Nach der Wahl: Wie werden AfD-Erfolge im Westen erklärt? 1

Ja, auch im Westen Deutschlands gibt es Gebiete, in denen die AfD hohe Wahlergebnisse bei der Bundestagswahl 2017 eingefahren hat. Während sich die Diskussionen im Osten Deutschlands auf den „Ostmann“ konzentrieren, suchen man auch im Westen nach den Ursachen. Aber was finden die Medien vor Ort? Und was unterscheidet das zur Darstellung zur AfD-Wahl im Osten?

Baden-Württemberg

Im Wahlkreis Heilbronn hat die AfD mit 16,4% den höchsten Wert im Südwesten bekommen. In einem Wahlbezirk holte die AfD 36,9%.

Die Südwest-Presse hat nach den Ursachen geforscht:

Für das gute Ergebnis der AfD im Heilbronner Stadtteil Böckingen hat der Schwabe (63) eine einfache Erklärung: „Das ist eine Neidgeschichte unter Aussiedlern und Flüchtlingen.“

Eine schlüssige Erklärung für den Aufschwung der AfD hat OB Harry Mergel (SPD) nicht. Die Motive der Wähler seien zu unterschiedlich. „Da spielen kulturelle, soziologische und sicher auch soziale Gesichtspunkte eine Rolle.“ Auch in zwei weiteren Heilbronner Einzelbezirken, in denen nur wenige Spätaussiedler leben, hat die AfD die sonst dominierende CDU auf Platz zwei verwiesen. „Dass es im wohlhabenden Wirtschaftsraum Heilbronn viele Anhänger der AfD gibt, beweist, dass sich die AfD-Wähler nicht auf die sozial Vernachlässigten reduzieren lassen“, erklärt OB Mergel.

Der Artikel geht hier ähnlich wie auch andere Beiträge vor: Auf die Straße gehen, mit den Leuten sprechen, den Bürgermeister fragen. Und auch das Ergebnis ist ähnlich: Das Flüchtlingsthema auf der einen Seite, Ratlosigkeit im Rathaus auf der anderen Seite. In diesem Fall fällt auf, wie der Bürgermeister auf die Vielfältigkeit der Motivation für eine Wahl der AfD verweist.

Bayern

Im Wahlkreis Deggendorf erhielt die AfD bayernweit die meisten Stimmen. Im Deggendorfer Wahllokal St. Martin überholte die AfD mit 31,5 Prozent die CSU.

In der Welt sieht Deggendorfs Landrat Christian Bernreiter (CSU) in der Ankunft Tausender Flüchtlinge in der Region eine der Ursachen für den AfD-Erfolg.

„Hier haben die Leute hautnah erlebt, wie die Flüchtlinge ankamen.“ Die Ängste seien groß, es gebe viele Menschen mit geringer Rente. „Sie haben wohl den Eindruck: ‚Wir kriegen nix und für die Flüchtlinge ist viel Geld da‘“, mutmaßt Bernreiter.

In der Süddeutschen Zeitung heißt es:

Warum jetzt AfD? Weil die CSU nichts tue gegen Flüchtlinge. […] Es wirkt wie nach einer Party, bei der man mal richtig die Sau rausgelassen hat und jetzt verkatert-beschämt am liebsten nicht darüber reden will.

Und die Passauer Neue Presse erhält von den Bürgermeistern der Gemeinden Mauth (AfD: 28,11%), Prackenbach (26,5%) und Philippsreut (24,6%) jeweils ähnliche Antworten: Sie können sich das Abschneiden der AfD nicht erklären.

Also auch in Bayern: Das Thema Geflüchtete ist ein zentrales Motiv der Berichterstattung. Und die Süddeutsche bringt eine weitere Facette in die Ursachensuche: Die Wahl war ein Ausrutscher, jetzt fühlt man sich fast verschämt.

Hessen

Bei den Zweitstimmen hat die AfD im Wahlkreis Fulda mit 15,8 Prozent das für sie beste Ergebnis unter allen 22 Wahlkreisen in Hessen eingefahren.

Bei der Frankfurter Neuen Presse finden Angehörige der CDU für das AfD-Ergebnis diese Erklärungen:

Der Fuldaer Bundestagsabgeordnete Michael Brand (CDU) sieht seinen Heimatwahlkreis trotz des starken Abschneidens der AfD bei der Bundestagswahl nicht als Ausreißer. „Der Bundestrend hat komplett durchgeschlagen”

Ziel müsse es sein, enttäuschte Protestwähler in vier Jahren wieder zurückzuholen, erklärte Brand. Denn die stellen für ihn die Mehrheit unter den AfD-Wählern.

Der Fuldaer CDU-Kreisvorsitzende Walter Arnold wollte den Wahlerfolg der AfD nicht überbewerten.

In Hessen ist ein überdurchschnittliches AfD-Ergebnis also eine Mischung zwischen Bundestrend, Protestwahl und nicht so schlimm. Oder anders gesagt: Eigentlich hat niemand in Fulda ernsthaft AfD gewählt. Und wenn doch, war es nicht ernsthaft.

Nordrhein-Westfalen

In Gelsenkirchen hat die AfD 17% geholt. „In keinem anderen westdeutschen Wahlbezirk holte die AfD mehr Stimmen als in Gelsenkirchen“, heißt es bei Der Westen. Eine Erklärung sucht der Artikel allerdings nicht.

Dafür ging die ARD auf die Straße und hat Passanten und Politiker befragt:

Die zentralen Themen also auch hier: Flüchtlinge, Ausländer. Zur Sprache kommt aber auch, dass sich die Menschen „nicht mitgenommen fühlen“, dass sie „sich Sorgen machen“, dass sie „Protestpotenzial“ haben.

Rheinland-Pfalz

Nahezu sächsische Verhältnisse herrschen allerdings in Germersheim in der Südpfalz: Hier stimmten 22,1 Prozent der Wähler für die neuen Rechten.

So heißt es bei der Wormser Zeitung. Mit Blick auf die Statistik findet sie diese Zusammenhänge:

Auffällig ist zudem, dass die AfD überwiegend dort stark war, wo mehr Protestanten wohnen. Auch Arbeitslosigkeit schien ein Faktor zu sein, AfD zu wählen: In Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit schnitt sie stärker ab als in Gebieten mit einer niedrigeren Quote.

Das Wahlergebnis in Germersheim versucht auch die Allgemeine Zeitung zu erklären:

Der Migrantenanteil liegt bei etwa 22 Prozent. Menschen aus über 100 Nationen leben hier aktuell. So viele wie kaum irgendwo sonst auf so kleiner Fläche. Über 2000 Studenten belegen an der Hochschule, einer Abteilung der Uni Mainz, sprach- und kulturwissenschaftliche Studiengänge.

Einigen Germersheimern wird es aber offenbar zu bunt. Ausländer. Wie aus der Pistole geschossen, kommt die Antwort, wenn man in der Stadt nach den Gründen für das gute AfD-Ergebnis fragt.

Dass die meisten AfD-Wähler die Vielfalt ablehnen, hält hingegen der Germersheimer Bürgermeister Marcus Schaile (CDU) nicht für den Hauptgrund des Wahlergebnisses. Protesthaltung und Uninformiertheit seien vielmehr ausschlaggebend gewesen. „Wir werden uns jetzt im Stadtrat zusammensetzen und danach auf die Leute zugehen.“

Und auch in Germersheim: Ausländer und Protest. Aber auch: Fehlendes Wissen.

Der unvermeidliche West-Ost-Vergleich

Wie im Osten Deutschlands versuchen also auch die Medien in Westdeutschland zu erklären, wie es zu hohen AfD-Ergebnissen kommt. Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es aber auch drei grundlegende Unterschiede:

Menschen statt Experten

Die westdeutsche Ursachenforschung findet mit Fragen vor Ort statt. Der kleine Mann auf der Straße und der große Mann im Rathaus kommen zu Wort, am Ende kommt ein Stimmungsbild heraus.

Ganz anders der Osten: Hier wird mit Experten gesprochen. Da zitiert n‑tv die Bundeszentrale für politische Bildung, den Soziologen Raj Kollmorgen und den Forsa-Chef. Die Leipziger Volkszeitung spricht mit Politikwissenschaftler Hendrik Träger. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Im Zweifelsfall finden die Journalist_innen selbst die Ursachen für die Ost-Ergebnisse. Bei der Erklärung der AfD im Westen halten sich die Autor_innen hingegen zurück.

Protest und Ausrutscher statt strukturellem Problem

In den Beispielen oben wird immer wieder „Protestwahl“ als Motivation genannt. Manchmal wird das Ergebnis der AfD auch so klein geredet, als hätte es dieses gar nicht gegeben. In jedem Fall suggeriert auch die Form der Straßenumfrage: Das waren einzelne Entscheidungen.

Geht es um die Ost-Ergebnisse, wird allerdings schnell eine strukturelle Ursache gefunden. In der Frankfurter Rundschau etwa erklärt Psychologe Jörg Frommer die AfD-Ergebnisse mit der „Erziehung zur Unselbständigkeit“ in der DDR. Ob eine solche Erklärung für Baden-Württemberg ebenfalls gelten dürfte?

Ignorieren statt thematisieren

Und schließlich: Sehr viel mehr als die oben zitierten Artikel zu westdeutschen AfD-Ergebnissen gibt es nicht. Das Nachdenken über AfD-Wahlergebnisse im Westen findet also nur am Rande statt. Dabei sollte es uns alle interessieren, warum 4 Millionen Menschen die AfD gewählt haben. So viele waren es nämlich in Westdeutschland. In Ostdeutschland waren es 2 Millionen, die nun aber stark im Fokus stehen. Die Suche nach Erklärungen bringt hier hoffentlich ein gutes Ergebnis — den Westen darf man aber darüber nicht vergessen.

Das Jahrhunderthaus mit DDR und Problemen

Eigentlich hat das ZDF mit dem „Jahrhunderthaus“ vieles richtig gemacht. In dieser Dokumentation erlebt eine Durchschnittsfamilie die deutsche Alltagsgeschichte der letzten 100 Jahre. Im Zentrum des Mehrteilers stehen dabei die 20er, 50er und 70er Jahre. Und im Gegensatz zu anderen Beiträgen kommt auch die DDR-Geschichte vor. Doch da fangen die Probleme an.

Das „Auch“-Problem

In der Geschichte und im Alltag von Ost und West gab es viele Gemeinsamkeiten. Da sich das „Jahrhunderthaus“ vor allem an der westdeutschen Geschichte orientiert, folgt oft eine Ergänzung in der Form von „auch in der DDR …“. Dass dies zwangsläufig zu kuriosen Ergebnissen führt, zeigt dieser Zusammenschnitt:

Das Fakten-Problem

Ein Stilmittel dieser Dokumentation sind Zwischensequenzen, in denen die Jahrzehnte anhand von Zahlen verglichen werden. Das Durchschnittsgewicht kommt hier ebenso vor wie durchschnittliche Kosten und Löhne. Dabei handelt es sich in den 50er und 70er Jahren ausschließlich um Angaben aus der Bundesrepublik — klar erkennbar an der Deutschen Mark. Bei allen anderen Werten ist hingegen nie ersichtlich, ob sie sich auf Ost‑, West- oder Gesamtdeutschland beziehen.

Doch halt, eine Ausnahme gibt es: Beim Thema Alkohol werden die DDR-Bergarbeiter statistisch dargestellt. Und während die Beispiel-Person im Statistik-Teil stets stumm bleibt, ist sie hier überraschenderweise zu hören. Natürlich auf sächsisch, also in DDR-Sprache. Damit es auch alle verstehen.

Das Interview-Problem

Bei den Zeitzeugen ist die Dokumentation überraschend akkurat: 17 Westdeutsche und 5 Ostdeutsche entsprechen ziemlich genau dem Bevölkerungsverhältnis.

Schwieriger sind die Interviews mit den Expert_innen. Hier verzichtet das „Jahrhunderthaus“ im Gegensatz zu den Zeitzeugen auf eine Herkunftsangabe. Ganz so, als stünden sie außerhalb von Ost und West. Das ist besonders auffällig in einer Dokumentation, die durchaus Wert auf dieses Thema legt. Bei einem genaueren Blick wird aber klar: Keine dieser Personen stammt aus Ostdeutschland. Damit reproduziert der Film leider ein altes Muster: Expertise zu deutschen Themen wird wieder einmal nur Personen aus Westdeutschland zugesprochen.

Besonders kurios ist die von Michael Kessler gespielte Hauptrolle, die auch als Off-Kommentar zu hören ist: In einigen Spielszenen der ersten Staffel bekommt die Figur eine ostdeutsche Vergangenheit. Das wird aber nicht konsequent durchgehalten und in der zweiten Staffel völlig verworfen.

„Das Jahrhunderthaus“ — alle Folgen

Wenn der Experte gar nichts weiß

Lothar Schneider ist Professor. Seine Schwerpunkte sind Haushaltswissenschaft, Verbrauchererziehung, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Außerdem hat er Lehrerinnen und Lehrer für das Unterrichtsfach Hauswirtschaftslehre ausgebildet.

Lothar Schneider gehört also zu den Menschen, die in Medien „Experte“ genannt werden — sie sollen uns einen fundierten Einblick in Themen geben. So geschehen im ausführlichen Interview mit der Berliner Zeitung. Es geht um Staub, Rollenverteilung im Haushalt, Hygiene, Putzfrauen und wie all das mit dem kulturell-sozialen Umfeld zu tun hat.

Professor Schneider nennt Zahlen, Untersuchungen und eigene Erfahrungen. Er ist schließlich Experte. Doch bei einem Thema fällt seine Antwort recht knapp aus.

Berliner Zeitung: In der DDR waren Putzfrauen in Privathaushalten eine Seltenheit. Dafür gab es den sogenannten Haushaltstag, da durfte man dann selber putzen. Auch als Mann und Single.

Lothar Schneider: Habe ich von gehört.

Nun ist es keine Schande, keine Ahnung zu haben, wenn es um ein anderes Land geht. Lothar Schneider hat seine akademische Ausbildung schließlich in Hamburg, Göttingen und Aachen vor dem Mauerfall erlebt.

Was aber nachdenklich stimmt: Was können all seine Zahlen und Studien, was kann sein ganzes Expertentum über die Lebenswirklichkeit im Osten Deutschlands aussagen? Wie wirken Haushaltstage bis heute nach — hatten sie eine merkliche Auswirkung auf das Rollenverständnis der Geschlechter? Welche Bedeutung hat die unterschiedliche Verbreitung von Putzkräften in Privathaushalten? Lässt sich daran ein anderes Selbstverständnis in Familien ausmachen?

All das sind Fragen, die Lothar Schneider aufgrund fehlender Expertise nicht beantworten könnte — und es sind Fragen, die eine im Osten Deutschlands erscheinende Zeitung nicht gestellt hat.

Ein Experte zu Westhaushalten spricht somit im Osten und tut so, als seien seine Aussagen gesamtdeutsch gültig.