Diskursindustrie, ostdeutsche Stimmen und der Wessi der Woche

Diskursindustrie, ostdeutsche Stimmen und der Wessi der Woche

Frisch aus den Medien: Aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit. Und ein Spiegel-Redakteur lässt voll den Wessi raushängen.

Diskursindustrie

Die Historikerin Christina Morina sagt im Interview mit dem Spiegel, warum sie die AfD-Ergebnisse in ostdeutschen Bundesländern nicht nur mit Rassismus, Trotz und Frust erklärt. Sie bezieht sich auf die Forderungen der oppositionellen Gruppen 1989 — diese gingen für Basisdemokratie und echte Bürgerbeteiligung auf die Straße. Dies sei aber nie eingelöst worden:

Die repräsentative Parteiendemokratie der Bundesrepublik steht sowohl im Widerspruch zum autoritären »Volksdemokratie«-Postulat der SED als auch zur Basisdemokratie, von der 1989 viele träumten. Die AfD ist die derzeit einzige größere Partei, die sich als Anwältin des Volkes und mehr direkter Demokratie inszeniert, auch wenn sie in Wahrheit eine autoritär-völkische Ordnung anstrebt.

Auch kritisiert Morina, wie in den Medien mit der Ost-West-Debatte umgehen und spricht von einer „Diskursindustrie“:

Problematisch sind die Pauschalisierungen und die abgrenzende Art, in der seit Jahren diskutiert wird — zuletzt etwa die Thesen des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann, der den Osten für eine Erfindung des Westens hält. Es gibt inzwischen eine Diskursindustrie, die von der Ossi-Wessi-Zuspitzung sehr gut lebt. Die Realität ist vielfältiger: Die Perspektive auf Ostdeutschland ist nicht mehr so dominant westdeutsch wie noch vor einigen Jahren, und gerade in den Institutionen der Bundespolitik sind Ostdeutsche leicht überrepräsentiert. Wir sollten endlich andere Fragen stellen — etwa, welche Verantwortung auch den Ostdeutschen zufällt, insbesondere denen in Führungspositionen. … Es ist erklärungsbedürftig, dass die neuen Bundesländer ausgerechnet in jenen Jahren zum demokratischen Problemfall wurden, in denen mit Angela Merkel und Joachim Gauck zwei Ostdeutsche an der Spitze des Staates standen. Wieso ist es der AfD in dieser Zeit gelungen, sich zu etablieren? Und warum hat die Kanzlerin erst zum Ende ihrer Amtszeit ihre Herkunft und die besondere demokratiepolitische Aufgabe im Osten öffentlich thematisiert?

Schließlich wirbt sie dafür, auch die Erfahrungen in Westdeutschland ab 1990 explizit in den Blick zu nehmen:

Die Westdeutschen mussten sich von der alten Bundesrepublik verabschieden, sie erlebten 1989/90 auch einen tiefen Einschnitt, was noch viel zu wenig betrachtet wird. Der Verlust von Bonn als Hauptstadt etwa hat viele Menschen beschäftigt, das ist gut belegt. Auch die Belastung des Sozialstaats infolge der Einheit oder die neue Rolle Deutschlands in der Welt waren riesige Herausforderungen, haben viele Gewissheiten erschüttert. … Natürlich konnte der Westen all das besser verarbeiten, das war eine andere Dimension als die massive Transformation im Osten. Aber wer Anerkennung für die ostdeutschen Perspektiven und Probleme fordert, muss auch die Herausforderungen auf der anderen Seite wahrnehmen.

Das hatten wir hier bereits im letzten Jahr als WestdeutschAwareness angesprochen.

Ostdeutsche blicken auf Ostdeutschland

Zwei Beiträge machen durch ihre unterschiedlichen Ansätze und Beurteilungen deutlich, wie gewinnbringend es ist, wenn sich verschiedene Stimmen aus dem Osten Deutschlands in die Debatten über Ostdeutschland einbringen:

Im radioeins- und Freitag-Salon kann man ein einstündiges Gespräch mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk nachhören. Er streift viele Aspekte über Ostdeutschland, kritisiert die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann und verteidigt den Wert der Freiheit.

Auf der ARD läuft heute die Dokumentation „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“ von Jessy Wellmer und Dominic Egizzi. Der Film bringt viele verschiedene Stimmen, statistische Daten und Umfrageergebnisse zusammen und zeichnet so ein durchaus komplexes Bild. Die Dokumentation ist bereits in der ARD-Mediathek verfügbar.

In beiden Fällen fehlen aber wichtige Aspekte: Die ostdeutsche Gesellschaft wird nur als weiße Mehrheitsgesellschaft sichtbar, Ostdeutsche of Color sind hier beispielsweise unsichtbar.

Der Wessi der Woche

Begleitet wird die ARD-Dokumentation von einer breiten Aufmerksamkeit anderer Medien. Die Dokumentation wird dabei insgesamt wohlwollend besprochen, den Vogel schießt aber der Spiegel-Beitrag von Christian Buß ab. Bereits Überschrift und Teaser zeigen die von Christina Morina kritisierte „Diskursindustrie“ in Reinform. Spoiler: Im Text selbst wird es nicht besser.

Hör mal, wer da jammert! Für »Hört uns zu!« kabbelt sich Jessy Wellmer mit Ossis, die sich von Wessis gedemütigt fühlen. Eine ARD-Reportage, in der sich die Recherche im Osten mal nicht wie eine Strafexpedition anfühlt – klasse.

Also lieber Christian Buß, nochmal zum mitschreiben:

  • „Jammer-Ossi“, echt? Sie empfinden die Hinweise eines Berufstätigen als Jammerei, wenn er auf das Lohngefälle zwischen West und Ost aufmerksam macht? Apropos Gefälle: In Ostdeutschland verkauft der Spiegel nur 4% seiner Gesamtauflage. Könnte da nicht auch ein Verlag ins jammern kommen?
  • Jessy Wellmer „kabbelt“ sich? Ich kann mir nicht erschließen, warum Gespräche auf Augenhöhe derart verniedlicht werden. Wäre es erst durch die Teilnahme Westdeutscher keine lustige Kabbelei mehr?
  • Ach ja, die „Strafexpedition“ im Osten. Leider war das zu lange gängige Praxis: Bei Ereignissen in ostdeutschen Bundesländern schickten westdeutsche Medien ihre Journalist*innen schnell dorthin, sie berichteten und zogen wieder ab. Der Begriff weckt aber auch Erinnerungen an die sogenannte „Buschzulage“, die westdeutsche Beamte in Ostdeutschland erhielten. Alles irgendwie Zwang im Ausland, oder?

Jammer-Ossis, die sich kabbeln und die man meist per Strafexpedition beobachten müsse. So schaut also 2023 ein westdeutscher Journalist auf eine gesellschaftliche Debatte. So isser, der Wessi.

Ost-Eliten, Ostdeutsche als Vorbild und migrantische Wendeerfahrungen

Frisch aus den Medien: Drei aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit.

Weiter wenig Ost-Eliten

Der Bund hat einen neuen „Elitenmonitor“ veröffentlicht. Er zeigt: Es gibt kaum Ostdeutsche in den Eliten. Die Tagesschau berichtet:

So beträgt der ​​Anteil gebürtiger Ostdeutscher an der Gesamtbevölkerung — wenn man Berlin als Geburtsort einrechnet — rund 20 Prozent, in den Eliten aber nur 12,2 Prozent. Am höchsten ist der Wert noch in der Politik, wo es 20,9 Prozent sind. Doch schon im Bereich Verwaltung finden sich nur 14 Prozent Ostdeutsche in Spitzenpositionen. In den Medien und der Wissenschaft sind es sogar jeweils nur rund 8 Prozent, in der Wissenschaft 4,3 Prozent. „Frappierend“ nannte [Ostbeauftragter Carsten Schneider] den Wert für die Justiz: Er betrug 2,1 Prozent.

[Co-Autorin Astrid Lorenz] sah auch eine Verantwortung bei den Ostdeutschen selbst. „Es war ein gewünschter Elitenwechsel“, sagt sie über die Wende. Die Menschen in der DDR hätten sich von ihrem System befreien wollen. Auch seien Ostdeutsche als Teil der eigenen Landespolitik selbst für viele Karrierewege — etwa in der Wissenschaft — verantwortlich gewesen.

Lorenz’ Handlungsempfehlungen richteten sich allerdings vor allem auf jüngere Generationen: So sollten heutige ostdeutsche Studierende gezielter gefördert werden. Auch müsse man sie ermuntern, sich öfter selbst um Stipendien zu bewerben. Lorenz sagte auch mit Blick auf die jüngsten Ansiedlungserfolge in Ostdeutschland: „Es reicht nicht nur Unternehmen und Behörden im Osten anzusiedeln, sondern es braucht auch die Sensibilität bei der Personalbesetzung.“

In der Wirtschaft wiederum glaubt man nicht an einfache Lösungen. Lars Schaller, Geschäftsführer des Unternehmerverbands Sachsen, begrüßte zwar gegenüber tagesschau.de die Initiative des Bundes. Es sei wichtig, dass der Diskurs weitergeführt werde. Allerdings müsse es „eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema werden“.Die Frage nach konkreten Maßnahmen sei allerdings „nicht so einfach zu beantworten“, so Schaller. Würden sie von „von oben“ aufgesetzt, würden sie jedenfalls keine langfristige Veränderung bringen.

Ostdeutschland als Vorbild

Martin Ahrends, freier Autor und 1984 aus der DDR ausgereist, schlägt beim Deutschlandfunk vor, in Zeiten des Klimawandels von Ostdeutschen zu lernen:

In Ostdeutschland gibt es spezielle Erfahrungen aus der sozialistischen Mangelwirtschaft: nicht nur mit dem Verzicht auf Überflüssiges, auch mit dem sparsamen Einsatz von Rohstoffen und dem Recycling, mit der Reparatur und Nachnutzung von Industrieprodukten, mit dem kreativen Selbermachen und Improvisieren, mit dem Transport per Rad und Bahn – und mit der Naherholung.

Die Frage, was der Osten denn in die deutsche Einheit mitgebracht habe außer einer maroden Infrastruktur, diese Frage stellt sich neu, wenn es angemessene Formen gibt, die Zukunft gemeinsam zu erfinden.

Migrant*innen und die Wende

Am 30.09. auf SWR2 zum Hören: „Wie Migranten in der DDR die Wende erlebten“

Vor dem Fall der Mauer lebten in der DDR rund 200.000 Migrant*innen, darunter Vertragsarbeiter*innen aus den „Bruderstaaten“ Vietnam und Mosambik, Studierende und Asylsuchende, die wenig Kontakt zu Deutschen hatten. Während der Wende machten sie die Erfahrung, dass sie mit dem Ausruf „Wir sind das Volk“ nicht gemeint waren. Ihr rechtlicher Status blieb lange unklar, rassistische Übergriffe nahmen zu. Unter dem Motto „Auch wir sind das Volk!“ forderten einige schließlich Bürgerrechte und Bleiberecht ein.

Bundestag, Rechtsextremismus, Social Media, Pflegeheime und Schulen

Frisch aus den Medien: Aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit:

Ostdeutschland im Bundestag

Lucie Hammecke ist die jüngste Abgeordnete im sächsischen Landtag und gehört zum Fraktionsvorstand der Grünen. Die Frankfurter Rundschau hat mit ihr gesprochen:

„Ich habe den Eindruck, dass noch nicht in allen Teilen des Bundestages die Relevanz der Wahlen in Ostdeutschland nächstes Jahr angekommen ist.“

Rechtsextremismus und Sichtbarkeit

Anne Rabe ist 1986 geboren, mit ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“ steht sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Der rbb hat mit ihr gesprochen:

Wir schauen aktuell auf ein Deutschland, das sich immer mehr spaltet, stark nach rechts rutscht. Was ist Ihre Erklärung dafür?

Ich glaube, die Gründe dafür sind vielschichtig. Ein wichtiger Grund ist, dass man völlig unterschätzt, dass Gesellschaften kippen können. Es ist nicht überall in Ostdeutschland gleich. Aber wenn es in Orten 30, 40 Prozent AfD-Wähler gibt, dann ändert dies das ganze Klima. Die Selbstverständlichkeit, die Normalisierung von Rechtsextremismus, die ist in Ostdeutschland weit fortgeschritten. Das ist ein Riesenproblem. Ich glaube, man muss wirklich anerkennen, dass das nichts ist, was man innerhalb von einer Wahlperiode oder mit einem weiteren Wahlsieg der demokratischen Parteien beenden kann. Ich glaube schon, dass eine Ursache dafür tatsächlich eine lange autoritäre Prägung ist. Man sieht in den Umfragen, dass zum Beispiel der Wunsch nach autoritären Staatsformen viel größer ist in Ostdeutschland. Dass die eigene Geschichte nicht reflektiert, einfach nicht aufgearbeitet ist. Man sieht auch diese fortwährende Gewalt auf den Straßen. Und das führt dazu, dass sich dort Dinge verhärten, Gegenkräfte sich zurückziehen.
Wie kann man die Aufarbeitung der DDR-Zeit, wie Sie sie hier anmahnen, besser vorantreiben?

Ich glaube, dass man die Situation im Osten im gesamten Deutschland anerkennen muss. Das ist nicht nur eine ostdeutsche Geschichte. Wir sind ein Land und das ist unsere Geschichte. Diese Frage der Integration des Ostens stellt sich eigentlich gar nicht. Wir sind ein gemeinsames Deutschland und das, was in Ostdeutschland passiert, das hat eben auch Auswirkungen auf das ganze Land. Es müsste noch mehr Interesse geben, auch von westdeutscher Seite.

Und im Osten, insgesamt im Land, muss dringend sehr viel Arbeit und sehr viel Geld in politische Bildung gesteckt werden. Mir passiert immer wieder, dass Leute noch nie vom Jugendwerkhof oder noch nie von Torgau gehört haben. Ich finde, das sind Vorgänge, Begriffe, Orte, von denen jeder Mensch in Deutschland wissen sollte. Da müssen wir auch den Opfern gerecht werden. Das ist einfach unsere Aufgabe als Gesellschaft.

DDR und Social Media

Bis zum 22. September findet der Deutsche Historikertag in Leipzig statt. Ein Interview mit dem Historiker Andreas Kötzing gibt es auf saechsische.de:

Lange Zeit war die öffentliche DDR-Erinnerung durch das Diktatur-Gedächtnis geprägt. Das ist nachvollziehbar und hatte seine Gründe. Aber wir beobachten seit einigen Jahren ein wachsendes Bedürfnis, davon zu erzählen, dass es neben Repression und Unterdrückung in der DDR eben noch ein anderes, alltägliches Leben gab. Übrigens ein Trend, der in den Neunzigern ähnlich war, nur gab es damals eben noch keine sozialen Medien, die jetzt zur Verstärkung beitragen.

Wenn wir den Kampf gegen „alternative“ Fakten, Lügen und gegen die Verharmlosung von Diktaturen nicht verlieren wollen, dann bleibt uns gar nichts anderes übrig, als die Auseinandersetzung auch [auf Social Media] weiter zu suchen. Gerade für die politische Bildung ist dies enorm wichtig. Das setzt natürlich voraus, dass öffentliche Einrichtungen wie Gedenkstätten, Museen und Vereine dafür auch ausreichend Mittel zur Verfügung haben.

Pflegeheime hui, Schulen pfui

Die Menschen in Ostdeutschland bewerten die Schulen mit am schlechtesten in Deutschland. Lediglich in Nordrhein-Westfalen sei die Bewertung noch schlechter ausgefallen, teilte das Münchener Ifo-Institut am Dienstag mit. 19 Prozent der befragten Erwachsenen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vergaben die Note 4 oder schlechter, 56 Prozent die Note 3. 24 Prozent urteilten mit den Noten 1 oder 2.

Den Lehrermangel sehen in den drei Bundesländern die meisten Menschen als das wichtigste Thema,

Meldung der dpa in der Zeit | Die Pressemitteilung mit allen Zahlen

Die Augsburger Allgemeine titelt „Pflegeheime im Osten besser als in Westdeutschland“ (und nicht etwa „Pflegeheime im Westen schlechter“ — ist das Vermeiden eines negativen Framing für den Westen Zufall?) und schreibt: 

Laut einer AOK-Studie kommt es in den Heimen in den alten Bundesländern gehäuft zur schlechten Versorgung der Alten und Kranken. Ostbayern hat ein besonderes Problem. … Demnach bekommen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und im Saarland viel mehr Heimbewohner lang anhaltend Schlaf- und Beruhigungsmittel als in Ostdeutschland

Die vollständige Studie

DDR-Frauen, Missbrauch, Verunsicherung

Frisch aus den Medien: Drei aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit.

Kaum sichtbar: Die Erfahrungen von Frauen aus der DDR

In ihrem aktuellen Film porträtiert Sabine Michel aus Dresden die Politikerinnen Manuela Schwesig, Yvonne Magwas, Anke Domscheit-Berg und Frauke Petry. Bei saechsische.de sagt sie im Interview:

In der DDR sozialisierte Frauen haben natürlich andere Erfahrungen gemacht, und ich würde mir wünschen, dass eben diese Erfahrungen stärkere Bestandteile im gesellschaftlichen Diskurs wäre. Und das es tiefer im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert wäre, dass die DDR ein Gleichstellungsexperiment durchgeführt hat, in der vieles für Frauen nachweislich besser funktioniert hat, anderes aber auch nicht. Zum Beispiel gab es in der DDR dadurch, dass die allermeisten Frauen in Vollzeit gearbeitet und sich zusätzlich um die Erziehung gekümmert haben, eine Mehrfachbelastung. Das Problem hat auch unsere heutige Gesellschaft nicht gelöst: Menschen mit Kindern sind strukturell benachteiligt, finanziell, zeitlich und karrieremäßig.

Tabu-Thema: Sexueller Missbrauch in Kliniken der DDR

Unter dem Vorwand, sie litten unter sexuell übertragen Krankheiten wurden in der DDR tausende Frauen in Kliniken eingewiesen — und misshandelt. Die Deutsche Welle nimmt sich des Themas an:

Es ist schwierig, genau zu beziffern, wie viele Frauen und Mädchen solche Torturen erlitten. Die Zahl geht in die Tausende — bis zu 5.000 allein in der Stadt Halle. Während die weit verbreiteten Misshandlungen in den Kinderheimen und so genannten Jugendwerkhöfen der DDR gut erforscht und dokumentiert sind, ist über die Vorgänge in den „Venerologischen Stationen“ nur wenig bekannt.

„Es ist ein besonders dunkles Kapitel der Geschichte. Niemand will wirklich davon hören“, sagt Christine Bergmann, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und die einzige Person in der Kommission, die in der DDR geboren und aufgewachsen ist.

Verunsicherungen im Osten – jetzt auch im Westen

Die Überschrift des Artikels auf 24rhein hat einen reinen Ost-Fokus („Warum viele Ostdeutsche so verunsichert sind – und damit anfällig für Extremismus“) — macht dann aber einen überraschenden Schwenk auf Westdeutschland: 

Man hat sich dran gewöhnt: Der Westen Deutschlands ist der Motor von Entwicklungen, hier spielt die Musik, wird Wohlstand generiert, Zukunft gestaltet. Der Osten? Na ja, hinkt halt hinterher, immer davon bedroht, abgehängt zu werden. Doch in einem Bereich verzeichnen wir seit Jahren eine Schubumkehr, hier geht der Osten voran, setzt den Trend:

Mit dem wachsenden Erfolg der AfD haben die sogenannten Neuen Länder eine Lokomotivfunktion, dort ist die selbsternannte Alternative für Deutschland über weite Strecken schon Volkspartei.

„Vor 33 Jahren sind die damaligen DDR-Bürger in einen Zug nach Deutschland eingestiegen, aber viele sind da nie angekommen“, beschreibt Sergej Lochthofen die Entwicklung mit einem Bild. … Die veränderte Wirklichkeit habe diejenigen Teile der Bevölkerung überfordert, für die Sicherheit und Überschaubarkeit vor Freiheit rangierten, die in Demokratie und offener Gesellschaft eher eine Bedrohung sähen. Ihre Prägung durch den DDR-Staat habe sie zudem anfällig für autoritäre Muster gemacht, für rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut.

Möglicherweise erleben wir im Westen gerade – zeitverzögert – auch eine große Verunsicherung. Die Welt, wie wir sie vielleicht in der Kindheit wahrgenommen haben, löst sich auf. … Da kommt ein politisches Angebot wie das der AfD gerade recht, verspricht es doch, eine unrealistisch verklärte Vergangenheit wieder herzustellen: Ohne Globalisierung und Migration, hierarchisch geordnet, sozial gesichert. Schon ein flüchtiger Blick in Archive zeigt, dass es eine solche Vergangenheit nie gab – außer in Bullerbü.

Die DDR im Roman „Gittersee“: Innere Wahrheit oder Verfügungsmasse?

Es gibt aktuell eine Debatte im Literaturbetrieb um „Gittersee“, den Debütroman von Charlotte Gneuß. Die Handlung spielt im Jahr 1976 in Dresden, die Autorin wurde 1992 im westdeutschen Ludwigsburg geboren. Der S. Fischer Verlag hat dem DDR-stämmigen Autoren Ingo Schulze das Manuskript vor Erscheinen zugeschickt. Er hatte anschließend eine Liste an Korrekturvorschlägen erstellt. Von den 24 Punkten hat Gneuß zehn übernommen, andere bewusst nicht. Diese interne Liste ist auf nicht nachvollziehbaren Wegen an die Jury des Deutschen Buchpreises gelangt, für den „Gittersee“ nominiert ist.

Damit ist die Liste nicht mehr intern und das Feuilleton diskutiert die Frage: Was darf Literatur? Hier sind einige der Argumente:

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) schreibt Sandra Kegel unter der Überschrift „Die Akte Gneuß“:

„Glittersee“ wurde bislang wohlwollend rezensiert, auch in der F.A.Z.: … [auch] dafür, dass es gut recherchiert sei und die DDR-Lebenswelt glaubwürdig darstelle.

Die Beanstandungen … werfen die Frage auf, ob sie überhaupt den Goldstandard eines Romans treffen. Ob also die Frage „War das damals in der DDR nun genauso, oder war es das nicht?“ die richtige ist, um die Qualität von Literatur zu beurteilen. Und ob ein Roman, der in den Siebzigerjahren in Dresden spielt, zwangsläufig ein DDR-Roman ist, wo doch der Fokus womöglich auf ganz anderen Themen liegt, auf Jugend und Liebe, Geheimnis, Verrat.

Spielfilme wie Romane … sind Werke der Fiktion. Sie müssen dramaturgisch verdichten, um ihre innere Wahrheit zu intensivieren. Daran sind sie zu messen, das ist der Goldstandard.

Beim Deutschlandfunk kommentiert Christoph Schröder:

[Charlotte Gneuß ist] Vertreterin einer jungen Generation von Autoren, die die DDR nicht mehr aus eigener Anschauung kennen und darum eine weitaus größere Distanz zu ihrem Material haben als noch die Generation eines Ingo Schulze oder beispielsweise auch einer Katja Lange-Müller. Anders gesagt: Der fiktionale Raum im Hinblick auf die erzählte DDR weitet sich derzeit, und „Gittersee“ ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür.

Es geht also auch darum, wer die Deutungshoheit über Geschichte und Geschichten hat, und inwieweit die präzise Darstellung der äußeren Umstände automatisch auf die innere Wahrheit eines Kunstwerks ausstrahlt. Provokant gefragt: Wen interessiert es, ob Tolstois Beschreibungen der Uniformen des napoleonischen Heers in „Krieg und Frieden“ bis ins Detail korrekt sind?

Die Süddeutsche Zeitung interviewt Ingo Schulze, den Verfasser der Korrekturvorschläge. Er meint:

„Wenn eine bestimmte Zeit und ein bestimmter Ort beschrieben werden, sollte das möglichst stimmen, vor allem auch der Sprachgebrauch. … Oder man weicht ganz bewusst ab, das geht ja auch. 

Dass so etwas wie meine Anmerkungen, die jedem Leser meines Alters aus dem Osten auffallen könnten, überhaupt den Anschein erweckt, etwas substanziell Anstößiges zu markieren oder selbst anstößig zu sein, ist vielleicht auch ein Indiz für eine gewisse Schieflage. … Auch der Literaturbetrieb [ist] westdeutsch geprägt.

Ich würde immer dafür eintreten, dass jede und jeder jederzeit und überall über alles schreiben darf. Deshalb gibt es ja Literatur. Andererseits ist der Osten oft eine Verfügungsmasse, derer man sich für die eigenen Geschichten bedient, was in aller Regel klischeehaft wird.“

#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

Irgendwie sind 33 Jahre Mauerfall wie ein 33 Jahre andauernder Grundkurs, journalistisch angemessen über eine Region und ihre Menschen zu berichten. Mit Erfolg: Bei der Berichterstattung zu Ost-West-Themen sind die Antworten fundierter und erhellender geworden.

Doch es ist beim Blick auf den Osten Deutschlands geblieben. Denn eine Hälfte der vielbeschworenen deutsch-deutschen Geschichte blieb gerne außen vor. Denn:

Was ist mit Westdeutschland?

Unsichtbar: Westdeutschland

Bei all den Berichten, Analysen und Erkenntnissen über Ostdeutschland bleibt die alte Bundesrepublik so blass wie, nun ja: die neuen Bundesländer den Westdeutschen nach der Vereinigung.

Denn anders als bei Ostdeutschen gibt es keine medialen Deutungsversuche, was Westdeutsche vom Rest Deutschlands unterscheidet. Westdeutschland ist zwar die Norm, an und mit der sich Ostdeutschland beständig messen muss – doch wo wird diese Norm benannt?

Tatsächlich sind der westdeutsch schauende Blick und die aus Westdeutschland agierende Position oft nicht sichtbar. Ähnlich sieht es bei westdeutschen Privilegien aus: Auch sie sind unsichtbar — aber stets vorhanden. So können Westdeutsche aus der Perspektive eines allgemein-deutschen „Wir“ sprechen und ihre Herkunft ist gemeint, wenn über „Deutschland“ gesprochen wird. Westdeutschland und Westdeutsche scheinen derart selbstverständlich, dass sie nicht erklärt werden müssen.

Erklärungsbedürftig: Westdeutschland

Das ist der Stand, den man für die aktuelle mediale Berichterstattung feststellen muss. Dabei gehört es zu den zentralen Aufgaben des Journalismus, kritisch zu sein. Und das heißt: Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Blinde Flecken sichtbar machen. Insbesondere bei denjenigen, die in der Öffentlichkeit sprechen und entscheiden können. Leider passiert das nicht und eine machtvolle Position bleibt unsichtbar – und zieht möglicherweise einen Teil ihrer Macht aus dieser Unsichtbarkeit.

Dabei wäre es wichtig, diesen Teil Deutschlands zu verstehen. Schließlich ist es in der Regel ein westdeutscher Blick, der Debatten in Deutschland setzen und durchführen kann. Gleichzeitig stellen westdeutsch sozialisierte Menschen den Großteil der Eliten, etwa in Politik, Wirtschaft und Medien.

Es sollte daher ein breites Interesse geben, Westdeutschland und Westdeutsche zu verstehen. Deren Kultur und die davon geprägten Selbstverständnisse würden helfen, Stimmungen und Entscheidungen zu verstehen.

Deshalb: #WestdeutschAwareness Week!

Wir wollen daher unseren Beitrag leisten, das unsichtbare Westdeutschland zu erkennen: Am 9. November rufen wir die #WestdeutschAwareness-Week aus!

Im 33. Jahr des Mauerfalls wollen wir so auf die Leerstelle „Westdeutschland“ aufmerksam machen. Wir wollen Diskussionen in Bewegung bringen und Akteur*innen vernetzen. Wir wollen zusammentragen, was es bereits an Erhellendem über diesen Teil von Deutschland gibt. Vor allem aber wollen wir: Westdeutschland verstehen.

Wer jetzt irritiert ist: Dieses Gefühl gehört dazu, wenn eine unsichtbare Norm ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt word. Sich mit ihr zu beschäftigen, heißt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und ja, das muss zwangsläufig irritieren.

Wer jetzt schmunzelnd den Kopf schüttelt, denkt wahrscheinlich an all die einseitigen und klischeehaften Medienberichte über Ostdeutschland. Soll es den gleichen Quatsch jetzt auch über Westdeutschland geben? Auf keinen Fall! Wir sollten daraus lernen, wie wir über- und miteinander sprechen können. Damit aus der deutsch-deutschen Berichterstattung auch ein deutsch-deutsches Verständnis werden kann.

Fragen an Westdeutschland

Um gute Gedanken über Westdeutschland zu finden, stehen bei dieser #WestdeutschAwareness-Week Fragen im Mittelpunkt. Das bedeutet konkret: sieben Aspekte über Westdeutschland, die wir zusammen beleuchten können.

Machen Sie mit und sprechen Sie über Westdeutschland! Unten in den Kommentaren, drüben bei Twitter, per Mail oder bei Freunden und Bekannten.

  • Was hat sich durch den Mauerfall in Westdeutschland und in westdeutschen Biografien verändert?
  • Was sind aktuelle Herausforderungen, die spezifisch westdeutsch sind?
  • Warum sind in Westdeutschland rechte Positionen weniger stark als im Rest von Europa?
  • Warum verstehen sich Westdeutsche nicht als westdeutsch, sondern eher als Nord- oder Süddeutsche, als Deutsche oder als Europäer*innen?
  • Gibt es Privilegien in Westdeutschland bzw. für in Westdeutschland sozialisierte Menschen? Wenn ja: Welche sind das?
  • Was lernen Schüler*innen über westdeutsche Geschichte und Kultur?
  • Warum ist Westdeutschland anders als Ostdeutschland?
  • Bonusfrage: Was sollte auf diesem Titelbild zu sehen sein?
    So isser, der Wessi

Was es schon gibt: Westprivilegien, Critical Westness und Beispiele

Die Idee, auf Westdeutschland zu blicken und unsichtbare Normen und privilegierte Positionen zu benennen, ist nicht neu. Bereits 2010 hat die Kulturanthropologin Urmila Goel dazu geschrieben.

2019 brachte der Sozialwissenschaftler Heiner Schulze den Begriff der „Critical Westness“ in die Debatte ein. Das meint einen (selbst-)kritischen Blick auf westdeutsche Normen. (Hier gibt es eine archivierte Version.)

Aus beiden Texten kommen viele Anregungen für den Ansatz und die Inhalte unserer Aktion – vielen Dank an die Autor*innen.

Und schließlich gibt es auch journalistische Veröffentlichungen, die #WestdeutschAwareness zeigen: Unter dem Titel „Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ veröffentlichte 2022 Nicole Zepter ein Essay aus westdeutscher Perspektive. Ebenfalls 2022 und auch ausdrücklich westdeutsch schrieb Markus Decker: „Wie ich mit Olaf Scholz in der DDR mal gemeinsame Sache machte“. Beides sind erhellende Beispiele, wie fruchtbar es sein kann, diese Perspektive einzubringen.

Vielen Dank an Kati und Anne für die wertvollen Rückmeldungen!

Farbfilm vergessen (Merkels Medienkritik Mashup)

Zu ihrem Zapfenstreich als Bundeskanzlerin wünschte sich Angela Merkel den Titel „Du hast den Farbfilm vergessen“, im Original 1974 von Nina Hagen gesungen. Nina Hagen, die spätere „Godmother of Punk“? Wie passt das mit Angela Merkel zusammen?

Ich vermute: Das war ein subversiver Akt! Nach ihrer Rede zum Festakt am Tag der Deutschen Einheit 2021 zeichnet sich immer mehr ab, dass Merkel ihre ostdeutsche Seite nicht mehr versteckt. Nein, sie verbindet sie auch mit Kritik am westdeutschen Blick auf sie als Ostdeutsche. Das haben wir 2013 getan zur medialen Wahrnehmung einer Merkel-Biografie. Und 2012 konnten wir sehen, wie explizit westdeutsche Befürchtungen noch formuliert wurden.

In diesem Jahr also die Abrechnung von Angela Merkel selbst:

Merkel kritisierte einen Artikel in einer Publikation der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Dort wurde der „Ballast ihrer DDR-Biographie“ angesprochen. Autor Thomas Brechenmacher fühlte sich von der Kanzlerin falsch verstanden, wie er der Berliner Zeitung sagte: Es sei ihm um das gegangen, was sie für den neuen Weg abwerfen wollte.

Außerdem sprach sie über einen Artikel in der Welt am Sonntag vom Ende 2020. Hier bezeichnete sie Herausgeber Thomas Schmid als „angelernte Bundesdeutsche“. Christian Bangel schrieb dazu in der Zeit:

Merkel sprach in dieser Rede etwas aus, das wohl viele Ostdeutsche lange von ihr erwartet hatten: nämlich das Erleben einer subtilen Form der Diskriminierung.

Und nun ließ sie diese Kritik auch noch musikalisch erklingen. Subversiv.

Dramatische Fluchtgeschichten zu 60 Jahren Mauerbau

Was unterscheidet den Tag der deutschen Einheit, den Tag des Mauerfalls und den Tag des Mauerbaus? Zu den ersten beiden Tagen präsentieren Medien gerne Ost-West-Paare, die von ihrer Beziehung berichten dürfen. Um den 13. August herum hingegen stehen Menschen im Mittelpunkt, die nach dem Mauerbau aus der DDR geflohen sind. Wir versuchen uns an einer Systematik der Veröffentlichungen zum diesjährigen Gedenktag, denn: Gibt es nach 60 Jahren Mauerbau noch überraschende, neue Ansätze?

Fluchtwege

Im Auto, in der Luft, im Wasser, durch den Tunnel: Diese Artikel zeigen, dass der Weg eine große Herausforderung war. Nervenkitzelspannung inklusive.

Im Cadillac in die Freiheit (Tagesschau)

Durch die Luft, über die Mauer (Deutschlandfunk Kultur)

Petra Wetzel flieht mit einem Heißluftballon aus der DDR (Schweriner Volkszeitung)

Flucht mit dem Faltboot: Aus der DDR nach Wuppertal (Westdeutsche Zeitung)

Der Mann, der durch die Ostsee schwamm (Süddeutsche Zeitung)

Flucht aus der DDR durch den Teltowkanal :„Ich hatte Angst, dass meine vor Kälte klappernden Kiefer mich verraten würden“ (Tagesspiegel)

Wie Dresdnern die Flucht unter der Mauer durch gelang (Sächsische.de)

Flucht durch den Tunnel — aus dem Wohnzimmer in die Freiheit (Märkische Oderzeitung)

»Wir gehen jetzt zu Papa« (Spiegel Online)

Ausgetrickst

Eine Flucht aus der DDR ist immer auch ein Kampf gegen ein System und seine Vertreter*innen. Wer da ein paar Tricks auf Lager hat, konnte es schaffen, zeigen uns diese Texte:

Wie drei Brüder die DDR-Grenzsoldaten austricksten (T‑Online)

Wie ein paar Studenten die Stasi austricksten (Berliner Morgenpost)

Wie Studierende als Doppelgänger aus der DDR flüchteten (rbb24)

Wenn Ärzte fliehen

Ja, eine ungewöhnliche Kategorie, aber gleich mehrfach vertreten: Wie sind eigentlich Menschen geflohen, die im medizinischen Bereich tätig waren? Dieses Jahr erfahren Sie es endlich!

Wie der ehemalige Karlsruher Klinikdirektor vor dem Mauerbau 1961 in den Westen floh (Badische Neueste Nachrichten)

Die Mediziner Bertram Kaden und Horst-Michael Schulz und ihre Flucht aus der DDR (NDR)

Spektakuläre Flucht aus der DDR – Dann stieg der Arzt ins Wasser und schwamm einen Tag und eine Nacht (Basler Zeitung)

Etwas Lokalkolorit

Auch wenn die Mauer etwas weiter weg stand: Menschen sind aus der DDR in die ganze ehemalige BRD geflüchtet. Eine Lokalzeitung mit Anspruch kann also einen davon finden.

Bielefelder berichtet von seiner dramatischen Flucht (Neue Westfälische)

Leverkusener flüchtete noch vor dem Mauerbau (RP Online)

Flucht aus der DDR: „So glücklich, es geschafft zu haben“ (Hamburger Abendblatt)

Berühmtheiten

Warum kleine unbekannte Menschen auf der Flucht porträtieren, wenn es doch bekannte Geflüchtete gab?

Seine spektakuläre Flucht aus dem Osten machte deutschlandweit Schlagzeilen als „Flucht des Jahres“ (Saarbrücker Zeitung)

Vor 60 Jahren: Conrad Schumann springt über den Grenzzaun der DDR (Frankfurter Rundschau)

Ein DDR-Grenzpolizist springt in die Freiheit und landet im Kreis Günzburg (Augsburger Allgemeine)

Ungewöhnliche Blickwinkel

Und auch das gibt es: Nicht nur in den Westen fliehen. Oder auch mal zurückkehren.

60 Jahre Mauerbau: Dieser Mann floh – in den Osten (Hamburger Morgenpost)

DDR-Flucht: Warum Frank Vogel nach wenigen Tagen zurückkehrte (Freie Presse)

60 Jahre Mauerbau: Und nun?

So platt es klingt: All diese Fluchtgeschichten sind letztlich Fluchtgeschichten. Dramatisch bis lebensgefährlich für die Betroffenen, dramatisch bis einfühlend von den jeweiligen Medien geschildert. Mehr Erkenntnis als „Die DDR war schlimm, wir wollten weg und die Flucht war nicht leicht“ bleibt aber kaum.

Warum diese Geschichten trotzdem so häufig erzählt werden? Damit es menschelt, die trockenen Zahlen der Fluchten wirken längst nicht emotional. 

Und dennoch: Gerade der Mauerbau — Sinnbild des Kalten Krieges und der deutschen Teilung — er wäre eine gute Gelegenheit, diese Aspekte ausführlicher zu beleuchten und zu fragen: Wo kommen wir her, wohin führt der Weg für uns als Gesellschaft? Ein paar dramatische Fluchtgeschichten können das nicht.

Update

Durch die Fokussierung auf Fluchtgeschichten versäumen es Medien leider auch, die DDR-Gesellschaft so komplex zu zeichnen, wie sie gewesen sein dürfte. Denn: nicht alle sind geflohen oder hatten es auch nur vor. Warum? Auch darauf geben uns all diese Erzählungen keine Antworten.

Was wäre, wenn‘s West-Wahlen wären?

Da es hier in letzter Zeit etwas ruhiger geworden ist, begeben wir uns auf die Reise in eine Parallelwelt – und das gleich doppelt!

Zum einen ist einwende auf Twitter etwas aktiver, und deshalb gibt es hier unsere Tweets zum heutigen Wahlsonntag im Überblick. Zum anderen sind diese Tweets aus einer alternativen Perspektive geschrieben: Was wäre, wenn über Wahlen in Westdeutschland in der gleichen Logik berichtet würde wie über Wahlen in Ostdeutschland?

Und als Bonus gibt es ein paar Hintergründe zu den Tweets gleich dazu. Denn wir wissen ja: Lustiges wird noch erheiternder, wenn es erklärt wird!


Wenn in Ostdeutschland in mehr als einem Bundesland gewählt wird, sind es „Ost-Wahlen“ (beispielhaft: Berliner Morgenpost) Auch die „ostdeutsche Seele“ ist zu einem geflügelten Erkläransatz geworden (beispielhaft: Die Zeit). Die Darstellung des ostdeutschen Mannes war bei uns bereits Thema.


Die Partei „Die Linke“ wird die Frage nicht los, wieviel SED noch in ihr stecke (beispielhaft: Deutsche Welle).


Unerwartete Interviewgäste wissen immer wieder schlaue Dinge über Ostdeutschland zu sagen. Beispielhaft: Wolfgang Bosbach (Ex-Politiker), Günther Jauch (Moderator) und Christian Rach (Sternekoch).


Warum Ostdeutschland „anders“ wählt oder mehr Menschen hier rechts denken: Da gibt es viele mehr oder minder plausible Erkläransätze. Legendär ist etwa das gemeinsame Auf-die-Toilette gehen in den Kindergärten der DDR. Oder das fehlende Westfernsehen im „Tal der Ahnungslosen“.


Berichte über Ostdeutschland haben bisweilen den Charakter einer Auslandsreportage. So war der Deutschlandfunk etwa fassungslos in Halle an der Saale.


Auf Spiegel Online hat Jan Fleischhauer 2015 herausfordernd gefragt: „War die Wiedervereinigung ein Fehler?“


Die Initiative „Wir sind der Osten“ zeigt Menschen, die positiv für Deutschland stehen sollen.


Einen Riss zwischen Ost und West muss es geben, schließlich tragen ihn gleich zwei Bücher im Namen (Der Riss und Die Reise zum Riss). Und die Lebensleistung der Ostdeutschen ist immer wieder mal Thema (beispielhaft: Die Ost-Länderchefs fordern ebendiese Lebensleistungen zusammen mit mehr Respekt.)


Für Ostdeutsche werden immer wieder „Demokratiedefizite“ festgestellt (beispielhaft: RND). Dass Ostdeutsche Demokratie gut finden, aber Kritik an der bestehenden Form der Demokratie, wird allerdings nicht immer differenziert getrennt.


„So isser der Ossi“ war ein umstrittenes Titelbind des Spiegel. Und Bananen gab es natürlich nur im Westen.


Die Initiative „3te Generation Ost“ verweist auf die Umbrucherfahrung bzw. Transformationskompetenz der Ostdeutschen als Ressource.


Doch.

Tag der deutschen Einheit 2020 in den Medien — Einigkeit und Streit und Deutung

Tag der deutschen Einheit 2020 in den Medien - Einigkeit und Streit und Deutung

Regelmäßig zu den Gedenktagen am 9. November und 3. Oktober legen sich die Zeitungen ins Zeug – und das von Jahr zu Jahr mehr, was Umfang und Qualität der Beiträge angeht. Aber was steckt eigentlich drin? Hier unser Überblick zum Tag der deutschen Einheit 2020:

Überblick: Zeitungen zum 3. Oktober 2020

Süddeutsche Zeitung

Titelbild Süddeutsche Zeitung zum Tag der deutschen Einheit 2020

Für die SZ ist 3. Oktober wie schon im letzten Jahr eine „Feiertagsausgabe“ wert. Neben dem kreativsten Titel finden wir hier übrigens auch die langweiligste Karikatur im Konkurrenzfeld.

Buzzwords: Stasi, blühende Landschaften, Jammerossi, Wutbürger

Symbolischer Ort: Rosenthaler Platz in Berlin

Statistisches:

  • 1 Titel
  • 1 Leitartikel
  • 1 Glosse
  • 1 Langstrecke (4 Seiten)
  • 1 Ausstellungsbesuch
  • 1 Karikatur

Die Welt

Titelseite von Die Welt zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die Zeitung nennt es „eine besondere Ausgabe“ und eine Sache ist tatsächlich besonders (aber nicht einmalig, siehe unten): Sie hat nicht nur eine Titelseite, sondern gleich noch eine zweite. In beiden Fällen sind die Feierlichkeiten vom 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag zu sehen. Einmal glückliche Politiker ganz nah, einmal die Totale mit Menschen und schwarz-rot-goldenen Flaggen.

Buzzwords: Freiheit, Mauertote, Stasi, Unrechtsstaat

Symbolischer Ort: Moormuseum, Fickentor, „Palumpa-Land“

Statistisches:

  • 2 Titel
  • 2 Kommentare
  • 2 Leitartikel
  • 1 Essay
  • 1 Interview
  • 2 Artikel
  • 1 Geschichtsstrecke

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die FAZ will klotzen: Alles in allem präsentiert sie 34 Beiträge zu einem breiten Themenfeld . Außerdem gibt es bei mehreren Beiträgen Inhalte in Augmented Reality. Das heißt konkret: Smartphone raufhalten und interaktive Bilder oder Videos ansehen. Da kann man es der Zeitung nur ein wenig verübeln, wenn sie auf dem Titel vor allem sich selbst thematisiert (und lobt): „Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.“ Eine zweite Titelseite bietet sie ebenfalls an – man nimmt ja mit, was geht.

Buzzwords: FKK, Sex, Vaterland, Helmut Kohl, Wolf Biermann, Nina Hagen, Todesstreifen, Tal der Ahnungslosen, Staatsdoping, Joachim Gauck, Krippe, Berliner Schloss, Singen

Symbolische Orte: Kohl und Kongo

Statistisches

  • 2 Titelstorys
  • 3 Kommentare
  • 2 Interviews
  • 12 Artikel
  • 1 interaktive Galerie
  • 1 Karikatur
  • Weitere 13 Texte in einer Beilage

Die Zeit

Titelseite von Die Zeit zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die Wochenzeitung stellt den US-Wahlkampf zwischen Trump und Biden groß auf den Titel, die Wiedervereinigung steht deutlich kleiner in der Seitenspalte. Das ist übrigens nicht überall so: In der Zeit im Osten ist die Wiedervereinigung das große Titelthema und enthält dort drei weitere Texte. Diese völlig unterschiedlichen Schwerpunkte der Zeit-Ausgaben sagen wahrscheinlich mehr über den Stand der Einheit als die eigentlichen Inhalte.

Buzzwords: Einigungsvertrag, Identitäten

Symbolischer Ort: Erinnerung

Statistisches

  • 1 bisschen Titel
  • 2 Artikel
  • 1 Interview

Die großen Themen

Einheit — ja, nein, vielleicht?

Das zentrale Thema auf den Titeln ist die „Einheit“. „Endlich vereint“, meint die Süddeutsche. „Nicht immer einig. Aber immer eins“, sagt die FAZ. „Hurra wir müssen uns nicht mehr einig sein!“, ruft die Zeit. Die Welt macht gleich auf Kohl-Fanzine und zitiert ihn mit den Worten „Mit dem heutigen Tage ist das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiedervereint“. Auch bei weiteren Blättern schafft es das Thema auf die Titelblätter: „30 Jahre – sind wir uns einig?“, fragt der Tagesspiegel und „30 Jahre deutsche Einheit – Wir sind eins“, weiß die Berliner Morgenpost.

In den Ausgaben selbst wird die Frage der Einheit aber nicht mehr ganz so zentral verhandelt, kommt aber in verschiedenen Aspekten vor. Im SZ-Leitartikel von Ulrike Nimz etwa heißt es: „Die Andersartigkeit des Ostens, sie ist mit geradezu therapeutischem Eifer beschrieben worden.“

In der Zeit benennt Martin Machowecz gleich zu Beginn die Leserschaft als eine vorrangig westdeutsche, konfrontiert sie mit einem Test und spielt bei der Auswertung mit den Identitäten: 

„Wenn Sie einige oder gar alle Fragen mit Ja beantworten können, müssen Sie sich nicht schämen. Es wird die meisten Ostdeutschen nicht wundern, auch nicht den ostdeutschen Autor dieses Textes. ‚Wir‘ im Osten wissen, dass ‚Sie‘ im Westen irritiert sind. Dass Sie dachten, ‚wir‘ alle wären weiter, gleicher.“ 

Es folgt ein kurzer Abriss der letzten 30 Jahre inklusive der Feststellung: „Streit wird produktiver, wenn er gleichberechtigt geführt wird.“ 

Ebenfalls in der Zeit plädiert auch Thomas Oberender für das Streiten:

„Diese offene Debatte vereint uns eher, als dass sie uns spaltet. Aber dieses ‚Jetzt gebt doch endlich mal Ruhe, ihr ewig jammernden, unzufriedenen Ostdeutschen‘, das wird uns nicht heilen.“

Berthold Kohler setzt den deutschen Streit in globale Verhältnisse und meint in der FAZ: „Verglichen mit den tiefen politischen und gesellschaftlichen Rissen, die sich durch Amerika ziehen, ist Deutschland ein ziemlich einig Vaterland.“

Die Streiflicht-Glosse der Süddeutschen geht das Thema gleich humoristisch-tiefgründig an: 

„Wer am 3. Oktober Willy Brandts Satz vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, in einer Rede oder einem Leitartikel zitiert, muss 250 Euro Bußgeld wegen Verphrasierung der deutschen Sprache bezahlen. … Nach dreißig Jahren jedenfalls ist die Vereinigung geglückt, an der Einheit wird noch gearbeitet.“

Übereinander sprechen

Überhaupt: Das Sprechen über das Sprechen zieht sich ebenfalls durch die Ausgaben. So widmet Stefan Locke in der FAZ einen ganzen Text der medialen Darstellung von Ostdeutschland. „Wie aus dem Kongo“ heißt er postkolonial eher fragwürdig, aber mit treffenden Beispielen und Feststellungen: 

„Die gesamtdeutsche Norm aber bleibt
westdeutsch, aus ihr wird das Land beschrieben und
kommentiert.“

Ulrike Nimz schreibt in der Süddeutschen: „Bei welcher Gelegenheit ‚die Lebensleistung der Ostdeutschen‘ zur Phrase wurde, lässt sich schwer sagen“ und außerdem meint auch: „Paternalistische Zwischentöne haben das Ost-West-Verhältnis immer wieder strapaziert.“

Zu den westdeutschen Sprachbildern zählt Thomas Oberender in der Zeit auch den Begriff „Mauerfall“: „Mir schien es irgendwann nicht mehr selbstverständlich, so davon zu sprechen, weil dahinter eben auch die Sicht vieler Westdeutscher steht, für die die Mauer tatsächlich irgendwann einfach umfiel – huch!“

Die FDP-Landesvorsitzende Linda Teuteberg weist in ihrem Gastkommentar in der Welt auf eine weitere Phrase hin: 

„Das war eine Revolution, keine Wende. Auf diesen frühen Fall erfolgreichen politischen Framings sollten wir nicht hereinfallen.“ 

Das hindert den Welt-Chefredakteur aber nicht daran, von der „Wende“ zu sprechen. Auch weitere Artikel von Welt und FAZ verwenden den ursprünglich von Egon Krenz geprägten Begriff unhinterfragt.

Apropos Welt-Chefredakteur: Ulf Poschardt prangert die Dinge an, die aus seiner Sicht öffentlich nicht mehr vorkommen: 

„30 Jahre nach der Wiedervereinigung mögen die Mauertoten in Debatten verdrängt oder im postmodernen Allerlei vergessen sein, aber die Erfrage dieser Wiedervereinigung nach dem Verhältnis zu Selbstbestimmung und Freiheit bleibt nur halb beantwortet.“ 

Freiheit, das ist übrigens das große Thema in dieser Ausgabe Welt.

Ganz neue sprachliche Ansätze liefert der FAZ-Herausgeber Kohler in seinem Kommentar. Mit „real existierendem Föderalismus“ und „der Zukunft zugewandt“ bringt der gebürtige Oberfranke DDR-Versatzstücke unter. Und meint, dass die Linkspartei ähnlich wie die Grünen ins politische System integriert werden könnte.

Wer ist schuld?

Ein weiteres Thema dreht sich darum, ob die Ostdeutschen die Einheit (so) wollten und warum das eigentlich alles so gekommen ist.

In der Welt stellt sich Sven Felix Kellerhoff, leitender Geschichtsredakteur aus Stuttgart, sich den Klagen zur Wiedervereinigung entgegen: Die Ostdeutschen seien gegen ihren Willen oder ohne nach ihren Wünschen gefragt worden zu sein Teil des vereinigten Deutschlands geworden. Dafür zählt er jüngere Publikationen auf von Sascha-Ilko Kowalczuk („Die Übernahme“), Petra Köpping („Integriert erstmal uns!“) und Daniela Dahn („Die Einheit – eine Abrechnung“). Es bleibt aber fraglich, ob Kellerhoff sie tatsächlich gelesen hat – die Veröffentlichungen argumentieren sehr quellennah und bestreiten gar nicht den Willen der Ostdeutschen. Vielmehr zeichnen sie Entwicklungslinien nach, wie sie damals gar nicht vorhergesagt werden konnten. Aber Kellerhoff sind ohnehin andere Dinge wichtiger:

  1. Die DDR so oft im Text nennen, wie möglich. Neben notwendigen historischen Verweisen sind es auch mal regionale Bezüge („Petra Köpping … landete einen Bestseller in der vormaligen DDR“), die Beschreibung einer Person („die schon in der DDR aktive Schriftstellerin Daniela Dahn“) und die Einordnung eines SPD-geführten Brandenburg („bald bürgerte sich für das Land der Spitzname ‚kleine DDR ein‘“).
  2. Einen Grundkurs in politischer Bildung geben. Denn den derzeit murrenden Bürgern aus der damaligen DDR muss man das wohl ganz einfach erklären: „Zum Wesen jeder Demokratie gehört die Mehrheitsentscheidung bei gleichzeitigem Respekt vor der Position der Minderheit. (…) Eine Demokratie stellt die Wünsche der Mehrheit per Abstimmung aller Wahlberechtigten fest. Weil aber so ein Verfahren organisatorisch aufwendig und teuer ist, kann es nur relativ selten umgesetzt werden.“ Aus welchem langweiligen Lehrbuch Kellerhoff abgeschrieben hat, legt er allerdings nicht offen.
  3. Den Ossis die Schuld geben. Also zitiert Kellerhoff die Zahlen aus den Wahlen und Umfragen im Jahr 1990, zeigt die breite Unterstützung der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung und schließt mit den Worten: „Eigentlich beschimpfen jene Ostdeutsche, die heute die Wiedervereinigung kritisieren, also ihre eigenen unrealistischen Vorstellungen.“ Den Satz mit den dümmsten Kälbern musste er sich dann doch verkneifen. Schließlich hätte er dann Bertolt Brecht zitiert (DDR!) und er selbst wäre dann zum Metzger geworden und ach nein, das kommt nicht gut.

Wie eine Antwort auf Kellerhoff schreibt Jürgen Kaube in der FAZ unter dem Titel „Wendewucht“:

„Gerade in der DDR war Karl Marx in Vergessenheit geraten, weil man dort im Irrtum lebte, sein Hauptwerk heiße ‚Der Sozialismus‘. Andererseits hätte ihnen Karl Marx auch nicht viel geholfen, um die spürbare Missachtung und Selbstgerechtigkeit zu verwinden, die nicht nur alle ökonomischen Segnungen begleitete, sondern auch den Befund, an der DDR sei schlechterdings nichts erhaltenswert und nichts, wovon etwas zu lernen gewesen wäre. Jahre danach erst kam man beispielsweise im Westen darauf, was von den ostdeutschen Schulen hätte gelernt werden können. Oder ganz allgemein: von der Erfahrung, in einem solchen Land gelebt zu haben.“

Symbolische Orte

Die beiden Beiträge in der Süddeutschen und in der Welt zu symbolischen Orten zeigen schließlich auf, dass es nicht allzu viel bringt, an einen Ort zu fahren, an dem man Deutschland angeblich verstehen könnte. So lernt man in der Süddeutschen, dass der Verkehr am Rosenthaler Platz stark zugenommen hat. Von den acht Porträtierten lebt übrigens nur ein Mann schon länger als 30 Jahre hier.

Und über den geografischen Mittelpunkt Deutschlands erfährt man in der Welt: „Er liegt in Thüringen, mitten im Nichts.“ In dem Text gibt es dann doch mehr als Nichts. Aber auch das Geständnis, dass insgesamt acht Mittelpunkte von Deutschland existieren. Der Erkenntnisgewinn ist dann recht überschaubar und der Artikel endet damit, dass eine Frau weint, als sie von ihrem Besuch 1986 im Westen erzählt. Weil sie damals glaubte, dass nicht noch einmal sehen zu können. Parfüm, Früchte und Farben nennt sie. Und Türen, die von alleine aufgingen: „Mein Onkel öffnete das Garagentor mit einer Fernbedienung.“ Da sind sie wieder: Ostdeutsche, wie sie sich Westdeutsche schön vorstellen können.

Bilder

Man kann es nicht anders sagen: Die Bildsprache in den Zeitungen ist langweilig. Die Politikprominenz am Eineheitstag 1990 kommt etwa dreimal vor — bei der Welt auf dem Titel, bei der FAZ auf dem zweiten Titel und bei der Zeit im Bereich Wissen:

Das Titelmotiv der Zeit ist das gleiche, das auch das Neue Deutschland für seine aktuelle Ausgabe benutzt:

Unabwendbar sind offenbar Vorher-Nacher-Bildvergleiche. Es gibt sie bei der Zeit und bei der FAZ. Dort zumindest aufgehübscht mit einer etwas umständlichen Lösung in Augmented Reality.

Und nicht einmal der Verzicht auf Bilder kann helfen: Die FAZ macht es, die Berliner Zeitung ebenfalls — dort aber deutlich weißer:

Und nun?

Die Zeitungen haben den Tag der Deutschen Einheit 2020 genutzt, um uns mit vielen Texten und langweiligen Bildern zuzuschütten. Sie alle versuchen, zu bilanzieren, zu erklären, zu verstehen. Dabei muss man festhalten, dass kaum essenziell neue Erkenntnisse kommen — aber wie auch? Gerade in den letzten fünf Jahren ist ja bereits sehr viel gesagt worden — und gleichzeitig sind die Redaktionen feinfühliger, diverser geworden. Eine Banane auf dem Titel der FAZ, die wir noch 2015 beobachten konnten, gibt es da zum Glück nicht mehr.

Gleichzeitig fehlt der Mut zu vollkommen neuen Ansätzen. Die Diversität in den Redaktionen mag da noch zu gering sein, aber Fragen und Themen gäbe es: Warum geht es etwa bei den Rückblicken fast ausschließlich um die DDR und ihr Erbe? Was ist denn mit der alten Bundesrepublik? Sie bleibt so konturlos, als wäre sie mit der Einheit untergegangen und nicht die DDR. Oder ist der Kohl’sche Atem der Geschichte noch zu deutlich im Nacken der Redaktionen zu spüren?

Seien wir also gespannt, welche Änderungen die nächsten Jahre bringen!