 1990 kommt etwa dreimal vor — bei der Welt auf dem Titel, bei der FAZ auf dem zweiten Titel und bei der Zeit im Bereich Wissen:
Das Titelmotiv der Zeit ist das gleiche, das auch das Neue Deutschland für seine aktuelle Ausgabe benutzt:
Unabwendbar sind offenbar Vorher-Nacher-Bildvergleiche. Es gibt sie bei der Zeit und bei der FAZ. Dort zumindest aufgehübscht mit einer etwas umständlichen Lösung in Augmented Reality.
Und nicht einmal der Verzicht auf Bilder kann helfen: Die FAZ macht es, die Berliner Zeitung ebenfalls — dort aber deutlich weißer:
Und nun?
Die Zeitungen haben den Tag der Deutschen Einheit 2020 genutzt, um uns mit vielen Texten und langweiligen Bildern zuzuschütten. Sie alle versuchen, zu bilanzieren, zu erklären, zu verstehen. Dabei muss man festhalten, dass kaum essenziell neue Erkenntnisse kommen — aber wie auch? Gerade in den letzten fünf Jahren ist ja bereits sehr viel gesagt worden — und gleichzeitig sind die Redaktionen feinfühliger, diverser geworden. Eine Banane auf dem Titel der FAZ, die wir noch 2015 beobachten konnten, gibt es da zum Glück nicht mehr.
Gleichzeitig fehlt der Mut zu vollkommen neuen Ansätzen. Die Diversität in den Redaktionen mag da noch zu gering sein, aber Fragen und Themen gäbe es: Warum geht es etwa bei den Rückblicken fast ausschließlich um die DDR und ihr Erbe? Was ist denn mit der alten Bundesrepublik? Sie bleibt so konturlos, als wäre sie mit der Einheit untergegangen und nicht die DDR. Oder ist der Kohl’sche Atem der Geschichte noch zu deutlich im Nacken der Redaktionen zu spüren?
Seien wir also gespannt, welche Änderungen die nächsten Jahre bringen!
Wo wird es Endlager für Atommüll in Deutschland geben? Heute hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Zwischenbericht vorgelegt. Wie zu erwarten war, spielt in den Medienberichten hierzu der Standort Gorleben eine prominente Rolle. Aber auch Ostdeutschland kommt prominenter vor als gedacht. Und gleichzeitig wird Morsleben prominent ignoriert. Doch machen wir uns zunächst auf die Suche, wo Endlager in Deutschland eigentlich möglich sind.
„In Gorleben wird es kein Endlager für Atommüll geben, auch das Ruhrgebiet scheidet aus. In Frage kommt dagegen Bayern – aber auch große Teile Ostdeutschlands.“
Auffällig: Neben einer Stadt und einer Bergbauregion werden hier offenbar zwei Bundesländer genannt: Bayern und Ostdeutschland. Aber zeigt denn der Artikel detaillierter auf, worum es sich bei den „großen Teilen Ostdeutschlands“ handelt? Nicht wirklich:
„Die BGE hat neben Bayern andere Salzstöcke in Niedersachsen wie auch Gebiete in Baden-Württemberg sowie große Teile Ostdeutschlands auf der Liste. Das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“
Heißt also: „Große Teile Ostdeutschlands“ umfassen nicht Mecklenburg-Vorpommern.
Aber vielleicht kann uns die Meldung von n‑tv konkretere Informationen geben?
„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern. Das Saarland, Teile von Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“
„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern.“
Verdammt, auch nicht… Wie ist es mit dir, Deutsche Welle?
„Salzstöcke in Niedersachsen gelten weiter als grundsätzlich geeignet, ebenso Granitschichten in Bayern — das sich politisch zuvor gegen Atommüll verweigert hatte. Auch in Baden-Württemberg und weiten Teilen Ostdeutschlands finden sich geeignete Gebiete. Weil der Atommüll nicht in Erdbebenregionen lagern soll, scheiden das Ruhrgebiet und das Saarland mit ihren zahlreichen alten Bergwerken aus.“
„Die Teilgebiete finden sich deutschlandweit unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und in ostdeutschen Ländern wieder.“
Also auch nicht. Tagesschau, du informierst uns doch immer differenziert, oder?
„Diese sogenannten Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern.“
Was steckt dahinter?
Halten wir fest: Das bringt alles nichts. Schließlich zeigt ein genauer Blick, dass sich die oben genannten Artikel auf eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) mit eben jener Formulierung stützen. Zwangsläufig ist sie nicht, wenn man auf die heute veröffentlichte Karte schaut.
„Die Teilgebiete verteilen sich auf alle Bundesländer mit Ausnahme des Saarlands.“
Liest man diese Pressemeldung ebenso wie den kompletten Bericht, kann man übrigens feststellen: Der Begriff „Ostdeutschland“ kommt dort gar nicht vor. Die BGE beschreibt die Teilgebiete für mögliche Endlager stattdessen ganz nüchtern anhand der Bundesländer. Der Blick auf die „ostdeutschen Länder“ ist also in diesem Fall eine mediale Konstruktion – von der dpa ins Leben gerufen und danach unhinterfragt weitergetragen.
In den letzten Jahrzehnten wurde so häufig von „Ostdeutschland“ gesprochen, dass es leicht fällt, hier ein homogenes Gebiet auszumachen. Ganz im Gegensatz zu Nord- oder Süddeutschland – hier stehen konkrete Regionen und spezifische Bundesländer im Fokus. Dass dies etwa auch für Thüringen und Brandenburg gelten könnte, kann der mediale Blick offenbar nicht sehen.
Ost-West-Debatte beim Atommüll
Dabei beschränkt sich der Bezug auf Ostdeutschland beim Thema Atommüll nicht nur auf bloße Kartenbeschreibungen. So heißt es in einem Kommentar im Berliner Tagesspiegel:
„Wenn in einem Jahr die Bundestagswahl ansteht, könnte die Vorauswahl in der Endlagersuche ein heißes Wahlkampfthema werden. (…) Da ist Bayern, wo sich CSU und Freie Wähler 2018 in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, dass der Freistaat kein geeigneter Standort sei. (…) Dann sind da Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die sich immer wieder frei nach dem Motto äußern: „Überall, nur nicht hier“. Und aus dem Osten ist auch mal zu hören, man wolle kein Endlager für westdeutschen Atommüll bauen.“
Und schwupps, sind wir mittendrin in der Ost-West-Debatte. Da reicht offenbar auch ein ungefähres Munkeln („ist auch mal zu hören“), um auf die gleiche Stufe wie ein Koalitionsvertrag gestellt zu werden. Dabei wäre ein anderer Hinweis deutlich treffender gewesen: Westdeutscher Atommüll im Osten ist Realität.
Was wird nicht thematisiert?
In Sachsen-Anhalt befindet sich das Endlager Morsleben. Von 1971 bis 1991 lagerte die DDR hier radioaktive Abfälle ein. Aber auch danach ging es weiter – und das in deutlich größerem Umfang, wie der Spiegel 2019 berichtete:
„Während das nun wiedervereinigte Deutschland andere Industrieanlagen der DDR als hoffnungslos überaltert und nicht wettbewerbsfähig abwickelte, sollte das Atommüll-Endlager bestehen bleiben. Die DDR-Betriebserlaubnis galt weiterhin. Zwischen 1994 und 1998 lagerte die Bundesrepublik in nur vier Jahren deutlich mehr ein als die DDR in 20 Jahren, und es sollte ursprünglich noch viel mehr werden.“
Dann stoppte ein Gericht die weitere Einlagerung, seit 2005 läuft ein Verfahren zur Stilllegung (weitere Informationen bei der BGE).
Beim aktuellen Bericht der BGE gehört Morsleben zu den ausgeschlossenen Gebieten. Im Gegensatz zum 120 Kilometer entfernten Gorleben und seiner Protestkultur stand dieses Lager kaum im Zentrum der Aufmerksamkeit – vor allem nicht in einer gesamt- oder gar westdeutschen Perspektive.
Dabei hätte es sich jetzt angeboten, von Morsleben zu sprechen. Nicht nur, um vorhandene Atom-Endlager in Deutschland zu thematisieren. Sondern auch, damit nicht nur von „ostdeutschen Ländern“ einerseits und ostdeutschen Befindlichkeiten andererseits die Rede ist.
Die munteren DDR-Vergleiche waren eine fruchtbare Serie auf diesem Blog. Doch seit einiger Zeit schien es, als hätten sie sich erledigt. Endlich — hatten die Redaktionen wohl gemerkt, dass die Welten damals und heute komplexer waren und sind. Und womöglich führte auch die Kritik nach Pegida, AfD und Co. zu einem Einsehen: So plump können wir mit dem Osten nicht mehr umgehen.
Doch weit gefehlt – es wird wieder lustvoll verglichen! Aber wieso der neue Aufbruch in eine neue Ära der Assoziationen? Schauen wir sie uns doch an!
DDR-Vergleich #32 – Corona-Maßnahmen und Corona-Kritik
Arnold Vaatz, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, veröffentlichte Anfang August einen Gastbeitrag beim Blog „Tichys Einblick“. Darin meint er: „Von Monat zu Monat lernt man mehr von der DDR.“ Was das aus seiner Sicht bedeutet:
„Los ging es mit Einführung der Maskenpflicht, nachdem es lange hieß, Masken nützten nichts – so lange es keine zu kaufen gab. In der DDR streute die Partei: Bananen seien gar nicht so gesund.“
„Die dreiste Kleinrechnung der Teilnehmerzahlen der Demo vom 1. August durch die Berliner Polizei entspricht in etwa dem Geschwätz von der „Zusammenrottung einiger weniger Rowdys“, mit der die DDR-Medien anfangs die Demonstrationen im Herbst 1989 kleinrechneten.“
„Der gefährlichere Versuch, die Straßen leerzukriegen, war damals die Unterstellung, die Demonstranten handelten im Auftrag von CIA und BND. Der heutige Versuch, die Straßen leerzubekommen, besteht in der Warnung: Pass auf, mit wem du demonstrierst.“
„Die abwegigen Vergleiche des stellvertretenden Unions-Fraktionsvorsitzenden werfen ein Schlaglicht darauf, wie manch einstiger DDR-Bürgerrechtler sich heute mitunter schwer damit tut, sich nach rechts abzugrenzen: Eine vermutete ‚Mainstream‘-Meinung wird mit der verordneten Meinung in der DDR verglichen und Sympathie für die vermeintliche Gegenposition bekundet.“
„Wenn er nun DDR-Vergleiche zieht, verharmlost er nicht nur das Unrecht, das ihm und vielen anderen angetan wurde. Er verleiht der Erzählung von Pegida, AfD und Neuen Rechten auch neues Gewicht. [… ] Dabei ist Widerspruch wichtig, vor allem gegen die Behauptung, es herrschten heute diktaturähnliche Verhältnisse. Das setzt aber voraus, dass sich [der aus Baden-Württemberg stammende CDU-Bundestagsabgeordnete Axel] Fischer und andere westdeutsche Politiker mit der Geschichte und gesellschaftlichen Dynamiken auseinandersetzen. Leider ist das auch 30 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch nicht selbstverständlich.“
DDR-Vergleich #33 – Gendergerechte Sprache
Ende August wurde die Schriftstellerin Monika Maron vom Spiegel interviewt. Zum Aufmacher wurde ihre Kritik an gendergerechter Sprache gemacht, die sie an die DDR erinnere. Es rege sie auf, wenn Sprachregelungen wie gendergerechte Formulierungen von Behörden, Medien und Unis verordnet würden.
Das ist nicht das erste Mal, dass sie geschlechtergerechte Sprache kritisiert: Beim Aufruf „Schluss mit Gender-Unfug!“ gehörte sie 2019 zu den Erstunterzeichnern (sic!).
In einem Text für die NZZ ordnet sie ihre Sprach-Kritik außerdem in einen anderen Zusammenhang ein: „Schon die Frage, ob der Klimawandel wirklich nur menschengemacht ist oder wie viel Einwanderung eine Gesellschaft verträgt, ohne schwerwiegenden Schaden zu nehmen, oder ob dieses Genderkauderwelsch wirklich den Frauen nutzt, kann ausreichen, um rechter Gesinnungsart verdächtigt zu werden.“ In dem Beitrag aus dem Jahr 2019 geht sie außerdem detailliert auf Vergleiche mit der DDR ein:
„Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, dass ich juristisch belangt werden könnte.
Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.
Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder sogar zu zerstören.“
Von Monika Maron ist kürzlich der Roman „Artur Lanz“ erschienen.
Man mag einwenden, der Text sei nicht ernst gemeint. Vielleicht, weil schon der Beginn reichlich bekloppt ist:
„Seid bereit, immer bereit: Coca-Cola und andere Konzerne werben seit Corona, als wären ihre Chefs Thälmann-Pioniere und die Slogans im Politbüro erdacht worden. Eine fiktive Verschwörungstheorie mit ganz realen Folgen.“
Vielleicht sollte auch stutzig machen, dass der Text als Glosse gekennzeichnet ist.
Auf der inhaltlichen Ebene fällt auf: Es geht um Verbote und Vorschriften – offenbar ein geeignetes Futter für Vorwürfe aus Sicht derjenigen, die diese Vergleiche ziehen. Nur: Bei näherer Betrachtung ist nicht viel an diesen Vorwürfen dran. Es handelt sich um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die weit weg sind von staatlich verordneter Zensur und den Maßnahmen der Stasi.
Es scheint, die DDR-Vergleiche kommen nicht mehr rein zufällig: Sie sind Teil einer politischen Agenda. Und wie schon Cato durch ständige Wiederholung darauf abzielte, dass Rom Karthago erobern solle, so sollen uns die wiederkehrenden DDR-Vergleiche glauben lassen, das sie stimmen. Umso wichtiger ist es, dass sie fundiert eingeordnet werden. Und dass Medien kritisch und differenziert die entsprechenden Debatten begleiten.
Am 20. Juli hielten Antje Vollmer und Philipp von Schulthess, Enkel von Stauffenberg, eine Rede zum Hitler-Attentat 1944. Ihr Kniff: Sie deuten dieses Attentat als einen „Tag der Befreiung“. Sie stellen diese Deutung in eine Reihe mit einem anderen „Tag der Befreiung“, dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie nehmen dabei Bezug auf die Weizsäcker-Rede von 1985:
Vor 35 Jahren hat Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Interpretation geprägt, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Das war damals ein mentaler Durchbruch, denn viele hatten bis dahin den 8. Mai nur als Tag der Niederlage begriffen.
Interessant sind dabei zwei Dinge: Das Wort „viele“ ist ziemlich unpräzise und die Sicht der DDR – Weizsäcker vertrat ja die BRD – kommt nicht vor. Holen wir das doch nach.
Dieses Verständnis ist übrigens heute noch problemlos sagbar – so war eine Rede der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 2013 überschrieben mit „Der 8. Mai war nicht für alle Deutschen ein Tag der Befreiung“. Der Grund: Die deutsche Teilung und das politische System der DDR. Das sind die gleichen Aspekte, die auch im alten Westdeutschland als Begründung für das Sprechen von der „Niederlage“ angeführt wurden. Doch verharmlost das nicht die Verbrechen Deutschlands während der NS-Zeit? Öffentliche Debatten dazu gibt es nicht – der westdeutsche Blick gilt offenbar immer noch als legitim.
Dass das höchste Staatsamt der Bundesrepublik erst 35 Jahre nach der DDR von der Niederlage spricht, kann man also als „Interpretation prägen“ bezeichnen, wie es Antje Vollmer und Philipp von Schulthess tun. Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen. Eine ostdeutsche etwa und es wie Christoph Dieckmann formulieren: „Endlich gesteht’s der Westen!“
Es ist ein Trend, der zum Glück zurückgegangen ist: Menschen mit „DDR-Schauspieler“, „DDR-Autorin“ oder einem ähnlichen Etikett zu bezeichnen. Bei den Nachrufen auf Achim Mentzel haben wir gesehen, wie viel differenzierter das mittlerweile geworden ist. Umso mehr fällt auf, wenn es dann doch wieder passiert. Und wenn das Etikett immer weniger passt. Wie bei der Schauspielerin Corinna Harfouch: Sie wurde nun vom Nordkurier als „DDR-Star“ bezeichnet. Wie kommt das?
36 Jahre alt war Corinna Harfouch im Jahr 1989. Ihr Werdegang in der DDR bis dahin: Von 1978 bis 1981 studierte sie Schauspiel, sie spielte unter Heiner Müller an der Volksbühne und hatte 1988 die erste Titelrolle in einem Spielfilm mit dem Titel „Die Schauspielerin“.
Ihre DDR-Karriere dauerte also elf Jahre — und das auch nur, wenn man ihre Ausbildungszeit mit einrechnet. Acht Jahre sind es, wenn man die Bezeichnung „Schauspielerin“ erst ab dem Abschluss des Studiums ansetzen möchte.
Karriere und Auszeichnungen nach der Wende
Nach 1989 setzte sie Karriere in Gesamtdeutschland fort: Sie spielte Theater in Berlin, 1997 wurde sie zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Auch ihr filmisches Schaffen wurde ausgezeichnet. 2001 erhielt sie den Deutschen Fernsehpreis für die Darstellung der „Vera Brühne“. In dem Doku-Spielfilm ging es um einen realen Kriminalfall am Starnberger See in den 1960er Jahren, im tiefsten Westdeutschland also. In „Der Untergang“ von 2004 spielte sie Magda Goebbels. Der Film um die letzten Tage im Führerbunker — einem grundlegend deutschen Thema also — war für den Oscar nominiert.
Neben vielen weiteren Filmen spielte sie auch in den Verfilmungen von Bibi Blocksberg (2002 und 2004), einer wohl ur-westdeutschen Hörspielreihe.
Nun wurde verkündet, dass Corinna Harfouch neue Kommissarin im „Tatort“ werden wird, der großen Krimi-Institution aus der alten Bundesrepublik.
Corinna Harfouch als „DDR-Star“
Zur Erinnerung: In eben jener Meldung zu ihrer neuen Rolle bezeichnet der Nordkurier Corinna Harfouch als „DDR-Star“.
30 Jahre im vereinten Deutschland mit ausgezeichneten Rollen zu gesamt- und westdeutsche Themen reichen offenbar nicht aus, um gegen höchstens elf Schauspieljahre in der DDR anzukommen. Zumindest für den Nordkurier ist dies offenbar die entscheidende Lebensphase der künftigen Tatort-Kommissarin.
Wenden wir
uns einmal einem Blick auf Ostdeutschland zu, bei dem zunächst gar nicht klar
ist, dass er ein zutiefst westdeutscher Blick ist. Und gerade durch diese
Unsichtbarkeit gefährlich sein kann. Es geht um die „Mitte“.
Gerade bei den Versuchen zur Regierungsbildung in Thüringen wird immer wieder davon gesprochen: von einer „Politik der Mitte“ mit einem „Kandidaten der Mitte“ für eine „Mitte der Gesellschaft“. Auch die Medien sind mittendrin in der Rhetorik der Politik und wiederholen die Phrasen über eine „Mitte“, anstatt zu schauen: Stimmt das denn? Und was hat das mit Ostdeutschland zu tun?
Die „Mitte“ in Westdeutschland
Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) schrieb Chefredakteur Matthias Koch einen Beitrag rund um die „Mitte“ in Deutschland. Tatsächlich aber kommen vor allem Anekdoten vor, die aus westdeutschen Erfahrungen stammen:
Jahrzehntelang pflegte Deutschland einen Mitte-Kult. Willy Brandt gab die launige Parole aus, die SPD müsse die „Partei des donnernden Sowohl-als-auch“ sein. Die SPD wollte nur ja nicht als zu links, die CDU nur ja nicht als zu rechts erscheinen. Und den meisten Szenenapplaus bekam, wer elegant ins jeweils andere Lager hinüberzugreifen verstand.
CDU und SPD: In Westdeutschland konnten die sogenannten Volksparteien nicht nur große Stimmen auf sich vereinen, sie fielen auch in Zeiten des wirtschaftlichen und politischen Erfolgs der BRD. Wie selbstverständlich diese beiden Parteien mit dem Begriff der „Mitte“ verknüpft sind, schrieb die taz im letzten Jahr: „Lediglich Union und SPD müssen sich um die Mitte streiten“, setzt aber auch hinzu: „Eine Partei, die von sich selbst behauptet, die Mitte abzubilden, lohnt es sich infrage zu stellen.“
Indes, die Begrifflichkeit kann bereits auf eine längere Karriere zurückblicken. So schrieb die Zeit 1976: „Die Bundesrepublik läßt sich nur aus der Mitte regieren“. 2001 blickte der Spiegel zurück: „Politik der Mitte – das war für die Sattelzeit der bundesdeutschen Gesellschaft (…) nicht primär eine Losung veränderungs- und experimentierängstlicher Spießer, sondern erfahrungsgesättigte historische Konsequenz aus den europäischen Bürgerkriegen und Pathologien der Extreme in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.“
Auch wenn eine ostdeutsche Kanzlerin den Begriff zum Kern ihres politischen Anspruchs machte: „Die Politik der Mitte“ ist vor allem ein starkes Element der westdeutschen Geschichte.
Die „Mitte“ in Ostdeutschland
Ganz anders sieht das mit Blick auf das heutige Ostdeutschland aus: Die SED regierte 40 Jahre ohne Wahl. Ihr Alleinvertretungsanspruch war in die Verfassung geschrieben. Quasi eine festgeschriebene Partei der Mitte, wenn man so will. Gleichzeitig aber driftete die Realität davon, der wirtschaftliche und gefühlte Abstand zum Westen vergrößerte sich. Von einer „Mitte“ war aber keine Rede, eher wovon man sich abgrenzen wollte: Dem „Klassenfeind“. Der kam 1989/90 dann auch in die DDR.
Der bereits erwähnte
RND-Text setzt eine Rede von Helmut Kohl
am 20.02.1990 in Erfurt als Ankerpunkt, als erste ostdeutsche Erfahrung mit der
westdeutschen „Mitte“:
Kohls Kritiker, klar, tippten sich damals einmal mehr an den Kopf. Der Kanzler, sagten sie, fahre jetzt durch Ostdeutschland und mache den Menschen unhaltbare Versprechen. Dabei wisse Kohl ja selbst nicht genau, wie dieses oder jenes geregelt werden könne. […] Dennoch lag Kohl goldrichtig
Man könnte
auch sagen: Kohl führte mit unhaltbaren Versprechungen die Politik der SED
weiter.
Je nach Blickwinkel liegen SED und CDU ohnehin nicht weit auseinander. Ja, in ihrem Selbstverständnis war die SED sozialistisch, also „links“ nach vorherrschender Deutung. Dazu passt, dass die Rechtsnachfolgerin der Partei „Die Linke“ heißt. Andererseits stellte Linke-Politikerin Halina Wawzyniak 2017 fest: „Im Kern war die SED eine rechte Partei. Autoritär, nationenbezogen, ausgrenzend von allem was nicht ‚normal‘ war.“ Und: Auch die CDU kann aufgrund ihrer Mitglieder ein Stück weit als SED-Nachfolgepartei gesehen werden. Im Osten Deutschlands ist und war sie häufig Regierungspartei, in Thüringen etwa durchgängig bis 2014.
Mit einer Traditionslinie von einer sozialistischen Einheitpartei sowohl zu einer christlich-demokratischen als auch zu einer linken Partei muss die Definition einer „Mitte“ in Ostdeutschland deutlich anders als in Westdeutschland vonstatten gehen. Man muss sich vielmehr fragen: Passt dieses Modell hier überhaupt?
Was ist diese „Mitte“ überhaupt?
Zugegeben: Wenn es um die Frage der „politischen Mitte“ geht, könnte man sich den differenzierten Blick auf Ost und West komplett schenken. Schließlich ist das Hufeisenschema – eine der Kerntheorien hinter dem Links-Rechts-Mitte-Spektrum – alles andere als differenziert. n‑tv.de verweist darauf, dass das Modell als überholt und zu eindimensional gelte, um die politische Realität zu beschreiben. Im Beitrag kommt auch Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Hajo Funke von der Freien Universität Berlin zu Wort:
„In Deutschland ist [die Hufeisentheorie] unter anderem verbunden mit dem rechtskonservativen Theoretiker Eckhard Jesse, der aus einem Kalten-Kriegs-Verständnis der 80er- und frühen 90er-Jahre heraus argumentiert und den Rechtsextremismus wie auch die AfD relativiert. Dieses Konzept tut so, als sei es ganz neutral, tatsächlich richtet es sich aber vor allem gegen die Linke. Es kann die Unterschiede zwischen einer pragmatischen Linken, einer extremen Linken und einer gewaltbereiten Linken nicht erfassen.“
Deutlich werden also
zwei Dinge: Das Hufeisenmodell und damit die Festlegung einer wie auch immer
gearteten Mitte sind rechtskonservative Konzepte. Sie sind aber vor allem auch westdeutsche
Erklärmodelle aus dem Kalten Krieg.
Die „Mitte“ ist also ein
Begriff, der eine westdeutsche Normalität beschreibt. Der Osten Deutschlands muss
so zwangsläufig als Abweichung auftauchen. Gerade bei den aktuellen Entwicklungen
in Thüringen zeigt sich aber auch, welche Folgen es haben kann, wenn
ausschließlich eine westdeutsche Erklärungsfolie angelegt wird: Sie macht
die Akteur*innen blind für all die Dinge, die in dieser Folie nicht vorgesehen sind.
Etwa, wenn sie eine Mitte suchen, wo es sie nicht gibt. Und die Mitte nicht
dort sehen, wo sie vorhanden ist.
So lange Medien und Politik von einer „Mitte“ sprechen, die in den verschiedenen Teilen von Deutschland unterschiedlich gilt, stecken Argumentationen und Deutungen im Kalten Krieg fest.
Welch erfrischend neue Blickwinkel möglich sind, wenn man sich vom festgefahrenen Ballast löst, zeigt beispielsweise Martin Machowecz, Leiter des Leipziger Büros der Zeit. Er twitterte am 14. Februar mit Blick auf eine Umfrage zur Hamburger Bürgerschaftswahl:
Lässt man sich auf die Idee ein, dass SPD und Linke in Thüringen die Rollen getauscht haben, und darauf, dass im Osten die AfD die Rolle der Grünen im Westen als zweite Volkspartei übernommen hat, sind das ansonsten exakt die #Thüringen-Zahlen — so verrückt es klingt https://t.co/gNaMJ8PvsZ