Diskursindustrie, ostdeutsche Stimmen und der Wessi der Woche

Diskursindustrie, ostdeutsche Stimmen und der Wessi der Woche

Frisch aus den Medien: Aktuelle Beiträge zur Darstellung und Wahrnehmung Ostdeutschlands in der Öffentlichkeit. Und ein Spiegel-Redakteur lässt voll den Wessi raushängen.

Diskursindustrie

Die Historikerin Christina Morina sagt im Interview mit dem Spiegel, warum sie die AfD-Ergebnisse in ostdeutschen Bundesländern nicht nur mit Rassismus, Trotz und Frust erklärt. Sie bezieht sich auf die Forderungen der oppositionellen Gruppen 1989 — diese gingen für Basisdemokratie und echte Bürgerbeteiligung auf die Straße. Dies sei aber nie eingelöst worden:

Die repräsentative Parteiendemokratie der Bundesrepublik steht sowohl im Widerspruch zum autoritären »Volksdemokratie«-Postulat der SED als auch zur Basisdemokratie, von der 1989 viele träumten. Die AfD ist die derzeit einzige größere Partei, die sich als Anwältin des Volkes und mehr direkter Demokratie inszeniert, auch wenn sie in Wahrheit eine autoritär-völkische Ordnung anstrebt.

Auch kritisiert Morina, wie in den Medien mit der Ost-West-Debatte umgehen und spricht von einer „Diskursindustrie“:

Problematisch sind die Pauschalisierungen und die abgrenzende Art, in der seit Jahren diskutiert wird — zuletzt etwa die Thesen des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann, der den Osten für eine Erfindung des Westens hält. Es gibt inzwischen eine Diskursindustrie, die von der Ossi-Wessi-Zuspitzung sehr gut lebt. Die Realität ist vielfältiger: Die Perspektive auf Ostdeutschland ist nicht mehr so dominant westdeutsch wie noch vor einigen Jahren, und gerade in den Institutionen der Bundespolitik sind Ostdeutsche leicht überrepräsentiert. Wir sollten endlich andere Fragen stellen — etwa, welche Verantwortung auch den Ostdeutschen zufällt, insbesondere denen in Führungspositionen. … Es ist erklärungsbedürftig, dass die neuen Bundesländer ausgerechnet in jenen Jahren zum demokratischen Problemfall wurden, in denen mit Angela Merkel und Joachim Gauck zwei Ostdeutsche an der Spitze des Staates standen. Wieso ist es der AfD in dieser Zeit gelungen, sich zu etablieren? Und warum hat die Kanzlerin erst zum Ende ihrer Amtszeit ihre Herkunft und die besondere demokratiepolitische Aufgabe im Osten öffentlich thematisiert?

Schließlich wirbt sie dafür, auch die Erfahrungen in Westdeutschland ab 1990 explizit in den Blick zu nehmen:

Die Westdeutschen mussten sich von der alten Bundesrepublik verabschieden, sie erlebten 1989/90 auch einen tiefen Einschnitt, was noch viel zu wenig betrachtet wird. Der Verlust von Bonn als Hauptstadt etwa hat viele Menschen beschäftigt, das ist gut belegt. Auch die Belastung des Sozialstaats infolge der Einheit oder die neue Rolle Deutschlands in der Welt waren riesige Herausforderungen, haben viele Gewissheiten erschüttert. … Natürlich konnte der Westen all das besser verarbeiten, das war eine andere Dimension als die massive Transformation im Osten. Aber wer Anerkennung für die ostdeutschen Perspektiven und Probleme fordert, muss auch die Herausforderungen auf der anderen Seite wahrnehmen.

Das hatten wir hier bereits im letzten Jahr als WestdeutschAwareness angesprochen.

Ostdeutsche blicken auf Ostdeutschland

Zwei Beiträge machen durch ihre unterschiedlichen Ansätze und Beurteilungen deutlich, wie gewinnbringend es ist, wenn sich verschiedene Stimmen aus dem Osten Deutschlands in die Debatten über Ostdeutschland einbringen:

Im radioeins- und Freitag-Salon kann man ein einstündiges Gespräch mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk nachhören. Er streift viele Aspekte über Ostdeutschland, kritisiert die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann und verteidigt den Wert der Freiheit.

Auf der ARD läuft heute die Dokumentation „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“ von Jessy Wellmer und Dominic Egizzi. Der Film bringt viele verschiedene Stimmen, statistische Daten und Umfrageergebnisse zusammen und zeichnet so ein durchaus komplexes Bild. Die Dokumentation ist bereits in der ARD-Mediathek verfügbar.

In beiden Fällen fehlen aber wichtige Aspekte: Die ostdeutsche Gesellschaft wird nur als weiße Mehrheitsgesellschaft sichtbar, Ostdeutsche of Color sind hier beispielsweise unsichtbar.

Der Wessi der Woche

Begleitet wird die ARD-Dokumentation von einer breiten Aufmerksamkeit anderer Medien. Die Dokumentation wird dabei insgesamt wohlwollend besprochen, den Vogel schießt aber der Spiegel-Beitrag von Christian Buß ab. Bereits Überschrift und Teaser zeigen die von Christina Morina kritisierte „Diskursindustrie“ in Reinform. Spoiler: Im Text selbst wird es nicht besser.

Hör mal, wer da jammert! Für »Hört uns zu!« kabbelt sich Jessy Wellmer mit Ossis, die sich von Wessis gedemütigt fühlen. Eine ARD-Reportage, in der sich die Recherche im Osten mal nicht wie eine Strafexpedition anfühlt – klasse.

Also lieber Christian Buß, nochmal zum mitschreiben:

  • „Jammer-Ossi“, echt? Sie empfinden die Hinweise eines Berufstätigen als Jammerei, wenn er auf das Lohngefälle zwischen West und Ost aufmerksam macht? Apropos Gefälle: In Ostdeutschland verkauft der Spiegel nur 4% seiner Gesamtauflage. Könnte da nicht auch ein Verlag ins jammern kommen?
  • Jessy Wellmer „kabbelt“ sich? Ich kann mir nicht erschließen, warum Gespräche auf Augenhöhe derart verniedlicht werden. Wäre es erst durch die Teilnahme Westdeutscher keine lustige Kabbelei mehr?
  • Ach ja, die „Strafexpedition“ im Osten. Leider war das zu lange gängige Praxis: Bei Ereignissen in ostdeutschen Bundesländern schickten westdeutsche Medien ihre Journalist*innen schnell dorthin, sie berichteten und zogen wieder ab. Der Begriff weckt aber auch Erinnerungen an die sogenannte „Buschzulage“, die westdeutsche Beamte in Ostdeutschland erhielten. Alles irgendwie Zwang im Ausland, oder?

Jammer-Ossis, die sich kabbeln und die man meist per Strafexpedition beobachten müsse. So schaut also 2023 ein westdeutscher Journalist auf eine gesellschaftliche Debatte. So isser, der Wessi.

Bündnis 90: Bedeutend gefeiert und prominent ignoriert

Stell dir vor, du bist als Journalist auf einer Feier und weißt anschließend nicht, was gefeiert wurde. Klingt seltsam? Leider ist dies an diesem Wochenende mehrfach passiert. Denn die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ beging am 10. Januar 2020 einen Doppelgeburtstag — 40 Jahre „Die Grünen“ und 30 Jahre „Bündnis 90“. Und einige Medienberichte haben einen Teil der Feier übersehen.

Zuvor ein kurzer Exkurs in die Geschichte (ausführlich bei Wikipedia): Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“ gegründet. 1990 wiederum bildeten verschiedene Oppositionsgruppen in der DDR die Listenvereinigung „Bündnis 90“. Drei Jahre später schlossen sich beide Gruppen zusammen, die Partei heißt seitdem offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“.

Im Januar 2020 nun also das große Jubiläumsfest, die großen Medien berichten ausführlich. Allerdings scheinen sie von ganz unterschiedlichen Festen zu schreiben. Und von ganz unterschiedlichen Parteien.

Die Problematik der zweiteiligen Partei wird allein von Jana Hensel benennt, in der Zeit schreibt sie:

Nicht nur der 40. Geburtstag der West-Grünen wurde begangen, sondern auch der 30. Geburtstag von Bündnis 90, dem ostdeutschen Vorläufer der Partei, der in der Vergangenheit gern mal vergessen wurde.

Jana Hensel: Happy Birthday, Gegenwart, Die Zeit, 11.01.2020

Weitere Erläuterungen zu dieser Problematik oder zur Bedeutung von Bündnis 90 gibt sie allerdings nicht.

Die Süddeutsche Zeitung stellt die Geschichte der Partei ausführlich dar. Selbst die Geschichte der Grünen in der DDR bekommt einen eigenen Abschnitt — so detailliert ist sonst kein Medium bei diesem Thema. Constanze von Bullion schlägt in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen eine Verbindung zwischen der Partei und der deutsch-deutschen Geschichte:

Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

Constanze von Bullion: Langer Lauf zum deutschen Staat, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2020

Bedeutung von Bündnis 90

Auch andere Artikel sehen die Verbindung aus Bündnis 90 und Grünen als bedeutungsvoll an. So schreibt etwa Sascha Lehnartz in Die Welt:

Dass die Partei in die Mitte der Gesellschaft gerückt sei, sei nicht zuletzt dem Zusammenschluss mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 zu verdanken

Sascha Lehnartz: Eine Mahnung von Grumpy Opa Joschka an die stürmische Jugend, Die Welt, 11.01.2020

Und Stephan-Andreas Casdorff meint im Tagesspiegel:

Dass die Grünen zu einer politischen Institution werden konnten, haben sie der Wiedervereinigung zu verdanken. Ohne die und eine nachfolgende Vereinigung mit Bündnis 90 aus dem Osten gäbe es sie heute womöglich gar nicht mehr. Oder nicht so. (…) Die Bürgerbewegung der DDR war gewissermaßen ihre Rettung.

Stephan-Andreas Casdorff: Dem Osten sei Dank!, Tagesspiegel, 12.01.2020

Die DDR-Oppositionellen haben also nicht nur einen Staat zu Fall gebracht, sondern auch die Grünen gerettet! Das ist in dieser Lesart überraschend deutlich und wäre vor ein paar Jahren wahrscheinlich so noch nicht möglich gewesen.

Bündnisgrüne: Konflikte und Ausblicke

Wo aber steht diese Partei aus zwei Herkünften heute? Das Magazin Cicero sieht eine westdeutsche Dominanz:

Doch trotz aller Verneigungen (…) kann auch an diesem Abend auch der Auftritt der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne Birthler, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei westdeutsch dominiert ist

Moritz Gathmann, Bastian Brauns: Piep, piep, piep, Cicero, 11.01.2020

Diesen Blick innerhalb hatten wir auf einwende bereits 2018 als „Wessi-Brille“ thematisiert. Beim Jubiläumsfest gerät diese Fokussiert aber in Bewegung, das beobachtet Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Auch Marianne Birthler, die einst Sprecherin von Bündnis 90 und zuletzt Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen war, hatte noch einen Wunsch: Die Partei möge sich in „Bündnisgrüne“ umbenennen. Viele Vertreter der Bürgerbewegungen aus der DDR (…) stören sich daran, dass im normalen Sprachgebrauch der volle sperrige Name „Bündnis 90/Die Grünen“ oft zu „Die Grünen“ verkürzt wird und der Anteil der Ostdeutschen untergeht. Beide Parteivorsitzenden ließen am Freitagabend deutliche Sympathien für diesen Vorstoß erkennen.

Helene Bubrowski: Die Grünen genießen ihren Albtraum, FAZ, 11.01.2020

Valerie Höhne vom Spiegel fällt die Bezeichnung ebenfalls auf — und wagt einen Blick in die Zukunft:

Der Begriff „Bündnisgrüne“ fällt auf, er wird an diesem Abend mehrfach gebraucht. (…) Vielleicht ist es der erste Schritt, den umständlichen Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen in einen einfacheren umzuwandeln, in einen, der dem ostdeutschen Bündnis im Namen einen ebenbürtigen Platz einräumt

Valerie Höhne: Trau‘ keinem über 40, Der Spiegel, 11.01.2020

Prominent ausgeblendet

Ohne Bündnis 90 würde es die Grünen nicht mehr geben. Eine neue Bezeichnung für die Partei wird etabliert. 

Das sind bedeutende Erkenntnisse aus einer Jubiläumsfeier, an der eine journalistische Berichterstattung nicht vorbei kommen kann, oder?

Doch! Schließlich wurde 2019 ausreichend auf Ostdeutsche und ihre Befindlichkeiten geschaut — jetzt ist mal eine gute westdeutsche Partei aus guter alter westdeutscher Sicht dran!

So verkürzt der Stern den Zusammenschluss auf eine Umbenennung, das Twix unter den Parteien also:

1993 hatten sie sich — trotz heftiger Konflikte — zusammengeschlossen und heißen nun seitdem Bündnis90/Die Grünen.

Von der Öko-Opposition zur Regierungspartei: Wie sich die Grünen verändert haben, stern, 10.01.2020

Der Bonner General-Anzeiger verkürzt weiter und schmeißt sowohl Bündnis 90 als auch den Zusammenschluss von 1993 aus der Wahrnehmung:

Das war die Lehre der verlorenen Bundestagswahl von 1990. Wie keine andere Partei hat sie sich danach gewandelt.

Helge Matthiesen: Eine Erfolgsgeschichte, General-Anzeiger, 10.01.2020

Die Augsburger Allgemeine, die tageszeitung und Die Welt schweigen sich über die ostdeutschen Aspekte der Partei gleich komplett aus. Eine 45-minütige Dokumentation der ARD findet darüber auch auch kein Wort. (Danke an Robert Heinrich für den Hinweis.)

Sensible Sichtbarmachung

Nun ließe sich vortrefflich streiten: Welche Rolle spielt die DDR-Opposition denn heute noch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen? Welchen Stellenwert hat dieser Zusammenschluss im Vergleich zu den ökologischen Ansprüchen der Partei? Lässt sich die Partei überhaupt als eine west-ostdeutsche Partei verstehen? 

Das alles sind und wären wichtige Fragen, die in Medienberichten im doppelten Jubiläumsjahr – 40 Jahre „Bündnis90/Die Grünen“ und 30 Jahre Wiedervereinigung – unbedingt gestellt werden müssten. Denn gerade durch die ausführliche Berichterstattung über den Osten im letzten Jahr ist deutlich geworden: Es kann nicht so weiter gehen wie bisher.

Es ist also gut, dass der mediale Blick auf diese Parteifeier so unterschiedlich ist. Denn er zeigt, dass die Wahrnehmung ostdeutscher Belange sensibler wird. Und dass noch viel zu tun ist.

In eigener Sache: einwende beim Medienmagazin Zapp

Am 28.08. hat das Medienmagazin Zapp über die Spiegel-Titelseite „So isser, der Ossi“ berichtet. In der Rolle des Betroffenen mit Blog konnte ich im Beitrag zu Wort kommen:

Zum nachlesen: Unsere ausführliche Analyse der Titelseiten des Spiegel der letzten 30 Jahre gibt es hier.

Der Spiegel der Wessis: Eine Geschichte in Titelbildern 1

Der Spiegel der Wessis: Eine Geschichte in Titelbildern

Reden wir einmal über Bilder. Denn Bilder bilden Wahrnehmungen ab, und sie prägen ein öffentliches Bewusstsein. Gerade Titelbilder von Zeitungen und Zeitschriften sind dabei ein wichtiges Feld – sollen sie doch aufmerksam machen und damit zum Kauf anregen. Das Wochenmagazin „Spiegel“ schafft das immer wieder. Mal trifft es den Nerv der Zeit, mal provoziert es – manchmal beides.

Seit 24. August 2019 liegt der Spiegel mit einem Titelbild in den Regalen, das endlich Erklärung verspricht: „So isser, der Ossi.“ Bebildert ist es mit einem Anglerhut in schwarz-rot-gold. 

Spiegel 35 / 2019

Vor ziemlich genau einem Jahr erlangte ein Pegida-Demonstrant mit einem solchen Kleidungsstück unfreiwillige Berühmtheit. Er kritisierte ein Kamerateam weil er nicht gefilmt werden wollte und ließ das Filmteam von der Polizei kontrollieren. Der – natürlich – gut dokumentierte Vorfall bestach durch die polterige Impertinenz des Betroffenen und wurde von klassischen Medien und in Social Media bereitwillig aufgenommen. Die taz hatte etwa am 24. August 2018 – also exakt ein Jahr vor dem aktuellen Spiegel-Titel – ein recht ähnliches Titelbild mit der Fokussierung auf den Anglerhut:

taz 24.08.2018

Der Anglerhut mit markanter Farbgebung ist also im wahrsten Sinne ein Symbol-Bild für Ostdeutschland geworden. Genauer gesagt: Für Ostdeutsche mit rechter Einstellung einerseits und mit wenig Intelligenz andererseits. Also genauso, wie man sich in Westdeutschland Ostdeutsche gerne vorstellt.

Gerade der „dumme Ostdeutsche“ hat in der bildlichen Darstellung Tradition. Die bekannteste Darstellung dürfte das Titelbild der Titanic vom November 1989 sein:

Titanic November 1989

„Meine erste Banane“ heißt es hier – eine geschälte Gurke lässt auch bei „Zonen-Gaby“ wenig Auffassungsgabe vermuten. Und auch dort spielte Kleidung eine Rolle in der öffentlichen Darstellung eines „Ossi“: Was heute der Anglerhut ist, war damals die Jeansjacke. Wie etwa das Neue Deutschland 2015 im Interview mit dem Covermodell feststellt:

Das Bild ging später um die ganze Welt. Auch weil mit ihm die Ostdeutschen als einfältige, konsumgeile Trottel in hässlichen Stonewashed-Jeansjacken abgestempelt werden konnten.

Neues Deutschland, 03.01.2015

Auch beim Spiegel landete Ende 1989 eine Kopfbedeckung auf dem Titelbild. Es gibt aber zwei Unterschiede zum aktuellen Cover: Es handelt sich um die klassische Zipfelmütze des „deutschen Michel“, also eine Darstellung des Deutschen an sich. Und unter dieser Mütze stecken zwei Deutsche, Ost und West.

Spiegel 51/1989

Unter diesem Hut blieben die Deutschen laut Spiegel nicht lange: Mitte 1990 sind sie immerhin noch durch die verknoteten Krawatten verbunden. Der Texttext verweist aber bereits darauf, dass man „vereint aber fremd“ sei:

SPIEGEL 39/1990

Mitte 1992 spricht man aber bereits von einer „neuen Teilung“ – „Deutsche gegen Deutsche“. Entsprechend blicken Ost und West übel gelaunt in unterschiedliche Richtungen, Zusammenhalt gibt nur ein Strick, der sie aneinander kettet.

SPIEGEL 34/1992

Über die Jahre scheint sich der Abstand noch weiter vergrößert zu haben: 1999 stehen Menschen aus Ost und West weit entfernt auf einer durchbrochenen Brücke. Um die Lücke zu füllen, wird ein Handschlag herangehoben – hier wird wieder der Strick verwendet, der aber bereits eine bedenklich empfindliche Stelle besitzt

SPIEGEL 10/1999

Diese Entwicklung geschieht parallel zu einer weiteren Titelbild-Erzählung des Spiegel: Der Osten kostet. Anfang 1990 etwa fragte man aufgrund einer „Massenflucht“ aus der DDR: „Gefahr für den Wohlstand?“

SPIEGEL 4/1990

Und Mitte 1991 lautete die Frage aufgrund von „Steuer-Opfern für den Osten“: „Wieviel noch?“ Hier wird ein Westdeutscher von riesigen Händen ausgewrungen:

SPIEGEL 27/1991

Beide Titelbilder zeigen also einen klar westdeutschen Blick, der den Osten wahlweise als Belastung oder als Bedrohung wahrnimmt. Die Angst vor der „Gefahr aus dem Osten“ ist übrigens schon deutlich älter: Bereits im Alten Griechenland fürchtete man sich auf diese Weise vor dem Perserreich.

Aber zurück in die 1990er Jahre aus Sicht des Spiegel. Der war sich nämlich offenbar nicht einig, ob Ostdeutschland denn nun eine Erfolgsgeschichte ist oder nicht. So hieß es 1994: „Der Osten is‘ stark“, 

SPIEGEL 33/1994

Anfang 1995 aber hieß es „Milliardengrab ‚Aufschwung Ost‘“. Wobei auch der westdeutsche Blick zählt: Ahnen die Spiegel-Lesenden im Westen jetzt wohl, dass ihr Solidarbeitrag wohl doch nicht gut angelegt sein dürfte.

SPIEGEL 7/1995

„Der neue Osten“ heißt es wiederum 1996 – bei der bunten Comicgrafik muss man vermuten: Neu gleich gut.

SPIEGEL 41/1996

Das ist recht interessant, hat der Spiegel bei Titelseiten 1995 und 1996 den Erfolg der „Blühenden Landschaften“ in Frage gestellt. In beiden Fällen liegt das DDR-Staatswappen halb verrottet in einer Wiese.

SPIEGEL 36/1995
SPIEGEL 25/1996

Was auffällt: Diese Titelbilder besitzen bislang recht wenig „typische“ Ost-Symbolik. Das sollte sich ändern. Denn ebenfalls 1995 findet der Spiegel erste Symbol-Bilder für die Ostdeutschen. Da man in einer Umfrage ein „Heimweh nach der alten Ordnung“ gefunden habe, trägt eine Frau stolz eine DDR-Flagge und erotisch eine FDJ-Bluse.

SPIEGEL 27/1995

Die Hemden von FDJ und Pionieren hatten es dann eine Zeitlang tatsächlich ins öffentliche Bewusstsein als DDR-Symbole geschafft. In der „DDR-Show“ von RTL trug etwa Kati Witt ein Pionierhemd, was ihr auch Kritik einbrachte.

Kati Witt in der „DDR-Show“ 2003

Ach, die Symbole, endlich, mag man beim Spiegel frohlockt haben! 2004 hatte das Magazin mit dem Ampelmännchen ein anderes ostdeutsches Symbol gefunden und eine griffige Zeile gleich dazu: „Jammertal“ hieß es zu 15 Jahren Deutsche Einheit.

SPIEGEL 39/2004

Damit war der Spiegel nah am „Jammerossi“ — und bereits recht nah am aktuellen Spiegelbild: Ein klares bildliches Symbol gepaart mit einem klaren Urteil über den Osten. Der jammernde Ossi halt, entweder über die wirtschaftliche Situation oder weil er bei einer Demonstration gefilmt wird. 

Was im Jahr 2004 aber noch fehlt, das ist der Verweis auf den rechten Osten. Das lieferte der Spiegel dann im Jahr 2018:

SPIEGEL 36/2018

Ein ganzes Bundesland wird rechts, sagt uns die Illustration ganz zugespitzt. Bei einer anderen Titelseite aus dem gleichen Jahr ist der Spiegel etwas ausführlicher: „Revolution“ heißt es da und „Warum die Deutschen so oft scheitern“. 1989 steht in der Auflistung, auch wenn das entsprechende Foto hinter dem westdeutschen Symbol Rudi Dutschke recht versteckt abgebildet ist.

SPIEGEL 42/2018

Aber: Ist 1989 denn tatsächlich gescheitert? Aus Sicht des Spiegel und der Geschichte seiner Titelseiten ist die Antwort wahrscheinlich klar: Ja. Denn die Ostdeutschen sind dumm, sie kosten und rechts sind sie jetzt auch noch geworden.

Die Titelseiten des Spiegel dürften aber auch eine Antwort darauf geben, warum das Magazin im Osten Deutschlands vergleichsweise wenig gelesen wird, weniger als die „SuperIllu“ etwa. Aber wer möchte denn auch eine Zeitschrift kaufen, auf der man als jammernd, als dumm oder als rechts dargestellt wird? Und versteht der Spiegel seine potenziellen Käuferinnen und Käufer tatsächlich so?

Die Dämonen, die wir riefen: Ostdeutschen-Bashing und Wessi-Diskriminierung 1

„In unserem vereinten Deutschland muss das Ostdeutschen-Bashing endlich ein Ende haben!“

Sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz am 9. Oktober 2016 in der Leipziger Nikolaikirche. Was für ein Bashing denn?

War es denn ein Bashing, als Stefan Schirmer im August 2015 in der Zeit einen „Säxit“ gefordert hat, einen Austritt Sachsens aus Deutschland? „Wenn aus Ankommen im gemeinsamen Deutschland Arroganz wird, aus Beleidigtsein Hass […]: dann sollen die Sachsen halt ihr eigenes Land aufmachen. Im Ernst.“

Oder hat Jan Fleischauer im Dezember 2015 auf Spiegel Online mit seiner Frage gebasht, ob die Wiedervereinigung ein Fehler war? (West-)Deutschland solle die eigenen Dämonen in den Blick nehmen, forderte er — und meinte damit Ostdeutschland: Dämonen!

Aber wieso immer nur Ostdeutschen-Bashing? Weit schlimmer ist doch die „Wessi-Diskriminierung“! Astrid von Friesen berichtete im September 2016 bei Deutschlandradio Kultur, wie nach der Vereinigung „enthusiastische Westdeutsche […] begeistert in den Osten zogen, um beim Aufbau mitzuhelfen.“ Doch wurde es ihnen gedankt? Nein! Sie wurden „als Fremde angepöbelt“ — damit würde es ihnen genauso ergehen wie „ausländischen Wissenschaftlern und Flüchtlingen“. Eine „Verrohung“ also, deshalb wollen jetzt ganz viele Westdeutsche weg aus Sachsen, sogar ein befreundeter Rechtsanwalt der Autorin. Bevor es zum „Säxit“ kommt. Der ist ja offenbar abgemachte Sache.

Jan Fleischhauer hat heute wieder eine Kolumne geschrieben. Ob er inzwischen mit seinen Dämonen in Kontakt steht, sagt er nicht. Dafür setzt er sich mit dem „Feindbild Ostler“ auseinander:

„Wenn vom Ostler die Rede ist, bleibt es ja nicht bei der Feststellung, dass er anders ist. Auf die Generalisierung folgt in der Regel die Abwertung. […] Vielleicht sind sich Ost und West ähnlicher als sie denken: Wer es nötig hat, sich auf Kosten anderer Luft zu verschaffen, bei dem stimmt im Psychohaushalt etwas nicht.“

Die Studie in den Köpfen — wenn Wirtschaftswissenschaftler Ossi-Psychologie erklären

Alle, die bisher immer geglaubt haben, dass die DDR bis heute in den Köpfen wirkt, dürfen jetzt aufspringen, in die Hände klatschen und jubeln: Eine wissenschaftliche Studie gibt ihnen Recht!

Expertenwissen! Forschung! Objektivität! Danach lechzen wir, also schauen wir uns das doch einmal an:

Wer hat die Studie durchgeführt?

  • Tim Friehe, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Marburg
    Wissenschaftliche Stationen in Philadelphia (USA), Hamburg, Mainz, Tübingen, Konstanz, Bonn.
  • Markus Pannenberg, Wirtschaftswissenschaftler an der Fachhochschule Bielefeld
    Wissenschaftliche Stationen an der TU Berlin, in Frankfurt/Oder und Halle. Abitur in Rüthen (NRW).
  • Michael Wedow, Europäische Zentralbank

Europäische Zentralbank. Aha. (Erklärung folgt unten)

Was will die Studie?

Die Arbeit mit dem lyrischen Titel „Let Bygones Be Bygones?“ („Soll die Vergangenheit ruhen?“) möchte den Einfluss politischer Systeme auf die Persönlichkeit untersuchen. Die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands wird dabei als „natürliches Experiment“ angesehen und genutzt. Die Forscher gehen dabei davon aus, dass die DDR-Regierung einen Einfluss auf die Persönlichkeit gehabt hat.

Alle Angaben zur Studie stammen aus der Untersuchung selbst, die kostenlos zum Download bereit steht.

Wie geht die Studie vor?

Die Studie nutzt Daten des Sozioökomischen Panels SOEP, das seit 1984 Erhebungen in deutschen Haushalten durchführt. Konkret werden Erhebungen aus den Jahren 2005, 2009 und 2010 genutzt — ausschlaggebend: Die Menschen müssen 1989 entweder in der BRD oder DDR gelebt haben und müssen in Deutschland geboren oder vor 1949 immigriert sein. Beim Abgleich der Daten ist dann folgende Sache passiert:

German natives living in East Germany in 1989 constitute the treatment group, while natives living in West Germany in 1989 represent the control group. (Seite 8 der Studie)

Das kennen wir aus Medikamententests: Die Behandlungsgruppe erhält das Medikament, die Kontrollgruppe nicht. Die Kontrollgruppe bleibt normal, die Behandlungsgruppe ist die Abweichung von der Norm.

Was findet die Studie heraus?

Natürlich findet sie Unterschiede:

We find that the GDR’s socialist regime is via its footprint in personalities – more than 25 years after its demolition – still relevant in important ways today and well into the future. […] People who lived in the GDR in 1989 are – when compared to people from the FRG – more neurotic, less open, more conscientious, and have a more external locus of control.

Das DDR-System lebt also fort in den Köpfen von neurotischen, weniger offenen und gewissenhaften Ostdeutschen, die sich niedrige Ziele setzen.

Aber nicht zu vergessen: Die wichtigste Erkenntnis:

[…] the shadows of the past are economically significant.

Damit dürfte auch klar sein, warum hier die Zentralbank an Bord ist.

Und stimmt das auch?

Wer weiß. Möglicherweise. Vielleicht auch nicht. Das liegt an einigen offensichtlichen Schwächen der Studie:

  • Die ausgeblendete Zeit: Wenn Daten aus den Jahren 2005 – 2010 ausgewertet werden, kann keine direkte Linie zu Ursachen von vor 1989 gezogen werden. Die Einflussfaktoren zwischen 1989 und den Jahren der Datenerhebung müssen dabei ebenfalls in Betracht gezogen werden. Das ist nicht geschehen.
  • Die Behauptung einer Normalität: Die Studie trifft ihre Aussage, da sie die Daten aus der Bundesrepublik als Kontrollgruppe neben die DDR-Gruppe legt. Doch wie kann ein dynamisches Gesellschaftssystem neben einem anderen dynamischen Gesellschaftssystem als neutrale Kontrollgruppe gelten? Noch absurder: Die Forscher gehen ausdrücklich davon aus, dass das DDR-System alle Lebensbereiche durchdrungen habe. Wenn es also eine statische monolithische Gesellschaft gegeben hätte, wäre es also eher die DDR-Gruppe gewesen. Dann hätte diese aber zur Norm werden sollen.
  • Der falsche Fachzugang: Wirtschaftswissenschaften können bestimmt viele tolle Dinge. Was sie nicht können: Psychologische Auswirkungen fundiert bewerten. Dafür gibt es andere Fachdisziplinen.

Dass in der Studie die Dichte von Inoffiziellen Mitarbeitern in Beziehung zu den Persönlichkeitsmustern gesetzt und eine Kausalität konstruiert wird, lassen wir mal gleich ganz weg.

Quatsch also — aber warum dann hier so breit thematisieren?

Weil das woanders nicht so gesehen wird: Spiegel Online verbreitet die Ereignisse der Studie, Kritik kommt nur gegen Ende in einem Zitat der Persönlichkeitsforscherin Jule Specht vor:

Es ist gewagt, die Unterschiede, die heute zwischen den Menschen existieren, auf Einflüsse von vor 25 Jahren zurückzuführen.

Das hält den Artikel aber nicht davon ab, mit altbekannten Klischeebildern zu beginnen. Und mit dem Fazit der Studie zu schließen. Solange die Wissenschaft den Osten so erklärt, wie wir ihn haben möchten, wollen wir weiterhin aufspringen, in die Hände klatschen und jubeln.

Danke an Sylvia für den Hinweis!

Denunziert euch mal nicht so

Nach 25 Jahren beständiger Aufdeckung von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Staatssicherheit ist es soweit: Alle gefunden, Mission beendet. Aber weil es so ganz ohne DDR-Denunzianten-Grusel ja langweilig wäre, startet der Spiegel die nächste Stufe: Auch Westdeutsche haben in der DDR angeschwärzt.

Wessis der DDR zugeliefert? Nein! Doch! Oh! Aber damit wir nicht in der Schreckstarre eines Louis de Funès verharren, gibt uns der Spiegel gleich die Begründung: Die Westdeutschen schwärzten Menschen aus der DDR an,

damit diese nicht rüber kommen, weil die „uns“ sonst „die Arbeit wegnehmen.“

Starkes Stück. Damit man aber nicht allzu sehr ins Grübeln kommt (Wo gibt es da Parallelen?), macht der Spiegel gleich weiter: Nicht nur die IM haben gespitzelt, nicht nur die Westdeutschen haben angeschwärzt, nein:

Anschwärzen im Alltag war für viele eine Selbstverständlichkeit — ganz ohne Zutun der Stasi

Noch stärkeres Stück. Damit man da richtig ins Grübeln kommt, liefert der Spiegel gleich noch ein Interview mit der Historikerin Hedwig Richter mit. Sie sagt etwa:

Die DDR-CDU hat dabei eine ganz negative Rolle gespielt, über die kaum ein Mensch redet.

Deshalb belässt es der Spiegel auch damit. Statt einer Auseinandersetzung mit dem Wahlgewinner ’90 („Allianz für Deutschland“) geht es also um das Fußvolk. Denn das war — man staune — eigentlich noch schlimmer als die Stasi-IMs. Historikerin Richter:

wer zur Stasi ging, der wusste ganz genau, dass er hier was Zweifelhaftes macht. [Aber] dieses Berichtswesen war ein niedrigschwelliges Angebot zur Denunziation ohne dass die, die denunzierten, sich wirklich schlecht fühlen mussten.

Denunzieren ohne schlechtes Gewissen! Was werden sich all die armen IM jetzt ärgern, dass sie sich damals immer in den Schlaf weinen mussten — hätten sie doch nur niedrigschwelliger gearbeitet. Stattdessen mussten die einen bewusst etwas Zweifelhaftes tun und die anderen: auch. Aber unbewusst. Also alle fiese Denunzianten in der DDR?

Natürlich ist die ostdeutsche Bevölkerung nicht prinzipiell irgendwie denunziationsfreudiger als die in einem anderen Land. Aber, wie so oft, hat diese Diktatur das Niedrige befördert. […] In einer freien Gesellschaft kann Denunziation gar nicht diese Rolle spielen, weil es dem Staat egal ist, was X über Y sagt.

Da hat der Spiegel die eigentlich spannende Entdeckung — Westdeutsche, die in der DDR denunzieren — schon längst vergessen. Stattdessen prangert das Interview die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der DDR-Bewohner_innen an. Und man freut sich: Endlich reden wir nach 25 Jahren über dieses Thema.

Und vielleicht reden wir dann in 25 Jahren auch über die denunzierenden Westdeutschen. Mal schauen, ob wir dann soweit sind.