#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

Irgendwie sind 33 Jahre Mauerfall wie ein 33 Jahre andauernder Grundkurs, journalistisch angemessen über eine Region und ihre Menschen zu berichten. Mit Erfolg: Bei der Berichterstattung zu Ost-West-Themen sind die Antworten fundierter und erhellender geworden.

Doch es ist beim Blick auf den Osten Deutschlands geblieben. Denn eine Hälfte der vielbeschworenen deutsch-deutschen Geschichte blieb gerne außen vor. Denn:

Was ist mit Westdeutschland?

Unsichtbar: Westdeutschland

Bei all den Berichten, Analysen und Erkenntnissen über Ostdeutschland bleibt die alte Bundesrepublik so blass wie, nun ja: die neuen Bundesländer den Westdeutschen nach der Vereinigung.

Denn anders als bei Ostdeutschen gibt es keine medialen Deutungsversuche, was Westdeutsche vom Rest Deutschlands unterscheidet. Westdeutschland ist zwar die Norm, an und mit der sich Ostdeutschland beständig messen muss – doch wo wird diese Norm benannt?

Tatsächlich sind der westdeutsch schauende Blick und die aus Westdeutschland agierende Position oft nicht sichtbar. Ähnlich sieht es bei westdeutschen Privilegien aus: Auch sie sind unsichtbar — aber stets vorhanden. So können Westdeutsche aus der Perspektive eines allgemein-deutschen „Wir“ sprechen und ihre Herkunft ist gemeint, wenn über „Deutschland“ gesprochen wird. Westdeutschland und Westdeutsche scheinen derart selbstverständlich, dass sie nicht erklärt werden müssen.

Erklärungsbedürftig: Westdeutschland

Das ist der Stand, den man für die aktuelle mediale Berichterstattung feststellen muss. Dabei gehört es zu den zentralen Aufgaben des Journalismus, kritisch zu sein. Und das heißt: Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Blinde Flecken sichtbar machen. Insbesondere bei denjenigen, die in der Öffentlichkeit sprechen und entscheiden können. Leider passiert das nicht und eine machtvolle Position bleibt unsichtbar – und zieht möglicherweise einen Teil ihrer Macht aus dieser Unsichtbarkeit.

Dabei wäre es wichtig, diesen Teil Deutschlands zu verstehen. Schließlich ist es in der Regel ein westdeutscher Blick, der Debatten in Deutschland setzen und durchführen kann. Gleichzeitig stellen westdeutsch sozialisierte Menschen den Großteil der Eliten, etwa in Politik, Wirtschaft und Medien.

Es sollte daher ein breites Interesse geben, Westdeutschland und Westdeutsche zu verstehen. Deren Kultur und die davon geprägten Selbstverständnisse würden helfen, Stimmungen und Entscheidungen zu verstehen.

Deshalb: #WestdeutschAwareness Week!

Wir wollen daher unseren Beitrag leisten, das unsichtbare Westdeutschland zu erkennen: Am 9. November rufen wir die #WestdeutschAwareness-Week aus!

Im 33. Jahr des Mauerfalls wollen wir so auf die Leerstelle „Westdeutschland“ aufmerksam machen. Wir wollen Diskussionen in Bewegung bringen und Akteur*innen vernetzen. Wir wollen zusammentragen, was es bereits an Erhellendem über diesen Teil von Deutschland gibt. Vor allem aber wollen wir: Westdeutschland verstehen.

Wer jetzt irritiert ist: Dieses Gefühl gehört dazu, wenn eine unsichtbare Norm ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt word. Sich mit ihr zu beschäftigen, heißt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und ja, das muss zwangsläufig irritieren.

Wer jetzt schmunzelnd den Kopf schüttelt, denkt wahrscheinlich an all die einseitigen und klischeehaften Medienberichte über Ostdeutschland. Soll es den gleichen Quatsch jetzt auch über Westdeutschland geben? Auf keinen Fall! Wir sollten daraus lernen, wie wir über- und miteinander sprechen können. Damit aus der deutsch-deutschen Berichterstattung auch ein deutsch-deutsches Verständnis werden kann.

Fragen an Westdeutschland

Um gute Gedanken über Westdeutschland zu finden, stehen bei dieser #WestdeutschAwareness-Week Fragen im Mittelpunkt. Das bedeutet konkret: sieben Aspekte über Westdeutschland, die wir zusammen beleuchten können.

Machen Sie mit und sprechen Sie über Westdeutschland! Unten in den Kommentaren, drüben bei Twitter, per Mail oder bei Freunden und Bekannten.

  • Was hat sich durch den Mauerfall in Westdeutschland und in westdeutschen Biografien verändert?
  • Was sind aktuelle Herausforderungen, die spezifisch westdeutsch sind?
  • Warum sind in Westdeutschland rechte Positionen weniger stark als im Rest von Europa?
  • Warum verstehen sich Westdeutsche nicht als westdeutsch, sondern eher als Nord- oder Süddeutsche, als Deutsche oder als Europäer*innen?
  • Gibt es Privilegien in Westdeutschland bzw. für in Westdeutschland sozialisierte Menschen? Wenn ja: Welche sind das?
  • Was lernen Schüler*innen über westdeutsche Geschichte und Kultur?
  • Warum ist Westdeutschland anders als Ostdeutschland?
  • Bonusfrage: Was sollte auf diesem Titelbild zu sehen sein?
    So isser, der Wessi

Was es schon gibt: Westprivilegien, Critical Westness und Beispiele

Die Idee, auf Westdeutschland zu blicken und unsichtbare Normen und privilegierte Positionen zu benennen, ist nicht neu. Bereits 2010 hat die Kulturanthropologin Urmila Goel dazu geschrieben.

2019 brachte der Sozialwissenschaftler Heiner Schulze den Begriff der „Critical Westness“ in die Debatte ein. Das meint einen (selbst-)kritischen Blick auf westdeutsche Normen. (Hier gibt es eine archivierte Version.)

Aus beiden Texten kommen viele Anregungen für den Ansatz und die Inhalte unserer Aktion – vielen Dank an die Autor*innen.

Und schließlich gibt es auch journalistische Veröffentlichungen, die #WestdeutschAwareness zeigen: Unter dem Titel „Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ veröffentlichte 2022 Nicole Zepter ein Essay aus westdeutscher Perspektive. Ebenfalls 2022 und auch ausdrücklich westdeutsch schrieb Markus Decker: „Wie ich mit Olaf Scholz in der DDR mal gemeinsame Sache machte“. Beides sind erhellende Beispiele, wie fruchtbar es sein kann, diese Perspektive einzubringen.

Vielen Dank an Kati und Anne für die wertvollen Rückmeldungen!

Atommüll-Endlager — die Suche nach Bundesländern im Osten

Atommüll-Endlager - die Suche nach Bundesländern im Osten

Wo wird es Endlager für Atommüll in Deutschland geben? Heute hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Zwischenbericht vorgelegt. Wie zu erwarten war, spielt in den Medienberichten hierzu der Standort Gorleben eine prominente Rolle. Aber auch Ostdeutschland kommt prominenter vor als gedacht. Und gleichzeitig wird Morsleben prominent ignoriert. Doch machen wir uns zunächst auf die Suche, wo Endlager in Deutschland eigentlich möglich sind.

Auf der Website der FAZ lautet der Teaser:

 „In Gorleben wird es kein Endlager für Atommüll geben, auch das Ruhrgebiet scheidet aus. In Frage kommt dagegen Bayern – aber auch große Teile Ostdeutschlands.“

Auffällig: Neben einer Stadt und einer Bergbauregion werden hier offenbar zwei Bundesländer genannt: Bayern und Ostdeutschland. Aber zeigt denn der Artikel detaillierter auf, worum es sich bei den „großen Teilen Ostdeutschlands“ handelt? Nicht wirklich:

„Die BGE hat neben Bayern andere Salzstöcke in Niedersachsen wie auch Gebiete in Baden-Württemberg sowie große Teile Ostdeutschlands auf der Liste. Das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Heißt also: „Große Teile Ostdeutschlands“ umfassen nicht Mecklenburg-Vorpommern.

Aber vielleicht kann uns die Meldung von n‑tv konkretere Informationen geben?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern. Das Saarland, Teile von Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Argh! Aber vielleicht die Süddeutsche Zeitung?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern.“

Verdammt, auch nicht… Wie ist es mit dir, Deutsche Welle?

„Salzstöcke in Niedersachsen gelten weiter als grundsätzlich geeignet, ebenso Granitschichten in Bayern — das sich politisch zuvor gegen Atommüll verweigert hatte. Auch in Baden-Württemberg und weiten Teilen Ostdeutschlands finden sich geeignete Gebiete. Weil der Atommüll nicht in Erdbebenregionen lagern soll, scheiden das Ruhrgebiet und das Saarland mit ihren zahlreichen alten Bergwerken aus.“

Aber vielleicht kann die Zeit präzisieren?

„Die Teilgebiete finden sich deutschlandweit unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und in ostdeutschen Ländern wieder.“

Also auch nicht. Tagesschau, du informierst uns doch immer differenziert, oder?

„Diese sogenannten Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern.“

Was steckt dahinter?

Halten wir fest: Das bringt alles nichts. Schließlich zeigt ein genauer Blick, dass sich die oben genannten Artikel auf eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) mit eben jener Formulierung stützen. Zwangsläufig ist sie nicht, wenn man auf die heute veröffentlichte Karte schaut.

Teilgebiete für Atommüll-Endlager
Quelle: Pressemitteilung der BGE vom 28.9.2020

Ebenso könnte man etwa von Nord- oder Süddeutschland sprechen. Oder wie es die BGE in ihrer Pressemitteilung formuliert hat:

„Die Teilgebiete verteilen sich auf alle Bundesländer mit Ausnahme des Saarlands.“

Liest man diese Pressemeldung ebenso wie den kompletten Bericht, kann man übrigens feststellen: Der Begriff „Ostdeutschland“ kommt dort gar nicht vor. Die BGE beschreibt die Teilgebiete für mögliche Endlager stattdessen ganz nüchtern anhand der Bundesländer. Der Blick auf die „ostdeutschen Länder“ ist also in diesem Fall eine mediale Konstruktion – von der dpa ins Leben gerufen und danach unhinterfragt weitergetragen.

In den letzten Jahrzehnten wurde so häufig von „Ostdeutschland“ gesprochen, dass es leicht fällt, hier ein homogenes Gebiet auszumachen. Ganz im Gegensatz zu Nord- oder Süddeutschland – hier stehen konkrete Regionen und spezifische Bundesländer im Fokus. Dass dies etwa auch für Thüringen und Brandenburg gelten könnte, kann der mediale Blick offenbar nicht sehen.

Ost-West-Debatte beim Atommüll

Dabei beschränkt sich der Bezug auf Ostdeutschland beim Thema Atommüll nicht nur auf bloße Kartenbeschreibungen. So heißt es in einem Kommentar im Berliner Tagesspiegel:

„Wenn in einem Jahr die Bundestagswahl ansteht, könnte die Vorauswahl in der Endlagersuche ein heißes Wahlkampfthema werden. (…) Da ist Bayern, wo sich CSU und Freie Wähler 2018 in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, dass der Freistaat kein geeigneter Standort sei. (…) Dann sind da Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die sich immer wieder frei nach dem Motto äußern: „Überall, nur nicht hier“. Und aus dem Osten ist auch mal zu hören, man wolle kein Endlager für westdeutschen Atommüll bauen.“

Und schwupps, sind wir mittendrin in der Ost-West-Debatte. Da reicht offenbar auch ein ungefähres Munkeln („ist auch mal zu hören“), um auf die gleiche Stufe wie ein Koalitionsvertrag gestellt zu werden. Dabei wäre ein anderer Hinweis deutlich treffender gewesen: Westdeutscher Atommüll im Osten ist Realität.

Was wird nicht thematisiert?

In Sachsen-Anhalt befindet sich das Endlager Morsleben. Von 1971 bis 1991 lagerte die DDR hier radioaktive Abfälle ein. Aber auch danach ging es weiter – und das in deutlich größerem Umfang, wie der Spiegel 2019 berichtete:

„Während das nun wiedervereinigte Deutschland andere Industrieanlagen der DDR als hoffnungslos überaltert und nicht wettbewerbsfähig abwickelte, sollte das Atommüll-Endlager bestehen bleiben. Die DDR-Betriebserlaubnis galt weiterhin. Zwischen 1994 und 1998 lagerte die Bundesrepublik in nur vier Jahren deutlich mehr ein als die DDR in 20 Jahren, und es sollte ursprünglich noch viel mehr werden.“

Dann stoppte ein Gericht die weitere Einlagerung, seit 2005 läuft ein Verfahren zur Stilllegung (weitere Informationen bei der BGE).

Beim aktuellen Bericht der BGE gehört Morsleben zu den ausgeschlossenen Gebieten. Im Gegensatz zum 120 Kilometer entfernten Gorleben und seiner Protestkultur stand dieses Lager kaum im Zentrum der Aufmerksamkeit – vor allem nicht in einer gesamt- oder gar westdeutschen Perspektive. 

Dabei hätte es sich jetzt angeboten, von Morsleben zu sprechen. Nicht nur, um vorhandene Atom-Endlager in Deutschland zu thematisieren. Sondern auch, damit nicht nur von „ostdeutschen Ländern“ einerseits und ostdeutschen Befindlichkeiten andererseits die Rede ist.

8. Mai: Der westdeutsche Blick ist eine Niederlage

Am 20. Juli hielten Antje Vollmer und Philipp von Schulthess, Enkel von Stauffenberg, eine Rede zum Hitler-Attentat 1944. Ihr Kniff: Sie deuten dieses Attentat als einen „Tag der Befreiung“. Sie stellen diese Deutung in eine Reihe mit einem anderen „Tag der Befreiung“, dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie nehmen dabei Bezug auf die Weizsäcker-Rede von 1985:

Vor 35 Jahren hat Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Interpretation geprägt, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Das war damals ein mentaler Durchbruch, denn viele hatten bis dahin den 8. Mai nur als Tag der Niederlage begriffen.

Berliner Zeitung, 21. Juli 2020

Interessant sind dabei zwei Dinge: Das Wort „viele“ ist ziemlich unpräzise und die Sicht der DDR – Weizsäcker vertrat ja die BRD – kommt nicht vor. Holen wir das doch nach.

In der DDR war der „Tag der Befreiung“ Teil der offiziellen Erinnerungskultur. Er wurde ab 1950 begangen, teilweise als Feiertag. Die in der Rede angesprochene Sichtweise – der „Tag der Niederlage“ – war eine westdeutsche Sicht, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung ausführt.

Dieses Verständnis ist übrigens heute noch problemlos sagbar – so war eine Rede der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 2013 überschrieben mit „Der 8. Mai war nicht für alle Deutschen ein Tag der Befreiung“. Der Grund: Die deutsche Teilung und das politische System der DDR. Das sind die gleichen Aspekte, die auch im alten Westdeutschland als Begründung für das Sprechen von der „Niederlage“ angeführt wurden. Doch verharmlost das nicht die Verbrechen Deutschlands während der NS-Zeit? Öffentliche Debatten dazu gibt es nicht – der westdeutsche Blick gilt offenbar immer noch als legitim.

Dass das höchste Staatsamt der Bundesrepublik erst 35 Jahre nach der DDR von der Niederlage spricht, kann man also als „Interpretation prägen“ bezeichnen, wie es Antje Vollmer und Philipp von Schulthess tun. Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen. Eine ostdeutsche etwa und es wie Christoph Dieckmann formulieren: „Endlich gesteht’s der Westen!“

Bündnis 90: Bedeutend gefeiert und prominent ignoriert

Stell dir vor, du bist als Journalist auf einer Feier und weißt anschließend nicht, was gefeiert wurde. Klingt seltsam? Leider ist dies an diesem Wochenende mehrfach passiert. Denn die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ beging am 10. Januar 2020 einen Doppelgeburtstag — 40 Jahre „Die Grünen“ und 30 Jahre „Bündnis 90“. Und einige Medienberichte haben einen Teil der Feier übersehen.

Zuvor ein kurzer Exkurs in die Geschichte (ausführlich bei Wikipedia): Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“ gegründet. 1990 wiederum bildeten verschiedene Oppositionsgruppen in der DDR die Listenvereinigung „Bündnis 90“. Drei Jahre später schlossen sich beide Gruppen zusammen, die Partei heißt seitdem offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“.

Im Januar 2020 nun also das große Jubiläumsfest, die großen Medien berichten ausführlich. Allerdings scheinen sie von ganz unterschiedlichen Festen zu schreiben. Und von ganz unterschiedlichen Parteien.

Die Problematik der zweiteiligen Partei wird allein von Jana Hensel benennt, in der Zeit schreibt sie:

Nicht nur der 40. Geburtstag der West-Grünen wurde begangen, sondern auch der 30. Geburtstag von Bündnis 90, dem ostdeutschen Vorläufer der Partei, der in der Vergangenheit gern mal vergessen wurde.

Jana Hensel: Happy Birthday, Gegenwart, Die Zeit, 11.01.2020

Weitere Erläuterungen zu dieser Problematik oder zur Bedeutung von Bündnis 90 gibt sie allerdings nicht.

Die Süddeutsche Zeitung stellt die Geschichte der Partei ausführlich dar. Selbst die Geschichte der Grünen in der DDR bekommt einen eigenen Abschnitt — so detailliert ist sonst kein Medium bei diesem Thema. Constanze von Bullion schlägt in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen eine Verbindung zwischen der Partei und der deutsch-deutschen Geschichte:

Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

Constanze von Bullion: Langer Lauf zum deutschen Staat, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2020

Bedeutung von Bündnis 90

Auch andere Artikel sehen die Verbindung aus Bündnis 90 und Grünen als bedeutungsvoll an. So schreibt etwa Sascha Lehnartz in Die Welt:

Dass die Partei in die Mitte der Gesellschaft gerückt sei, sei nicht zuletzt dem Zusammenschluss mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 zu verdanken

Sascha Lehnartz: Eine Mahnung von Grumpy Opa Joschka an die stürmische Jugend, Die Welt, 11.01.2020

Und Stephan-Andreas Casdorff meint im Tagesspiegel:

Dass die Grünen zu einer politischen Institution werden konnten, haben sie der Wiedervereinigung zu verdanken. Ohne die und eine nachfolgende Vereinigung mit Bündnis 90 aus dem Osten gäbe es sie heute womöglich gar nicht mehr. Oder nicht so. (…) Die Bürgerbewegung der DDR war gewissermaßen ihre Rettung.

Stephan-Andreas Casdorff: Dem Osten sei Dank!, Tagesspiegel, 12.01.2020

Die DDR-Oppositionellen haben also nicht nur einen Staat zu Fall gebracht, sondern auch die Grünen gerettet! Das ist in dieser Lesart überraschend deutlich und wäre vor ein paar Jahren wahrscheinlich so noch nicht möglich gewesen.

Bündnisgrüne: Konflikte und Ausblicke

Wo aber steht diese Partei aus zwei Herkünften heute? Das Magazin Cicero sieht eine westdeutsche Dominanz:

Doch trotz aller Verneigungen (…) kann auch an diesem Abend auch der Auftritt der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne Birthler, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei westdeutsch dominiert ist

Moritz Gathmann, Bastian Brauns: Piep, piep, piep, Cicero, 11.01.2020

Diesen Blick innerhalb hatten wir auf einwende bereits 2018 als „Wessi-Brille“ thematisiert. Beim Jubiläumsfest gerät diese Fokussiert aber in Bewegung, das beobachtet Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Auch Marianne Birthler, die einst Sprecherin von Bündnis 90 und zuletzt Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen war, hatte noch einen Wunsch: Die Partei möge sich in „Bündnisgrüne“ umbenennen. Viele Vertreter der Bürgerbewegungen aus der DDR (…) stören sich daran, dass im normalen Sprachgebrauch der volle sperrige Name „Bündnis 90/Die Grünen“ oft zu „Die Grünen“ verkürzt wird und der Anteil der Ostdeutschen untergeht. Beide Parteivorsitzenden ließen am Freitagabend deutliche Sympathien für diesen Vorstoß erkennen.

Helene Bubrowski: Die Grünen genießen ihren Albtraum, FAZ, 11.01.2020

Valerie Höhne vom Spiegel fällt die Bezeichnung ebenfalls auf — und wagt einen Blick in die Zukunft:

Der Begriff „Bündnisgrüne“ fällt auf, er wird an diesem Abend mehrfach gebraucht. (…) Vielleicht ist es der erste Schritt, den umständlichen Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen in einen einfacheren umzuwandeln, in einen, der dem ostdeutschen Bündnis im Namen einen ebenbürtigen Platz einräumt

Valerie Höhne: Trau‘ keinem über 40, Der Spiegel, 11.01.2020

Prominent ausgeblendet

Ohne Bündnis 90 würde es die Grünen nicht mehr geben. Eine neue Bezeichnung für die Partei wird etabliert. 

Das sind bedeutende Erkenntnisse aus einer Jubiläumsfeier, an der eine journalistische Berichterstattung nicht vorbei kommen kann, oder?

Doch! Schließlich wurde 2019 ausreichend auf Ostdeutsche und ihre Befindlichkeiten geschaut — jetzt ist mal eine gute westdeutsche Partei aus guter alter westdeutscher Sicht dran!

So verkürzt der Stern den Zusammenschluss auf eine Umbenennung, das Twix unter den Parteien also:

1993 hatten sie sich — trotz heftiger Konflikte — zusammengeschlossen und heißen nun seitdem Bündnis90/Die Grünen.

Von der Öko-Opposition zur Regierungspartei: Wie sich die Grünen verändert haben, stern, 10.01.2020

Der Bonner General-Anzeiger verkürzt weiter und schmeißt sowohl Bündnis 90 als auch den Zusammenschluss von 1993 aus der Wahrnehmung:

Das war die Lehre der verlorenen Bundestagswahl von 1990. Wie keine andere Partei hat sie sich danach gewandelt.

Helge Matthiesen: Eine Erfolgsgeschichte, General-Anzeiger, 10.01.2020

Die Augsburger Allgemeine, die tageszeitung und Die Welt schweigen sich über die ostdeutschen Aspekte der Partei gleich komplett aus. Eine 45-minütige Dokumentation der ARD findet darüber auch auch kein Wort. (Danke an Robert Heinrich für den Hinweis.)

Sensible Sichtbarmachung

Nun ließe sich vortrefflich streiten: Welche Rolle spielt die DDR-Opposition denn heute noch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen? Welchen Stellenwert hat dieser Zusammenschluss im Vergleich zu den ökologischen Ansprüchen der Partei? Lässt sich die Partei überhaupt als eine west-ostdeutsche Partei verstehen? 

Das alles sind und wären wichtige Fragen, die in Medienberichten im doppelten Jubiläumsjahr – 40 Jahre „Bündnis90/Die Grünen“ und 30 Jahre Wiedervereinigung – unbedingt gestellt werden müssten. Denn gerade durch die ausführliche Berichterstattung über den Osten im letzten Jahr ist deutlich geworden: Es kann nicht so weiter gehen wie bisher.

Es ist also gut, dass der mediale Blick auf diese Parteifeier so unterschiedlich ist. Denn er zeigt, dass die Wahrnehmung ostdeutscher Belange sensibler wird. Und dass noch viel zu tun ist.

Das Nudossi-Klischee: Nuss, Nougat und Nostalgie

Wer über den Brotaufstrich Nudossi spricht, muss zwangsläufig auch die Konkurrenz Nutella erwähnen. Das ist offenbar so auffällig, dass der Wikipedia-Eintrag von Nudossi gleich im ersten Absatz das Thema verhandelt:

Die Bezeichnung „Ost-Nutella“ ist nur bedingt zutreffend, da die Zusammensetzung mittlerweile völlig anders ist als noch zu DDR-Zeiten und sich stark von Nutella und vergleichbaren Aufstrichen unterscheidet.

Und noch ein Aspekt unterscheidet die beiden Cremes voneinander: Nudossi wird nur über seine Herkunft wahrgenommen. Ein Artikel auf Zeit Online vom 11.9.2017 ist da ein schönes Beispiel. Denn über Nudossi wird darin auf folgende Weise gesprochen:

  • [es gibt Menschen], die sich nach den guten alten Dingen sehnen
  • alte DDR-Marke
  • Bis heute schmieren sich viele Ostdeutsche mit Nudossi allmorgendlich eine Schicht Sehnsucht auf die Stulle.
  • die Marke, die immer von diesem süßen Gestern lebte
  • DDR-Kultmarke
  • die Sehnsucht nach einem Produkt von damals befriedigt
  • Der hohe Nussanteil geht zurück auf die Mangelwirtschaft der DDR
  • der neue ostdeutsche Öko-Mut
  • sein größtes Geschäft [bleibt] das mit der Nostalgie. An Nostalgie darf man nichts verändern.
  • das Ost-Original bleibt aber in Plaste

Essen als Erinnerung

Fassen wir also zusammen: Nudossi kommt aus der DDR und steht für Nostalgie und Sehnsucht. Das ist bemerkenswert, denn Essen funktioniert oft darüber, dass der Geschmack an die eigene Kindheit erinnert. Das nutzt die Lebensmittel-Industrie gezielt aus, wie die Augsburger Allgemeine 2014 berichtete. Und 10 Jahre zuvor war der 40. Geburtstag von Nutella Anlass für eine Ausstellung. Der Werbetext damals:

Für die „Generation Golf” ist sie eine süße Erinnerung an die Kindheit, für Ernährungswissenschaftler ein Graus: Die Schokoladencreme „Nutella”.

Abseits davon wird Nutella vergleichsweise selten als West-Produkt charakterisiert, stattdessen spricht man lieber von „Deutschlands Liebling bei den Nuss-Nougat-Cremes“ (so etwa der Stern).

Nudossi hingegen kommt ohne die ausdrückliche Zuschreibung einer nostalgischen Vergangenheit nicht aus. Und wird damit klar reduziert. Denn dann spielen qualitative Unterschiede keine große Rolle — oder werden kritisch zur Kenntnis genommen. „36 Prozent Haselnuss sollen drin sein“, schreibt Werben & Verkaufen vorsichtig-ungläubig – bei Nutella sind es 13 Prozent.

Nostalgie allein verkauft nicht

Wenn aber etwas rückwärtsgewandt ist, dann ist es der Bezug auf die Herkunft von Ost-Produkten als Produkte aus dem Osten. Die Hersteller haben nämlich längst erkannt: Die Nostalgie-Schiene funktioniert nicht mehr (so die Sächsische Zeitung im Jahr 2015). Einfacher Grund: Der Generationenwechsel. Der Kauf aus DDR-Nostalgie ist inzwischen nur noch ein ständig wiederholtes Klischee.

Damit wären wir wieder beim eingangs erwähnten Artikel der Zeit. Denn er schwingt nicht nur die Nostalgie-Keule, sondern berichtet auch über ein neues Nudossi-Produkt, das auf Palmöl verzichtet. Damit will das Unternehmen nicht nur einen weiteren qualitativen Vorsprung zur Nutella-Konkurrenz setzen – es will sich auch abseits seines Nostalgie-Klischees positionieren. Doch solange Medien diese Vorurteile unkritisch wiederholen, haben es alle Ost-Produkte schwer gegen „Deutschlands Liebling“ jeder Art.

Update

Josa Mania-Schlegel, Autor des Zeit-Artikel, verweist auf die Radiospots von Nudossi, die tatsächlich sehr stark an Nostalgie appellieren. Auch die Unterstützung ostdeutscher Sportler_innen zeigt eine starke regionale Verortung:

Ignoriert: Ost und West ändern Einstellungen zu Flüchtlingen

Der Journalist Hans Zippert schreibt jeden Tag eine Kolumne in der Tageszeitung Die Welt. Dafür wurde er 2007 und 2011 mit dem renommierten Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Das muss man wissen, wenn man den Auszug aus seiner Kolumne vom 7. April 2017 liest:

Die Unwillkommenheitsgefühle [sind] im Osten des Landes weitaus größer als im Westen. Das könnte daran liegen, dass die Ostdeutschen sich 1989 auch zu wenig geliebt gefühlt haben. […] Die Westdeutschen wurden aber auch nicht gefragt, ob sie ostdeutsche Wirtschaftsflüchtlinge willkommen heißen würden.

Das wäre schon in den 90ern ziemlich unlustig gewesen, aber darum geht es hier gar nicht. Wir wollen ja inhaltlich argumentieren.

Zippert bezieht sich in seinem Text auf eine neue Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Sie hat untersucht, welche Stimmung in Deutschland Flüchtlingen gegenüber herrscht. Dumm nur: Diese Umfrage stellt das genaue Gegenteil fest — die Stimmung in Ost und West hat sich umgekehrt. So steht in der Welt, ebenfalls am 7. April:

Inzwischen sind demnach 55 Prozent der Westdeutschen gegen einen weiteren Flüchtlingszuzug und 51 Prozent der Ostdeutschen.

Hans Zippert hätte also in seiner eigenen Zeitung lesen können, dass sein Text nicht auf Tatsachen beruht. Dass er über 27 Jahren nach dem Fall der Mauer immer noch in Klischees denkt und seine Kolumne mit müden Stereotypen füllt.

Ach ja, dafür bekommt man übrigens Henri-Nannen-Preise.

Weniger Gehalt im Osten, keine Meldung für den Osten

Es ist eine simple Meldung: In Deutschland ist das Gehalt unterschiedlich hoch. Je nach Region verdienen Menschen im gleichen Beruf deutlich mehr Geld. Oder deutlich weniger in den neuen Bundesländern: Sie stehen am Ende der Tabelle. Das ist prinzipiell keine neue Erkenntnis, vor genau fünf Jahren hatte eine Studie festgestellt, dass der wirtschaftliche Unterschied zwischen Ost und West noch lange bestehen wird.

Mit welchen Überschriften aber machen Medien diese Meldung auf? So heißt es bei der FAZ:

Ostdeutschland lohnt sich noch immer nicht

Und die Website von n‑tv titelt:

Hier arbeiten Sie besser nicht

Gemeinsam ist diesen Überschriften eine wirtschaftlich-westdeutsche Perspektive: Der Osten lohnt sich erst dann, wenn man dort mehr Gehalt bekommt. Dort also besser nicht arbeiten!

Übersehen hat man beim Texten der Überschriften wohl, dass es bereits Menschen gibt, die in Ostdeutschland arbeiten. Welche Botschaft soll bei ihnen ankommen? Ihre Arbeit lohnt sich nicht? Sie sollten besser nicht arbeiten? Dazu sagen uns die Überschriften nichts, sie wollen es gar nicht. Denn sie sagen uns vor allem: Als Zielgruppe der Beiträge stellt man sich die Menschen im Osten nicht vor.

Berlinale und DDR 1

Es ist Berlinale — wie wird bei diesem Filmfestival eigentlich der Osten Deutschlands (re)präsentiert?

Nicht gut: Seit 1990 geht der Anteil von Filmen ostdeutscher Filmmacher_innen stark zurück. Westdeutsche konnten ihren Anteil hingegen steigern. Die Studie „Geschichten und Filme kennen [keine] Grenzen“ meint daher:

Dennoch liegt bei gerade einmal insgesamt 20 abendfüllenden Produktionen von Filmemachern mit ostdeutscher Herkunft zwischen 2002 und 2016 das Versäumnis einer ausgewogenen Berücksichtigung von Regisseuren aus den neuen Bundesländern nicht allein in der deutschen Förder- oder Produktionslandschaft und sollte deutlich mehr in den Blick genommen werden.

Eine Zusammenfassung der Studie gibt es bei der Jungen Welt. Anderen Medien war die Untersuchung von Vielfalt auf dem Berliner Filmfestival keine Meldung wert.

Stasi-Berlinale-Gefängnis, virtuell

Aber keine Angst: Zumindest ein altbekanntes DDR-Thema hat es auf die diesjährige Berlinale geschafft. Das Stasi-Gefängnis. Und es ist technisch ganz vorne dabei — man sieht es nämlich per Virtual Reality. In der Ich-Perspektive. Als Häftling. Mehr dazu gibt es bei der Produktionsfirma IntoVR.

Woher stammen eigentlich die Macher_innen dieser Produktion? Mit Blick auf die oben genannte Studie ist es tatsächlich zentral, wer auf einem Festival mit dieser Bedeutung Geschichte in Film umsetzt. Vor allem, wenn es auch die Themenauswahl betrifft. Grit Lemke, Leiterin des Filmprogramms beim DOK Leipzig, äußert sich in der Studie etwa wie folgt:

Ich habe den Eindruck, dass ostdeutsche Geschichten offenbar in Deutschland nicht wirklich willkommen sind. Denn sobald nur die geringste Verbindung zu den neuen Bundesländern besteht, ein Leipzig im Untertitel, die Abstammung des Regisseurs, eine Geschichte aus Mecklenburg-Vorpommern, wird der Film ungeachtet seines eigentlichen Themas stigmatisiert und – wie ich finde – pauschal abgelehnt.

Ein Beitrag zur Stasi hat es hingegen leichter, der Grusel ostdeutscher Geschichte funktioniert halt immer. Wir sollten aber aufpassen, dass wir Ostdeutschland und seine Geschichte nicht darauf reduzieren.

Wirtschaftswissenschaft: Wenn Westdeutschland ganz Deutschland ist

Wirtschaftswissenschaft: Wenn Westdeutschland ganz Deutschland ist

Eine Wissenschaft wie die Wirtschaftswissenschaft funktioniert im Grunde so: Sie stellt eine Frage und sammelt und erhebt dazu alle verfügbaren und sinnvollen Daten. Damit will sie Antworten finden. Dazu gehört auch, dass die Antworten komplex, die Zusammenhänge vielfältig und auch sonst vieles nicht leicht ist. Aber der kleinteilige und differenzierte Umgang mit Informationen ist die Stärke der Wissenschaft. Worauf sonst sollte man sich verlassen?

Aber schauen wir in eine Analyse, die in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienstes veröffentlicht worden ist. Da dieser Text nur gegen Bezahlung gelesen werden kann, legen wir die gekürzte Fassung auf Ökonomenstimme zugrunde. Beide Texte tragen den gleichen Titel:

Verlierer(-regionen) der Globalisierung in Deutschland: Wer? Warum? Was tun?

Das ist also die Forschungsfrage, die beantwortet werden soll. Und sie ist eine etwas seltsame Wahl, denn in einer Fußnote heißt es:

Wir beschränken uns auf regionale Unterschiede innerhalb Westdeutschlands, da die Daten für Ostdeutschland erst ab 1993 vorliegen.

So weit, so gut: Ostdeutschland wird nicht untersucht, weil die Daten nicht mehr hergeben. Alles andere wäre wissenschaftlich nicht sauber gewesen.

Das westdeutsch-deutsche Problem

Dumm nur: Die Autoren ignorieren Ostdeutschland nicht nur, sie vergessen es. Warum sonst weisen sie auf die ostdeutschen Daten ausschließlich in einer Fußnote hin? Wieso suggerieren sie in der Überschrift eine gesamtdeutsche Untersuchung? Weshalb wird der Begriff „Westdeutschland“ nur einmal erwähnt, obwohl er die Datenlage am treffendsten beschreibt? Und warum kommt die Bezeichnung „Deutschland“ 14-mal vor?

Wer ganz genau hinschaut, hätte aber auch schon bei der Illustration misstrauisch werden. So richtig passt die Karte schließlich nicht zur „Deutschland“-Überschrift:

Update

Ökonomenstimme hat bei Twitter auf meine Kritik reagiert:

Berichtenswert: Heinz Rudolf Kunze war als Kind in der DDR!

Egon Krenz und Heinz Rudolf Kunze sprechen miteinander, herausgekommen ist das Buch „Ich will hier nicht das letzte Wort“. So langweilig wie es klingt, ist es auch. Aber weil die zwei ja nicht unbekannt sind: Was schreibt man da als Presseagentur in eine Meldung?

Wer in die Leseprobe schaut, findet etwa folgende Erkenntnisse:

  • Das Politbüro hat die Rockkonzerte 1988 in der DDR unterstützt.
  • Heinz Rudolf Kunze meint, dass sich heute mehr Musiker für den Frieden einsetzen sollten.
  • Aus der Sicht von Egon Krenz ist der Kalte Krieg noch nicht vorbei.

Es geht also durchaus politisch und aktuell zu in dem Buch. Was macht also die Deutsche Presse-Agentur daraus? Sie zitiert Heinz Rudolf Kunze, der darüber spricht, wie er als Kind die DDR wahrgenommen hat:

Bei seinen DDR-Besuchen habe er im Umfeld von Omas und Opas, Tanten und Onkeln, nicht einen getroffen, der mit dem System zufrieden gewesen sei.

Egon Krenz darf da nur ergänzen, was man sowieso von ihm erwartet: Es müsse aber auch Leute gegeben haben, die hinter der DDR standen.

In der Presseinformation der Eulenspiegel-Verlagsgruppe heißt es übrigens zur Veröffentlichung:

Das Buch ist allerdings mehr als nur ein Gedankenaustausch zweier interessanter Persönlichkeiten über Vergangenes und Gemeinsames. Es ist auch eine Art Bestandsaufnahme, wie weit wir in Deutschland im mittlerweile ein Vierteljahrhundert währenden Vereinigungsprozess gekommen sind.

So weit dann offenbar noch nicht: Westdeutsche, die über Ostdeutsche reden, die nicht selbst zu Wort kommen. Schon wieder. Oder: Immer noch.