Dramatische Fluchtgeschichten zu 60 Jahren Mauerbau

Was unterscheidet den Tag der deutschen Einheit, den Tag des Mauerfalls und den Tag des Mauerbaus? Zu den ersten beiden Tagen präsentieren Medien gerne Ost-West-Paare, die von ihrer Beziehung berichten dürfen. Um den 13. August herum hingegen stehen Menschen im Mittelpunkt, die nach dem Mauerbau aus der DDR geflohen sind. Wir versuchen uns an einer Systematik der Veröffentlichungen zum diesjährigen Gedenktag, denn: Gibt es nach 60 Jahren Mauerbau noch überraschende, neue Ansätze?

Fluchtwege

Im Auto, in der Luft, im Wasser, durch den Tunnel: Diese Artikel zeigen, dass der Weg eine große Herausforderung war. Nervenkitzelspannung inklusive.

Im Cadillac in die Freiheit (Tagesschau)

Durch die Luft, über die Mauer (Deutschlandfunk Kultur)

Petra Wetzel flieht mit einem Heißluftballon aus der DDR (Schweriner Volkszeitung)

Flucht mit dem Faltboot: Aus der DDR nach Wuppertal (Westdeutsche Zeitung)

Der Mann, der durch die Ostsee schwamm (Süddeutsche Zeitung)

Flucht aus der DDR durch den Teltowkanal :„Ich hatte Angst, dass meine vor Kälte klappernden Kiefer mich verraten würden“ (Tagesspiegel)

Wie Dresdnern die Flucht unter der Mauer durch gelang (Sächsische.de)

Flucht durch den Tunnel — aus dem Wohnzimmer in die Freiheit (Märkische Oderzeitung)

»Wir gehen jetzt zu Papa« (Spiegel Online)

Ausgetrickst

Eine Flucht aus der DDR ist immer auch ein Kampf gegen ein System und seine Vertreter*innen. Wer da ein paar Tricks auf Lager hat, konnte es schaffen, zeigen uns diese Texte:

Wie drei Brüder die DDR-Grenzsoldaten austricksten (T‑Online)

Wie ein paar Studenten die Stasi austricksten (Berliner Morgenpost)

Wie Studierende als Doppelgänger aus der DDR flüchteten (rbb24)

Wenn Ärzte fliehen

Ja, eine ungewöhnliche Kategorie, aber gleich mehrfach vertreten: Wie sind eigentlich Menschen geflohen, die im medizinischen Bereich tätig waren? Dieses Jahr erfahren Sie es endlich!

Wie der ehemalige Karlsruher Klinikdirektor vor dem Mauerbau 1961 in den Westen floh (Badische Neueste Nachrichten)

Die Mediziner Bertram Kaden und Horst-Michael Schulz und ihre Flucht aus der DDR (NDR)

Spektakuläre Flucht aus der DDR – Dann stieg der Arzt ins Wasser und schwamm einen Tag und eine Nacht (Basler Zeitung)

Etwas Lokalkolorit

Auch wenn die Mauer etwas weiter weg stand: Menschen sind aus der DDR in die ganze ehemalige BRD geflüchtet. Eine Lokalzeitung mit Anspruch kann also einen davon finden.

Bielefelder berichtet von seiner dramatischen Flucht (Neue Westfälische)

Leverkusener flüchtete noch vor dem Mauerbau (RP Online)

Flucht aus der DDR: „So glücklich, es geschafft zu haben“ (Hamburger Abendblatt)

Berühmtheiten

Warum kleine unbekannte Menschen auf der Flucht porträtieren, wenn es doch bekannte Geflüchtete gab?

Seine spektakuläre Flucht aus dem Osten machte deutschlandweit Schlagzeilen als „Flucht des Jahres“ (Saarbrücker Zeitung)

Vor 60 Jahren: Conrad Schumann springt über den Grenzzaun der DDR (Frankfurter Rundschau)

Ein DDR-Grenzpolizist springt in die Freiheit und landet im Kreis Günzburg (Augsburger Allgemeine)

Ungewöhnliche Blickwinkel

Und auch das gibt es: Nicht nur in den Westen fliehen. Oder auch mal zurückkehren.

60 Jahre Mauerbau: Dieser Mann floh – in den Osten (Hamburger Morgenpost)

DDR-Flucht: Warum Frank Vogel nach wenigen Tagen zurückkehrte (Freie Presse)

60 Jahre Mauerbau: Und nun?

So platt es klingt: All diese Fluchtgeschichten sind letztlich Fluchtgeschichten. Dramatisch bis lebensgefährlich für die Betroffenen, dramatisch bis einfühlend von den jeweiligen Medien geschildert. Mehr Erkenntnis als „Die DDR war schlimm, wir wollten weg und die Flucht war nicht leicht“ bleibt aber kaum.

Warum diese Geschichten trotzdem so häufig erzählt werden? Damit es menschelt, die trockenen Zahlen der Fluchten wirken längst nicht emotional. 

Und dennoch: Gerade der Mauerbau — Sinnbild des Kalten Krieges und der deutschen Teilung — er wäre eine gute Gelegenheit, diese Aspekte ausführlicher zu beleuchten und zu fragen: Wo kommen wir her, wohin führt der Weg für uns als Gesellschaft? Ein paar dramatische Fluchtgeschichten können das nicht.

Update

Durch die Fokussierung auf Fluchtgeschichten versäumen es Medien leider auch, die DDR-Gesellschaft so komplex zu zeichnen, wie sie gewesen sein dürfte. Denn: nicht alle sind geflohen oder hatten es auch nur vor. Warum? Auch darauf geben uns all diese Erzählungen keine Antworten.

Aktuelle DDR-Vergleiche #32 — #34: Corona, Gendern, Deutschland

Die munteren DDR-Vergleiche waren eine fruchtbare Serie auf diesem Blog. Doch seit einiger Zeit schien es, als hätten sie sich erledigt. Endlich — hatten die Redaktionen wohl gemerkt, dass die Welten damals und heute komplexer waren und sind. Und womöglich führte auch die Kritik nach Pegida, AfD und Co. zu einem Einsehen: So plump können wir mit dem Osten nicht mehr umgehen.

Doch weit gefehlt – es wird wieder lustvoll verglichen! Aber wieso der neue Aufbruch in eine neue Ära der Assoziationen? Schauen wir sie uns doch an!

DDR-Vergleich #32 – Corona-Maßnahmen und Corona-Kritik

Arnold Vaatz, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, veröffentlichte Anfang August einen Gastbeitrag beim Blog „Tichys Einblick“. Darin meint er: „Von Monat zu Monat lernt man mehr von der DDR.“ Was das aus seiner Sicht bedeutet:

  • „Los ging es mit Einführung der Maskenpflicht, nachdem es lange hieß, Masken nützten nichts – so lange es keine zu kaufen gab. In der DDR streute die Partei: Bananen seien gar nicht so gesund.“
  • „Die dreiste Kleinrechnung der Teilnehmerzahlen der Demo vom 1. August durch die Berliner Polizei entspricht in etwa dem Geschwätz von der „Zusammenrottung einiger weniger Rowdys“, mit der die DDR-Medien anfangs die Demonstrationen im Herbst 1989 kleinrechneten.“
  • „Der gefährlichere Versuch, die Straßen leerzukriegen, war damals die Unterstellung, die Demonstranten handelten im Auftrag von CIA und BND. Der heutige Versuch, die Straßen leerzubekommen, besteht in der Warnung: Pass auf, mit wem du demonstrierst.“

Daran wurde öffentlich Kritik geäußert. So unterzog der Berliner Tagesspiegel den einzelnen Punkten einen Faktencheck und meint:

„Die abwegigen Vergleiche des stellvertretenden Unions-Fraktionsvorsitzenden werfen ein Schlaglicht darauf, wie manch einstiger DDR-Bürgerrechtler sich heute mitunter schwer damit tut, sich nach rechts abzugrenzen: Eine vermutete ‚Mainstream‘-Meinung wird mit der verordneten Meinung in der DDR verglichen und Sympathie für die vermeintliche Gegenposition bekundet.“

Auch Antonie Rietzschel von der Süddeutschen Zeitung kritisiert den Vergleich:

„Wenn er nun DDR-Vergleiche zieht, verharmlost er nicht nur das Unrecht, das ihm und vielen anderen angetan wurde. Er verleiht der Erzählung von Pegida, AfD und Neuen Rechten auch neues Gewicht. [… ] Dabei ist Widerspruch wichtig, vor allem gegen die Behauptung, es herrschten heute diktaturähnliche Verhältnisse. Das setzt aber voraus, dass sich [der aus Baden-Württemberg stammende CDU-Bundestagsabgeordnete Axel] Fischer und andere westdeutsche Politiker mit der Geschichte und gesellschaftlichen Dynamiken auseinandersetzen. Leider ist das auch 30 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch nicht selbstverständlich.“

DDR-Vergleich #33 – Gendergerechte Sprache

Ende August wurde die Schriftstellerin Monika Maron vom Spiegel interviewt. Zum Aufmacher wurde ihre Kritik an gendergerechter Sprache gemacht, die sie an die DDR erinnere. Es rege sie auf, wenn Sprachregelungen wie gendergerechte Formulierungen von Behörden, Medien und Unis verordnet würden.

Das ist nicht das erste Mal, dass sie geschlechtergerechte Sprache kritisiert: Beim Aufruf „Schluss mit Gender-Unfug!“ gehörte sie 2019 zu den Erstunterzeichnern (sic!).

In einem Text für die NZZ ordnet sie ihre Sprach-Kritik außerdem in einen anderen Zusammenhang ein: „Schon die Frage, ob der Klimawandel wirklich nur menschengemacht ist oder wie viel Einwanderung eine Gesellschaft verträgt, ohne schwerwiegenden Schaden zu nehmen, oder ob dieses Genderkauderwelsch wirklich den Frauen nutzt, kann ausreichen, um rechter Gesinnungsart verdächtigt zu werden.“ In dem Beitrag aus dem Jahr 2019 geht sie außerdem detailliert auf Vergleiche mit der DDR ein:

„Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, dass ich juristisch belangt werden könnte.

Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.

Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder sogar zu zerstören.“

Von Monika Maron ist kürzlich der Roman „Artur Lanz“ erschienen.

DDR-Vergleich #34 – Deutschland

Ebenfalls im August erschien ein Text auf Spiegel.de mit dem Titel „Wie Angela Merkel heimlich den Sozialismus eingeführt hat“.

Man mag einwenden, der Text sei nicht ernst gemeint. Vielleicht, weil schon der Beginn reichlich bekloppt ist: 

„Seid bereit, immer bereit: Coca-Cola und andere Konzerne werben seit Corona, als wären ihre Chefs Thälmann-Pioniere und die Slogans im Politbüro erdacht worden. Eine fiktive Verschwörungstheorie mit ganz realen Folgen.“ 

Vielleicht sollte auch stutzig machen, dass der Text als Glosse gekennzeichnet ist.

Allerdings: Dieser Text wird auch für bare Münze genommen – „Merkel-Sozialismus: ‚Spiegel‘-Autor fühlt sich durch Werbe-Parolen großer Konzerne an DDR erinnert“. Der entsprechende Artikel der Epoch Times nähert sich den Inhalten der Glosse entsprechend ernsthaft. Und Spaß wird so schnell zu Ernsthaftigkeit.

Wem nutzen diese Vergleiche?

Auf der inhaltlichen Ebene fällt auf: Es geht um Verbote und Vorschriften – offenbar ein geeignetes Futter für Vorwürfe aus Sicht derjenigen, die diese Vergleiche ziehen. Nur: Bei näherer Betrachtung ist nicht viel an diesen Vorwürfen dran. Es handelt sich um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die weit weg sind von staatlich verordneter Zensur und den Maßnahmen der Stasi.

Was aber auch auffällt:

Die Einordnung des Blogs „Tichys Einblicke“ in den Rechtspopulismus wird immer wieder diskutiert.

Essays von Monika Maron wurden zuletzt vom Verlag Antaios herausgegeben, der einem Netzwerk der Neuen Rechten zugeordnet wird.

Die „Epoch Times“ wird von Anhänger*innen der AfD gerne gelesen.

Im größeren Zusammenhang gibt es also neben all diesen Vergleichen eine weitere DDR-Referenz: AfD und Pegida arbeiten immer wieder mit Bezügen zur DDR. Durch letztere wurde die Losung „Wir sind das Volk“ aufgegriffen – was etwa durch DDR-Bürgerrechtler kritisiert wurde. Und die AfD nutzte im letzten Jahr das Wahlkampfmotto „Wende 2.0“

Es scheint, die DDR-Vergleiche kommen nicht mehr rein zufällig: Sie sind Teil einer politischen Agenda. Und wie schon Cato durch ständige Wiederholung darauf abzielte, dass Rom Karthago erobern solle, so sollen uns die wiederkehrenden DDR-Vergleiche glauben lassen, das sie stimmen. Umso wichtiger ist es, dass sie fundiert eingeordnet werden. Und dass Medien kritisch und differenziert die entsprechenden Debatten begleiten.

8. Mai: Der westdeutsche Blick ist eine Niederlage

Am 20. Juli hielten Antje Vollmer und Philipp von Schulthess, Enkel von Stauffenberg, eine Rede zum Hitler-Attentat 1944. Ihr Kniff: Sie deuten dieses Attentat als einen „Tag der Befreiung“. Sie stellen diese Deutung in eine Reihe mit einem anderen „Tag der Befreiung“, dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie nehmen dabei Bezug auf die Weizsäcker-Rede von 1985:

Vor 35 Jahren hat Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Interpretation geprägt, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Das war damals ein mentaler Durchbruch, denn viele hatten bis dahin den 8. Mai nur als Tag der Niederlage begriffen.

Berliner Zeitung, 21. Juli 2020

Interessant sind dabei zwei Dinge: Das Wort „viele“ ist ziemlich unpräzise und die Sicht der DDR – Weizsäcker vertrat ja die BRD – kommt nicht vor. Holen wir das doch nach.

In der DDR war der „Tag der Befreiung“ Teil der offiziellen Erinnerungskultur. Er wurde ab 1950 begangen, teilweise als Feiertag. Die in der Rede angesprochene Sichtweise – der „Tag der Niederlage“ – war eine westdeutsche Sicht, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung ausführt.

Dieses Verständnis ist übrigens heute noch problemlos sagbar – so war eine Rede der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 2013 überschrieben mit „Der 8. Mai war nicht für alle Deutschen ein Tag der Befreiung“. Der Grund: Die deutsche Teilung und das politische System der DDR. Das sind die gleichen Aspekte, die auch im alten Westdeutschland als Begründung für das Sprechen von der „Niederlage“ angeführt wurden. Doch verharmlost das nicht die Verbrechen Deutschlands während der NS-Zeit? Öffentliche Debatten dazu gibt es nicht – der westdeutsche Blick gilt offenbar immer noch als legitim.

Dass das höchste Staatsamt der Bundesrepublik erst 35 Jahre nach der DDR von der Niederlage spricht, kann man also als „Interpretation prägen“ bezeichnen, wie es Antje Vollmer und Philipp von Schulthess tun. Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen. Eine ostdeutsche etwa und es wie Christoph Dieckmann formulieren: „Endlich gesteht’s der Westen!“

Corinna Harfouch, ein „DDR-Star“?

Corinna Harfouch, ein

Es ist ein Trend, der zum Glück zurückgegangen ist: Menschen mit „DDR-Schauspieler“, „DDR-Autorin“ oder einem ähnlichen Etikett zu bezeichnen. Bei den Nachrufen auf Achim Mentzel haben wir gesehen, wie viel differenzierter das mittlerweile geworden ist. Umso mehr fällt auf, wenn es dann doch wieder passiert. Und wenn das Etikett immer weniger passt. Wie bei der Schauspielerin Corinna Harfouch: Sie wurde nun vom Nordkurier als „DDR-Star“ bezeichnet. Wie kommt das?

36 Jahre alt war Corinna Harfouch im Jahr 1989. Ihr Werdegang in der DDR bis dahin: Von 1978 bis 1981 studierte sie Schauspiel, sie spielte unter Heiner Müller an der Volksbühne und hatte 1988 die erste Titelrolle in einem Spielfilm mit dem Titel „Die Schauspielerin“. 

Ihre DDR-Karriere dauerte also elf Jahre — und das auch nur, wenn man ihre Ausbildungszeit mit einrechnet. Acht Jahre sind es, wenn man die Bezeichnung „Schauspielerin“ erst ab dem Abschluss des Studiums ansetzen möchte.

Karriere und Auszeichnungen nach der Wende

Nach 1989 setzte sie Karriere in Gesamtdeutschland fort: Sie spielte Theater in Berlin, 1997 wurde sie zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Auch ihr filmisches Schaffen wurde ausgezeichnet. 2001 erhielt sie den Deutschen Fernsehpreis für die Darstellung der „Vera Brühne“. In dem Doku-Spielfilm ging es um einen realen Kriminalfall am Starnberger See in den 1960er Jahren, im tiefsten Westdeutschland also. In „Der Untergang“ von 2004 spielte sie Magda Goebbels. Der Film um die letzten Tage im Führerbunker — einem grundlegend deutschen Thema also — war für den Oscar nominiert.

Neben vielen weiteren Filmen spielte sie auch in den Verfilmungen von Bibi Blocksberg (2002 und 2004), einer wohl ur-westdeutschen Hörspielreihe.

Nun wurde verkündet, dass Corinna Harfouch neue Kommissarin im „Tatort“ werden wird, der großen Krimi-Institution aus der alten Bundesrepublik.

Corinna Harfouch als „DDR-Star“

Zur Erinnerung: In eben jener Meldung zu ihrer neuen Rolle bezeichnet der Nordkurier Corinna Harfouch als „DDR-Star“.

30 Jahre im vereinten Deutschland mit ausgezeichneten Rollen zu gesamt- und westdeutsche Themen reichen offenbar nicht aus, um gegen höchstens elf Schauspieljahre in der DDR anzukommen. Zumindest für den Nordkurier ist dies offenbar die entscheidende Lebensphase der künftigen Tatort-Kommissarin.

Warum die westdeutsche Mitte im Kalten Krieg feststeckt

Wenden wir uns einmal einem Blick auf Ostdeutschland zu, bei dem zunächst gar nicht klar ist, dass er ein zutiefst westdeutscher Blick ist. Und gerade durch diese Unsichtbarkeit gefährlich sein kann. Es geht um die „Mitte“.

Gerade bei den Versuchen zur Regierungsbildung in Thüringen wird immer wieder davon gesprochen: von einer „Politik der Mitte“ mit einem „Kandidaten der Mitte“ für eine „Mitte der Gesellschaft“. Auch die Medien sind mittendrin in der Rhetorik der Politik und wiederholen die Phrasen über eine „Mitte“, anstatt zu schauen: Stimmt das denn? Und was hat das mit Ostdeutschland zu tun?

Die „Mitte“ in Westdeutschland

Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) schrieb Chefredakteur Matthias Koch einen Beitrag rund um die „Mitte“ in Deutschland. Tatsächlich aber kommen vor allem Anekdoten vor, die aus westdeutschen Erfahrungen stammen: 

Jahrzehntelang pflegte Deutschland einen Mitte-Kult. Willy Brandt gab die launige Parole aus, die SPD müsse die „Partei des donnernden Sowohl-als-auch“ sein. Die SPD wollte nur ja nicht als zu links, die CDU nur ja nicht als zu rechts erscheinen. Und den meisten Szenenapplaus bekam, wer elegant ins jeweils andere Lager hinüberzugreifen verstand.

Heute vor 30 Jahren: Thüringen feiert die Mitte, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 20.02.2020

CDU und SPD: In Westdeutschland konnten die sogenannten Volksparteien nicht nur große Stimmen auf sich vereinen, sie fielen auch in Zeiten des wirtschaftlichen und politischen Erfolgs der BRD. Wie selbstverständlich diese beiden Parteien mit dem Begriff der „Mitte“ verknüpft sind, schrieb die taz im letzten Jahr: „Lediglich Union und SPD müssen sich um die Mitte streiten“, setzt aber auch hinzu: „Eine Partei, die von sich selbst behauptet, die Mitte abzubilden, lohnt es sich infrage zu stellen.“

Indes, die Begrifflichkeit kann bereits auf eine längere Karriere zurückblicken. So schrieb die Zeit 1976: „Die Bundesrepublik läßt sich nur aus der Mitte regieren“. 2001 blickte der Spiegel zurück: „Politik der Mitte – das war für die Sattelzeit der bundesdeutschen Gesellschaft (…) nicht primär eine Losung veränderungs- und experimentierängstlicher Spießer, sondern erfahrungsgesättigte historische Konsequenz aus den europäischen Bürgerkriegen und Pathologien der Extreme in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.“

Die aktuelle „Politik der Mitte“ geht zurück auf Angela Merkel, die dies 2001 als Kerngedanken in einem Beitrag formulierte, der in der Welt erschienen ist.

Auch wenn eine ostdeutsche Kanzlerin den Begriff zum Kern ihres politischen Anspruchs machte: „Die Politik der Mitte“ ist vor allem ein starkes Element der westdeutschen Geschichte.

Die „Mitte“ in Ostdeutschland

Ganz anders sieht das mit Blick auf das heutige Ostdeutschland aus: Die SED regierte 40 Jahre ohne Wahl. Ihr Alleinvertretungsanspruch war in die Verfassung geschrieben. Quasi eine festgeschriebene Partei der Mitte, wenn man so will. Gleichzeitig aber driftete die Realität davon, der wirtschaftliche und gefühlte Abstand zum Westen vergrößerte sich. Von einer „Mitte“ war aber keine Rede, eher wovon man sich abgrenzen wollte: Dem „Klassenfeind“. Der kam 1989/90 dann auch in die DDR. 

Der bereits erwähnte RND-Text setzt eine Rede von Helmut Kohl am 20.02.1990 in Erfurt als Ankerpunkt, als erste ostdeutsche Erfahrung mit der westdeutschen „Mitte“:

Kohls Kritiker, klar, tippten sich damals einmal mehr an den Kopf. Der Kanzler, sagten sie, fahre jetzt durch Ostdeutschland und mache den Menschen unhaltbare Versprechen. Dabei wisse Kohl ja selbst nicht genau, wie dieses oder jenes geregelt werden könne. […] Dennoch lag Kohl goldrichtig

Heute vor 30 Jahren: Thüringen feiert die Mitte, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 20.02.2020

Man könnte auch sagen: Kohl führte mit unhaltbaren Versprechungen die Politik der SED weiter.

Je nach Blickwinkel liegen SED und CDU ohnehin nicht weit auseinander. Ja, in ihrem Selbstverständnis war die SED sozialistisch, also „links“ nach vorherrschender Deutung. Dazu passt, dass die Rechtsnachfolgerin der Partei „Die Linke“ heißt. Andererseits stellte Linke-Politikerin Halina Wawzyniak 2017 fest: „Im Kern war die SED eine rechte Partei. Autoritär, nationenbezogen, ausgrenzend von allem was nicht ‚normal‘ war.“ Und: Auch die CDU kann aufgrund ihrer Mitglieder ein Stück weit als SED-Nachfolgepartei gesehen werden. Im Osten Deutschlands ist und war sie häufig Regierungspartei, in Thüringen etwa durchgängig bis 2014. 

Mit einer Traditionslinie von einer sozialistischen Einheitpartei sowohl zu einer christlich-demokratischen als auch zu einer linken Partei muss die Definition einer „Mitte“ in Ostdeutschland deutlich anders als in Westdeutschland vonstatten gehen. Man muss sich vielmehr fragen: Passt dieses Modell hier überhaupt?

Was ist diese „Mitte“ überhaupt? 

Zugegeben: Wenn es um die Frage der „politischen Mitte“ geht, könnte man sich den differenzierten Blick auf Ost und West komplett schenken. Schließlich ist das Hufeisenschema – eine der Kerntheorien hinter dem Links-Rechts-Mitte-Spektrum – alles andere als differenziert. n‑tv.de verweist darauf, dass das Modell als überholt und zu eindimensional gelte, um die politische Realität zu beschreiben. Im Beitrag kommt auch Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Hajo Funke von der Freien Universität Berlin zu Wort: 

„In Deutschland ist [die Hufeisentheorie] unter anderem verbunden mit dem rechtskonservativen Theoretiker Eckhard Jesse, der aus einem Kalten-Kriegs-Verständnis der 80er- und frühen 90er-Jahre heraus argumentiert und den Rechtsextremismus wie auch die AfD relativiert. Dieses Konzept tut so, als sei es ganz neutral, tatsächlich richtet es sich aber vor allem gegen die Linke. Es kann die Unterschiede zwischen einer pragmatischen Linken, einer extremen Linken und einer gewaltbereiten Linken nicht erfassen.“

Extremismus — links ist nicht gleich rechts, n‑tv.de, 19.02.2020

In der Mitte des Kalten Krieges

Deutlich werden also zwei Dinge: Das Hufeisenmodell und damit die Festlegung einer wie auch immer gearteten Mitte sind rechtskonservative Konzepte. Sie sind aber vor allem auch westdeutsche Erklärmodelle aus dem Kalten Krieg. 

Die „Mitte“ ist also ein Begriff, der eine westdeutsche Normalität beschreibt. Der Osten Deutschlands muss so zwangsläufig als Abweichung auftauchen. Gerade bei den aktuellen Entwicklungen in Thüringen zeigt sich aber auch, welche Folgen es haben kann, wenn ausschließlich eine westdeutsche Erklärungsfolie angelegt wird: Sie macht die Akteur*innen blind für all die Dinge, die in dieser Folie nicht vorgesehen sind. Etwa, wenn sie eine Mitte suchen, wo es sie nicht gibt. Und die Mitte nicht dort sehen, wo sie vorhanden ist. 

So lange Medien und Politik von einer „Mitte“ sprechen, die in den verschiedenen Teilen von Deutschland unterschiedlich gilt, stecken Argumentationen und Deutungen im Kalten Krieg fest.

Welch erfrischend neue Blickwinkel möglich sind, wenn man sich vom festgefahrenen Ballast löst, zeigt beispielsweise Martin Machowecz, Leiter des Leipziger Büros der Zeit. Er twitterte am 14. Februar mit Blick auf eine Umfrage zur Hamburger Bürgerschaftswahl:

„Wessi-Brille“

Erst kürzlich schrieb Sophie Passmann über ihre westdeutsche Sicht auf den Osten Deutschlands, nun zieht Agatha Kremplewski in der Huffington Post nach. Sie schreibt über ihre Erlebnisse in Görlitz, denn es war ihr „erster Ausflug in den Osten“. Wie in einem Drehbuch folgt sie dabei den gleichen Schritten wie Passmann:

1. Die gelernten Stereotype wiederholen:

Drüben ist es irgendwie ärmlicher als bei uns. Das wussten wir aus Witzen über “Dunkeldeutschland”, über den sächselnden Ossi, der mit dem Trabbi über die Grenze brettert, von Sprüchen wie: “Wir hatten doch nüscht.” […] Naja, und im Osten sitzen halt die Nazis. Das ist ja klar.

2. Die Klischees entdecken:

Deswegen ist es wohl kein Wunder, dass ich schon beim Eintreffen in Görlitz nach Spuren für oder gegen Rechtsradikale suche und mir, neben den wunderschönen Jugendstil-Gebäuden und nahezu menschenleeren Straßen, als erstes der Stromkasten mit dem Spruch gegen Nazis auffällt.

3. Ganz selbstkritisch mit sich selbst umgehen:

Gleichzeitig stelle ich fest: Ich schaue wieder durch meine Wessi-Brille und suche geradezu nach bedrohlichen Spuren von politischem Radikalismus. […] Dass viel näherliegende Städte wie zum Beispiel Dortmund über eine sehr aktive Neonaziszene verfügen, hatten wir irgendwie nicht so auf dem Schirm, oder vielleicht haben wir uns den Osten nur einfach noch viel schlimmer vorgestellt […].

4. Am Ende einen versöhnlichen Schluss ziehen:

Wie schön ist es doch, sich als Wessi darauf verlassen zu können: Da drüben ist alles kacke. Wie schön ist es doch, sich als Ossi darauf verlassen zu können: Da drüben sind alle Snobs.

Die Wessi-Brille in Journalismus und Politik

Die beiden Autorinnen sind da nicht allein. Bei ze.tt schrieb Seyda Kurt im Oktober 2018 ebenfalls darüber, wie ihr unhinterfragter westdeutscher Blick ganz reale Folgen für ihre journalistische Arbeit hat:

Und ich habe eine westdeutsche Sicht auf diese Gesellschaft angelernt bekommen und als Standard angelegt. (…) Wir Journalist*innen arbeiten uns in Dauerschleife an dem Bild der verkorksten Ossis ab, sodass wir nicht im Ansatz so weit sind, die Vielfalt an Lebensrealitäten sichtbar zu machen, die es dort gab und gibt.

Diese neue Selbstkritik gibt es nicht nur im Journalismus — auch in der Politik fasst sie Fuß. So verweist Claudia Müller auf die West-Brille innerhalb von Bündnis 90 / Die Grünen. Sie koordiniert die Gruppe ostdeutscher Grünen-Bundestagsabgeordneter — sieben von 64 insgesamt — und meint:

Bündnis 90 ist den Grünen nicht beigetreten, wir haben uns vereinigt – das verpflichtet zu einer gemeinsamen Perspektive. […] Wir Grüne dürfen den westdeutschen Blick auf Land und Leute nicht mit einem gesamtdeutschen verwechseln – die ostdeutsche Perspektive fehlt oft.

Auch bei den Sozialdemokraten kommen prominente Mitglieder aus dem Osten zu dem Schluss: Zu häufig herrsche auch in der SPD Partei ein „Westblick“. Die Ost-SPD soll „wieder stärker Interessen, Botschaften und Visionen aus ostdeutscher Sicht einbringen“, fordert etwa Manuela Schwesig.

Weg vom Toastbrot-Journalismus!

Ja, die Zeiten sind hoffentlich vorbei, in denen Redaktionen anhand von Toastbrot über Ostdeutschland befinden und das als Journalismus verstehen. Das liegt auch an Chefredaktionen, die nun ostdeutscher werden — und das ganz selbstbewusst. So schrieb ze.tt-Chefin Marieke Reimann unter der Überschrift „Mehr Ossis in die Medien, bitte!“:

Ich arbeite seit 15 Jahren im deutschen Journalismus und war in jeder Redaktion, in der ich schrieb, die einzige oder eine von sehr wenigen Ostdeutschen. […]

Es [sollte] Anspruch und Aufgabe eines gesamtdeutschen Journalismus sein, ein – einheitliches – Bild aller Ecken unseres Landes zu präsentieren und für eine ausgewogene Berichterstattung zu sorgen. Dann bin ich vielleicht in einigen Jahren nicht mehr eine von ganz wenigen ostdeutschen Chefredakteur*innen Deutschlands.

Die ostdeutsche Herkunft der Chefredakteurin ist den Themen des Portals durchaus anzumerken. Ähnliches bei anderen Portalen unter Ost-Leitung: So hatte Juliane Leopold als Chefredakteurin bei BuzzFeed durchaus progressiv Ostthemen platziert, inzwischen ist sie Leiterin von tagesschau.de. Auch das langjährige Engagement der „Zeit im Osten“ lässt die alte Dame Zeit auf dem Ost-Auge wieder besser sehen.

Und weil die ostdeutschen Journalist*innen ja nicht alles selbst machen können: Wie gut, dass im Westen die eigene Sehschwäche gesehen wird. Denn eine neue Brille ist immer eine gute Idee!

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Aktuelle DDR-Vergleiche #30 – Bürgerversicherung

„Wir brauchen Vielfalt in diesem Land und keine DDR 2.0“, sagt Oliver Bäte. Er ist Vorstandsvorsitzender der Allianz-Versicherung. Was man an diesem Zitat vielleicht nicht sofort erkennt: Damit spricht er sich gegen die Bürgerversicherung aus. Wikipedia definiert sie so:

Der Begriff Bürgerversicherung bezeichnet in Deutschland verschiedene Konzepte eines solidarischen Sozialversicherungssystems mit dem Kennzeichen, dass ausnahmslos alle Bürger und unter Einbeziehung aller Einkunftsarten Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung leisten und gleichermaßen alle Bürger im Versicherungsfall daraus gleiche Leistungen in Anspruch nehmen können.

Dieses Konzept könnte Teil der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD werden. Warum das aber ein Aufleben der DDR bedeuten würde? Das sagt Bäte nicht. Das Schlagwort reicht offenbar.

Und das nicht zum ersten Mal. Im Dezember 2017 titelte der CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Steier für eine Pressemitteilung zur Bürgerversicherung: „Ich dachte, wir hätten die DDR überwunden, liebe SPD“. Auch hier bleibt es beim deftigen DDR-Wort, im Text fehlt jeder Bezug darauf.

Was die DDR und die Allianz verbindet

Dabei könnte sich Oliver Bäte kaum über die DDR beschweren: Schließlich hat die Allianz nach der Wiedervereinigung das Privatkundengeschäft der staatlichen Versicherung der DDR übernommen. Das Unternehmen wurde dadurch zum Marktführer in den ostdeutschen Bundesländern.

Was Bäte mit „Vielfalt“ meint, hat er übrigens auch nicht erklärt.

„Supergeheimdienst“

Was ist ein Supergeheimdienst? Der MDR findet: Das ist der militärische Geheimdienst der Nationalen Volksarmee! Am 12.9.2017 zeigte der Sender einen Dokumentarfilm und kündigte ihn mit großen Worten an. Eine zentrale Aussage:

Dieser Geheimdienst war eine Art Supergeheimdienst der DDR, die NSA des Ostens. […]Riesige Datenmengen an Funk- und Faxverbindungen wurden von Dessau aus abgefangen, gespeichert und ausgewertet. Selbst bei den Telefonaten des US-Präsidenten in der Air-Force-One lauschte die DDR mit.

Die Ankündigung zitiert aber auch einen Techniker. Das klingt schon deutlich weniger brisant:

„An der Wand standen riesige Verteilerschränke. Außerdem gab es Antennenverteiler und ‑verstärker für die Aufklärungsarbeitsplätze.“

Was davon kann nun die Dokumentation einlösen? Schauen wir also in den Film, der in der ARD-Mediathek abrufbar ist.

Supergeheim?

Gleich zu Beginn erhält der Begriff „Supergeheimdienst“ eine etwas andere Definition. Der Begriff meint nämlich nicht einen unglaublich mächtigen Geheimdienst, sondern einen unglaublich geheimen Geheimdienst. Als Stichwortgeber dient ein Ausschnitt aus einer Tagesthemen-Sendung von 1992. In diesem Jahr sei die Existenz des Geheimdienstes erstmals öffentlich geworden:

„Es gibt sogar Geheimdienste, die sind so geheim – supergeheim – dass praktisch keiner von ihrer Existenz oder ihren Leuten weiß. In der DDR existierte so ein „Supergeheimdienst“ neben der Stasi. Das war der Geheimdienst der Nationalen Volksarmee.“

Dumm nur: Kurz später in der Dokumentation kommt Bodo Hechelhammer, Chefhistoriker des BND, zu Wort. Er stellt fest:

„Erst Mitte der 1990er Jahre wurde das Schild „Bundesnachrichtendienst“ hingehängt. Und ich bin mir nicht sicher, ob jeder in der Bundesrepublik Deutschland – hätte man ihn gefragt – wo denn der entsprechende Auslandsnachrichtendienst seine Zentrale hat, von seiner Existenz oder seiner Zentrale gewusst hätte.“

Als der NVA-Geheimdienst 1992 öffentlich wurde, wussten die Menschen aus der BRD also nicht einmal von der konkreten Existenz ihres eigenen Geheimdienstes. Erst 2014 erhielten weitere BND-Dienststellen offizielle Schilder nach außen. Bis dahin blieben sie also geheim. Supergeheim, um in der Sprache der Dokumentation zu bleiben. Da der Film aber selbst den NSA-Vergleich zieht: Der US-Geheimdienst ist so supergeheim, von ihm wissen wir nicht einmal genau die Zahl der Angestellten und das Budget.

Super-Aufgaben?

BND-Mann Hechelhammer nennt auch die Aufgaben des Geheimdienstes der NVA:

  • Alle militärischen, militärpolitischen und rüstungstechnischen Informationen über die BRD sammeln
  • Informationen über militärischen Potenziale der BRD und Westalliierten sammeln
  • Frühzeitig Gefahren für DDR oder NVA erkennen.

Was der Film unterlässt, ist eine Einordnung in die Tätigkeiten ähnlich gelagerter Organisationen. So gehören zu den Aufgaben des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) der BRD:

  • Informationssammlung und ‑auswertung zu Zwecken der Spionage-/Sabotageabwehr und der Extremismus- bzw. Terrorismusabwehr

Und beim Bundesnachrichtendienst gibt es unter anderem folgende Aufträge:

  • Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind.

Kurz gesagt: militärische Geheimdienste sollen Informationen zusammentragen, die für den militärischen Schutz interessant sein können.

Supergroß?

Bisweilen nennt die Dokumentation Zahlen, die groß wirken sollen. 1.000 Menschen haben beim NVA-Geheimdienst gearbeitet, heißt es etwa. Ist das viel?

Beim MAD waren 1984 rund 2.000 Personen tätig. Und beim BND gab es 2016 etwa 6.500 Bedienstete. Und bei der NSA sind es wahrscheinlich 40.000 Menschen.

Mit einer weiteren Zahl möchte der Film die Macht des Dienstes unterstreichen: Mit der Sendestelle in Scheuder bei Dessau. Diese Sendestelle habe für den Kontakt zwischen Agenten und Zentrale gesorgt und sei so groß wie 15 Fußballfelder gewesen. Wie sieht das im Kontext aus? Auch hier lässt uns die Dokumentation im Dunkeln.

Schauen wir uns also die künftige BND-Zentrale in Berlin an: Diese wird 36 Fußballfelder groß sein, also rund 260.000m². Der aktuelle Standort in Pullach ist mit 42 Fußballfeldern bzw. 30 Hektar sogar noch größer. Das NSA-Hauptquartier ist mit 280.000 m² so groß wie 39 Fußballfelder – und allein das externe Daten-Zentrum umfasst eine Größe von 7,8 Fußballfeldern.

Was lernen wir daraus?

  • Geheimdienste operieren geheim. Das mag banal klingen, man kann es aber offenbar nicht deutlich genug sagen, wenn es um sogenannte Stasi-Methoden oder eben um den militärischen NVA-Geheimdienst geht.
  • Kontext ist wichtig. Eben weil Geheimdienste für uns unbekannt sind, benötigen wir Vergleichsgrößen. Muss uns etwa eine Zahl aufschrecken? Ist eine Handlung besorgniserregend? Journalist_innen sollten da für uns einordnen und Zahlen nicht für hektische Effekte nutzen. Vor allem dann nicht, wenn sie es eigentlich nicht hergeben.
  • Nicht aufregen und nicht verniedlichen. Vergleiche sind immer schwierig, weil sie selten passen. Können wir geheimdienstliche Aktivitäten in der DDR, der BRD und der USA wirklich miteinander vergleichen? Zumal, wenn Jahrzehnte dazwischen liegen?

Aktuelle DDR-Vergleiche #29 – Türkei

Wie schlecht es um internationale Beziehungen steht, merkt man daran, dass man mit der DDR vergleicht. Zwischen Deutschland und der Türkei ist jetzt soweit. Ganz offiziell, denn Finanzminister Wolfgang Schäuble hat der Bild-Zeitung gesagt:

„Die Türkei verhaftet inzwischen willkürlich und hält konsularische Mindeststandards nicht ein. Das erinnert mich daran, wie es früher in der DDR war.“
(zitiert nach FAZ)

Das ist auf protokollarischer Ebene nur noch Schritt entfernt vom Nazi-Vergleich, bei dem der türkische Präsident Erdogan längst angekommen ist. Man nähert sich also an.

Ernst

Aber was ist dran am DDR-Vorwurf? Das fragt der Nordkurier aus Neubrandenburg. Er untersucht die Reisefreiheit (besser als in der DDR), Demokratie (Erdogan frei gewählt, Zettelfalten in der DDR), Medien (noch gibt es freie Presse in der Türkei) und Religion (Theorie und Praxis in beiden Staaten schwierig). Auf die konkreten Vorwürfe von Schäuble — Verhaftungen und konsularische Mindeststandards — geht der Nordkurier allerdings nicht ein. Und nimmt die zugespitzte Formulierung Schäubles damit ernster als sie gemeint war.

Und auch Egon Krenz nimmt Schäuble ernst:

„Sein jetziger Vergleich ist genauso absurd, wie der Vergleich der Bundesrepublik mit dem Nazireich durch Erdogan.“
(lt. dpa, zitiert nach Sächsische Zeitung)

Heiterkeit

Türkei, DDR: Es ist, als müssten alle etwas dazu sagen. Und weil auf jedes Drama eine Komödie folgt, kümmern sich auch die Glossen darum. So greift Hans Zippert in der Welt in die Mottenkiste: Keine Autos aus Pappe, ausreichend Bananen und Sportler ohne Doping. Lustig! Das beruhigt das westdeutsche Publikum und gibt ihm etwas zum schmunzeln.

Geht da nichts mehr außer Aufregung und Belustigung? Doch: Ausgerechnet das Nachrichtenportal von Yahoo findet einen Kommentar abseits von Ernst und Heiterkeit:

„Es bedarf keiner Dämonisierung oder eines Schubladentransfers, um die aktuellen Entwicklungen in der Türkei zu beschreiben.“

Die queer-hinkende Stasi-Inquisition der Zeit

Neulich in der Redaktion der Zeit:

„In unserer Überschrift fehlt noch was. Da soll das Thema Unterdrückung ganz differenziert…“

„Schreib einfach ‚Stasi‘ rein!“

„Super, danke. Was gibt’s heute in der Kantine?“

Dieses Gespräch mag ausgedacht sein – aber tatsächlich prangt diese Überschrift über einer Rezension der Zeit zum Essayband „Beißreflexe“ (Herausgeberin: Patsy l’Amour laLove). Sie lautet:

„Die queer-feministische Gender-Stasi“

Was soll das sein? Der Text selbst gibt nicht sonderlich viele Antworten. Er macht auch nicht transparent, ob der Begriff aus dem besprochenen Buch stammt oder vom Rezensenten. Der Begriff ist nicht einmal zentral im Text und wird nur an einer Stelle beiläufig erwähnt. Hier ist das komplette Zitat:

„Die eigene soziale und politische Position ist niemals rein. Das gilt für die in diesem Buch an den Pranger gestellte queer-feministische Gender-Stasi der akademischen Aktivistenszene genauso, wie für die protestierenden Polittunten um Patsy.“

Was queer und Überwachung verbindet

Was sich über den Text erschließen lässt: Der Essayband kritisiert, dass der ursprünglich befreiend gemeinte Begriff „queer“ in der deutschen Hochschul- und Aktivistenszene inzwischen anders zum Einsatz komme. Die menschlichen Körper sollten durch die Analysen von Michel Foucault und Judith Butler nicht mehr gesellschaftlich konstruiert sein, Identitäten sollten aufgelöst werden. Inzwischen gebe es aber eine „Sprachpolizei“ [im Artikel übrigens ohne Anführungszeichen], die die richtige Anwendung queerer Vorstellungen überwache. Bei Fehlverhalten werde mit Denunziation und Ausschluss gestraft. Im Text heißt es dazu:

„Aus einer radikalen sexualpolitischen Kritik ist eine moralische Kontrolle geworden. Wie konnte es zu dieser Form der Überwachungskultur kommen?“

Kritisiert wird die massive Selbstkritik an einer Homosexualität im Mainstream. Auch die Hierarchisierung von Diskriminierungserfahrungen steht in der Kritik, das Verhältnis von Lesben, Schwulen und Muslimen etwa sei schwierig. Und schließlich analysiert der Essayband: Es sei eine Vorstellung entwickelt worden, es gäbe eine Form von Subjektivität außerhalb von Herrschaftsverhältnissen. Er führt aus:

„Ein moralisch einwandfreies Wesen, vollkommen frei von Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie. Ein queerer Unschuldsengel. Eben dieser Fantasie von Reinheit und Gewissenhaftigkeit verdankt sich die inquisitorische Atmosphäre, die sich innerhalb der queer-feministischen Szene breitgemacht hat.“

Was Inquisition, Stasi und queer verbindet

Und da sind wir wieder bei der Überschrift. Aus einer Analogie – der Inquisition – erwächst die nächste – die Stasi. Dabei lassen sich durchaus Parallelen finden, grundsätzlich steht in allen drei Fällen die Überwachung von Weltbildern im Zentrum. Und da beginnen die Probleme, denn bereits diese Beschreibung ist sehr verkürzt. Schaut man genauer hin, gibt es immer weniger Ähnlichkeiten:

  • Die Inquisition waren kirchliche Gerichtsverfahren gegen Vertreter_innen einer Meinung, die gegen kirchliche Glaubensgrundsätze stand.
  • Die Stasi war Nachrichtendienst und Geheimpolizei, die unter anderem Menschen beobachtete, bei denen Verdacht auf politischen Widerstand oder Republikflucht bestand.
  • Die queer-Auseinandersetzung ist genau das: Eine Auseinandersetzung, in der eine Bewegung und eine Theorie den besten Weg für sich suchen. Zu ihren Methoden gehören beispielsweise Essays, wie die in der Zeit rezensierten.

Zu den Aufgaben der Medien gehört es, solche Auseinandersetzungen kritisch und nachvollziehbar zu begleiten. Wenn die Vergleiche hinken und nicht einmal klar ist, ob es am rezensiertem Werk oder am Rezensenten liegt, dann ist das eher nicht gewährleistet.