Bündnis 90: Bedeutend gefeiert und prominent ignoriert

Stell dir vor, du bist als Journalist auf einer Feier und weißt anschließend nicht, was gefeiert wurde. Klingt seltsam? Leider ist dies an diesem Wochenende mehrfach passiert. Denn die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ beging am 10. Januar 2020 einen Doppelgeburtstag — 40 Jahre „Die Grünen“ und 30 Jahre „Bündnis 90“. Und einige Medienberichte haben einen Teil der Feier übersehen.

Zuvor ein kurzer Exkurs in die Geschichte (ausführlich bei Wikipedia): Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“ gegründet. 1990 wiederum bildeten verschiedene Oppositionsgruppen in der DDR die Listenvereinigung „Bündnis 90“. Drei Jahre später schlossen sich beide Gruppen zusammen, die Partei heißt seitdem offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“.

Im Januar 2020 nun also das große Jubiläumsfest, die großen Medien berichten ausführlich. Allerdings scheinen sie von ganz unterschiedlichen Festen zu schreiben. Und von ganz unterschiedlichen Parteien.

Die Problematik der zweiteiligen Partei wird allein von Jana Hensel benennt, in der Zeit schreibt sie:

Nicht nur der 40. Geburtstag der West-Grünen wurde begangen, sondern auch der 30. Geburtstag von Bündnis 90, dem ostdeutschen Vorläufer der Partei, der in der Vergangenheit gern mal vergessen wurde.

Jana Hensel: Happy Birthday, Gegenwart, Die Zeit, 11.01.2020

Weitere Erläuterungen zu dieser Problematik oder zur Bedeutung von Bündnis 90 gibt sie allerdings nicht.

Die Süddeutsche Zeitung stellt die Geschichte der Partei ausführlich dar. Selbst die Geschichte der Grünen in der DDR bekommt einen eigenen Abschnitt — so detailliert ist sonst kein Medium bei diesem Thema. Constanze von Bullion schlägt in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen eine Verbindung zwischen der Partei und der deutsch-deutschen Geschichte:

Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

Constanze von Bullion: Langer Lauf zum deutschen Staat, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2020

Bedeutung von Bündnis 90

Auch andere Artikel sehen die Verbindung aus Bündnis 90 und Grünen als bedeutungsvoll an. So schreibt etwa Sascha Lehnartz in Die Welt:

Dass die Partei in die Mitte der Gesellschaft gerückt sei, sei nicht zuletzt dem Zusammenschluss mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 zu verdanken

Sascha Lehnartz: Eine Mahnung von Grumpy Opa Joschka an die stürmische Jugend, Die Welt, 11.01.2020

Und Stephan-Andreas Casdorff meint im Tagesspiegel:

Dass die Grünen zu einer politischen Institution werden konnten, haben sie der Wiedervereinigung zu verdanken. Ohne die und eine nachfolgende Vereinigung mit Bündnis 90 aus dem Osten gäbe es sie heute womöglich gar nicht mehr. Oder nicht so. (…) Die Bürgerbewegung der DDR war gewissermaßen ihre Rettung.

Stephan-Andreas Casdorff: Dem Osten sei Dank!, Tagesspiegel, 12.01.2020

Die DDR-Oppositionellen haben also nicht nur einen Staat zu Fall gebracht, sondern auch die Grünen gerettet! Das ist in dieser Lesart überraschend deutlich und wäre vor ein paar Jahren wahrscheinlich so noch nicht möglich gewesen.

Bündnisgrüne: Konflikte und Ausblicke

Wo aber steht diese Partei aus zwei Herkünften heute? Das Magazin Cicero sieht eine westdeutsche Dominanz:

Doch trotz aller Verneigungen (…) kann auch an diesem Abend auch der Auftritt der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne Birthler, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei westdeutsch dominiert ist

Moritz Gathmann, Bastian Brauns: Piep, piep, piep, Cicero, 11.01.2020

Diesen Blick innerhalb hatten wir auf einwende bereits 2018 als „Wessi-Brille“ thematisiert. Beim Jubiläumsfest gerät diese Fokussiert aber in Bewegung, das beobachtet Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Auch Marianne Birthler, die einst Sprecherin von Bündnis 90 und zuletzt Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen war, hatte noch einen Wunsch: Die Partei möge sich in „Bündnisgrüne“ umbenennen. Viele Vertreter der Bürgerbewegungen aus der DDR (…) stören sich daran, dass im normalen Sprachgebrauch der volle sperrige Name „Bündnis 90/Die Grünen“ oft zu „Die Grünen“ verkürzt wird und der Anteil der Ostdeutschen untergeht. Beide Parteivorsitzenden ließen am Freitagabend deutliche Sympathien für diesen Vorstoß erkennen.

Helene Bubrowski: Die Grünen genießen ihren Albtraum, FAZ, 11.01.2020

Valerie Höhne vom Spiegel fällt die Bezeichnung ebenfalls auf — und wagt einen Blick in die Zukunft:

Der Begriff „Bündnisgrüne“ fällt auf, er wird an diesem Abend mehrfach gebraucht. (…) Vielleicht ist es der erste Schritt, den umständlichen Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen in einen einfacheren umzuwandeln, in einen, der dem ostdeutschen Bündnis im Namen einen ebenbürtigen Platz einräumt

Valerie Höhne: Trau‘ keinem über 40, Der Spiegel, 11.01.2020

Prominent ausgeblendet

Ohne Bündnis 90 würde es die Grünen nicht mehr geben. Eine neue Bezeichnung für die Partei wird etabliert. 

Das sind bedeutende Erkenntnisse aus einer Jubiläumsfeier, an der eine journalistische Berichterstattung nicht vorbei kommen kann, oder?

Doch! Schließlich wurde 2019 ausreichend auf Ostdeutsche und ihre Befindlichkeiten geschaut — jetzt ist mal eine gute westdeutsche Partei aus guter alter westdeutscher Sicht dran!

So verkürzt der Stern den Zusammenschluss auf eine Umbenennung, das Twix unter den Parteien also:

1993 hatten sie sich — trotz heftiger Konflikte — zusammengeschlossen und heißen nun seitdem Bündnis90/Die Grünen.

Von der Öko-Opposition zur Regierungspartei: Wie sich die Grünen verändert haben, stern, 10.01.2020

Der Bonner General-Anzeiger verkürzt weiter und schmeißt sowohl Bündnis 90 als auch den Zusammenschluss von 1993 aus der Wahrnehmung:

Das war die Lehre der verlorenen Bundestagswahl von 1990. Wie keine andere Partei hat sie sich danach gewandelt.

Helge Matthiesen: Eine Erfolgsgeschichte, General-Anzeiger, 10.01.2020

Die Augsburger Allgemeine, die tageszeitung und Die Welt schweigen sich über die ostdeutschen Aspekte der Partei gleich komplett aus. Eine 45-minütige Dokumentation der ARD findet darüber auch auch kein Wort. (Danke an Robert Heinrich für den Hinweis.)

Sensible Sichtbarmachung

Nun ließe sich vortrefflich streiten: Welche Rolle spielt die DDR-Opposition denn heute noch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen? Welchen Stellenwert hat dieser Zusammenschluss im Vergleich zu den ökologischen Ansprüchen der Partei? Lässt sich die Partei überhaupt als eine west-ostdeutsche Partei verstehen? 

Das alles sind und wären wichtige Fragen, die in Medienberichten im doppelten Jubiläumsjahr – 40 Jahre „Bündnis90/Die Grünen“ und 30 Jahre Wiedervereinigung – unbedingt gestellt werden müssten. Denn gerade durch die ausführliche Berichterstattung über den Osten im letzten Jahr ist deutlich geworden: Es kann nicht so weiter gehen wie bisher.

Es ist also gut, dass der mediale Blick auf diese Parteifeier so unterschiedlich ist. Denn er zeigt, dass die Wahrnehmung ostdeutscher Belange sensibler wird. Und dass noch viel zu tun ist.

Essen im Osten: Vorurteile gehen durch den Magen

Viele aus dem Westen stammenden Glossenschreiber versuchen den Osten Deutschlands zu verstehen. Unergründlich erscheint er ihnen immer wieder. Umso schöner, dass sie sich nach AfD und Pegida wieder der entscheidenden Seltsamkeit des Ostens zuwenden können: Dem Essen.

Martenstein und Toast (1)

Den Auftakt macht der preisgekrönte Kolumnist Harald Martenstein. Am 9. Oktober 2017 schrieb er die Glosse „Über die politische Botschaft des Toastbrots“.  Sein Problem: Im Osten wird ungetoasteter Toast serviert. Doch das ist nicht alles. Um das allerdings zu verstehen, entrümpeln wir den Text von der satirischen Verfremdung, die eine solche Glosse auszeichnet. Martenstein also in Übersetzung:

Was Martenstein schreibt:

So ein Toastbrot kann natürlich annehmbar schmecken, allerdings nur, nachdem es in einem Toaster getoastet wurde, dazu ist es gemacht, deshalb heißt es „Toastbrot“. Ein ungetoastetes Toastbrot ist nur ein Rohstoff, aus dem durch den Prozess des Toastens etwas Essbares hergestellt wird. Im Osten servieren sie das Toastbrot roh.

Was er damit meint:

Die dummen Ossis haben nicht mal das Feuer erfunden.

Was Martenstein schreibt:

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wäre es jedenfalls kein Problem, essbares Brot zu kaufen, die Grenze ist offen.

Was er damit meint:

Dabei haben wir ihnen diese zivilisatorische Errungenschaft längst gebracht! Dafür sind wir doch 1989 auf die Straße gegangen!

Was Martenstein schreibt:

Das Schlimmste an der DDR-Küche waren allerdings diese Toastscheiben.

Was Martenstein damit meint:

Ich hasse Ossis. Vor allem weil ich sie nicht verstehe. Damit mir das allerdings nicht als Vorurteil gegenüber kulturellen Eigenheiten ausgelegt wird, verpacke ich mein Unverständnis in spitzbübische Bemerkungen zu einem offensichtlich unwichtigen Thema.

An einer Stelle jedoch versagen wir. Vermutlich liegt es daran, dass Martenstein an dieser Stelle auch tatsächlich meint, was er schreibt:

Ich glaube inzwischen, dass der ungetoastete Osttoast ein Symbol für den DDR-Sozialismus ist und deshalb so tief verankert ist in den Geschmacksnerven der Ostdeutschen. Der Sozialismus hat Wohlstand und Demokratie versprochen, beides ließ auf sich warten, so lange, bis die Menschen die Geduld verloren haben. Der Sozialismus war ein Toast, der wunderbar schmecken würde, wenn er erst mal fertig getoastet ist.

Oder er freut sich einfach nur auf den Moment, in dem Ostdeutsche begreifen, wie das eigentlich mit dem Feuer funktioniert. Damit Harald Martenstein endlich den Toast bekommt, den er verdient.

Martenstein und Toast (2)

Harald Martenstein hat das ungetoastete Toast am 9. November 2017 wieder aufgegriffen. Der Anlass: Die Wut über seinen Toasttext habe alles übertroffen, was er kannte. Für einen selbst-zentrierten-reflektierten Kolumnisten wie ihn ein gefundenes Fressen! Und für uns erst recht:

Was Martenstein schreibt:

Deutsche Einheit, da kenne ich mich aus. Ich bin aus dem Westen, habe aber seit vielen Jahren einen Wohnsitz in Brandenburg.

Was Martenstein damit meint:

Ich bin hierher gezogen und damit automatisch Experte. Was können mir schon dahergelaufene Einheimische sagen, die nicht einmal das Feuer erfunden haben?

Was Martenstein schreibt:

Das einigermaßen belanglose Thema und der eher freundliche Duktus des Textes einerseits und die grundsätzliche Gekränktheit, die aus etlichen Briefen spricht, stehen in einem sonderbaren Missverhältnis.

Was Martenstein damit meint:

Gott, die Ossis sind ja noch dümmer und empfindlicher als ich dachte.

Was Martenstein schreibt:

Viele Briefe kamen aus Thüringen, dort scheinen die Toast-Verhältnisse tatsächlich andere zu sein. Ich war zu wohl zu sehr auf Brandenburg und die Ostsee fokussiert, da bitte ich um Pardon.

Was Martenstein damit meint:

DDR ist DDR ist Ostdeutschland. Sollen sich mal nicht so haben.

Was Martenstein schreibt:

Die Wut sucht geradezu nach Anlässen. Da kann man es als Wessi wohl nur noch dann richtig machen, wenn man gar nichts sagt.

Was Martenstein damit meint:

Und denen wollten wir ernsthaft das mit dem Feuer beibringen?

taz und tote Oma

Doch Harald Martenstein ist nicht der einzige, der das Thema Essen und Osten hochkochen lässt. In der taz hat Micha Brumlik am 6. November die Kolumne „Der Untergang der toten Oma“ verfasst. Der Text ist aus ostdeutscher Perspektive recht drollig, beschreibt er doch, wie ein weltgewandter Westdeutscher im Jahr 2017 erstmals mit einem Gericht namens „Tote Oma“ in Kontakt kommt. Und nicht nur das: Recherchen führen Brumlik zu „einschlägigen Websites zur Küche der DDR“, „Munchies“ und „netmoms“ heißen sie. Und so kann er anhand von zwei Internetseiten die gesamte DDR analysieren. Respekt!

Was Brumlik schreibt:

Somit liebte man in der DDR – womöglich kontraphobisch – das Ekelhafte. „Als ekelhaft“, so der noch immer zu wenig gewürdigte Philosoph Aurel Kolnai, „wird immer ein Ding empfunden, das nicht für voll genommen, nicht für wichtig gehalten wird: etwas, das man weder vernichtet noch flieht, sondern hinwegräumt.“

Was Brumlik damit meint:

Ossis sind echt eklig. Ich nehm die jedenfalls nicht für voll, nicht für wichtig.

Was Brumlik schreibt:

Wir werden bei der Analyse dieser Vorliebe einer nachnationalsozialistischen Gesellschaft an der Lust am Kannibalischen nicht vorbeikommen, ebenso wenig wie an dem in den fünfziger Jahren von ehemaligen FDJ-Mitgliedern geförderten Jugendwahn. Bildet doch eine andere Konserve derselben Produkt­reihe, nämlich „Schulküchentomatensoße“, ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit weißem Hemd und blauem FDJ-Halstuch ab, das mit soßenverschmiertem Mund fröhlich in die Welt schaut.

Was Brumlik damit meint:

Passt auf, im Osten essen sie Menschen! Das ist keine Soße, das ist Soylent Green! Alle in Sicherheit!

Übrigens erkannte die taz schon 2014: „Die DDR ging unter, weil das Essen schlecht war“. Man fragt sich allerdings, was die taz über ein Getränk namens „Tote Tante“ sagen würde. Das stammt immerhin aus Nordfriesland, wie wir auf der einschlägigen Website „herzelieb“ lernen.

Neues Deutschland und Jägerschnitzel

Auch im Neuen Deutschland kommt man am Speisenthema nicht vorbei. Simon Poelchau schreibt am 8. November über das „Jägerschnitzel“:

Besonders hoch ist die Fallhöhe zwischen westdeutschen Erwartungen und ostdeutschen Realitäten, wenn in solchen TINA-Mensen ein Essen angeboten wird, das in Ost wie West gleich beliebt ist: das Jägerschnitzel. Dem Wessi läuft schon beim Gedanken an ein schönes Stück unpaniertes Kalbsfleisch mit Pilzsauce das Wasser im Mund zusammen. Entsprechend muss er erst mal enttäuscht schlucken, wenn ihm ein Jägerschnitzel Ost vorgesetzt wird: ein paniertes Stück Jagdwurst mit Spirelli-Butternudeln und eben jener schweren Verbrauchertäuschung aus Ketchup, Mehlschwitze und ein bisschen abgelaufenem Oregano.

Was er damit meinen könnte:

Ostdeutsches. Essen. Ist. Furchtbar. Oder sind es die westdeutschen Erwartungen? Sieht doch keiner mehr durch. Zumindest nicht aus westdeutscher Perspektive.

Guten Appetit!

Vielen Dank an Anne und Mechthild für die Hinweise!

Nach der Wahl: Ich-Erzähler erzählen über Ostdeutschland

Oh, diese Ostdeutschen! Diese Ostmänner! Nach der Bundestagswahl 2017 zeigen sie vor allem: Die gesamtdeutschen Zeitungsmacher_innen verstehen sie einfach nicht. Was läge also näher, als sich diese Spezies einmal genauer anzusehen? Doch diesmal ist alles schwieriger, schließlich fühlen sich diese Menschen nicht verstanden. Welch Rätsel, dass den westdeutschen Qualitätsmedien da gestellt wird!

Doch Lösung naht! Und sie lautet: Betroffenheitsjournalismus. Dabei geht es nicht nur um die Texte, ihre Beobachtungen und ihre Schlussfolgerungen. Nein, es geht auch um die Menschen hinter den Texten. Denn sie sollten etwas mit Ostdeutschland oder besser noch mit der DDR zu tun haben. Oder besser noch: Betroffene sein.

Dieser Ansatz war so naheliegend, dass kaum eine wichtige Zeitung in Deutschland in den Tagen nach der Bundestagswahl ohne einen entsprechenden Text blieb. Irgendwie schaffte es fast jede Redaktion Menschen mit Ost-Biografie, Ost-Erfahrung oder zumindest Ost-Bekanntschaften auszugraben.

Soviel Osten auf einmal war selten. Wir bieten daher einen Überblick zu diesen Texten. Damit alle endlich etwas über den Osten lernen. Aus erster Hand. Oder aus zweiter Hand. Oder von jemanden, der mal jemanden kannte, der früher was von jemandem gehört hat.

Wer diese Liste ergänzen möchte — gerne bei uns melden!

Der Ostmann

Näher dran ist keine andere Kategorie, denn der „Ostmann“ stand seit dem Wahlergebnis im Mittelpunkt der Diskussion. Nur in dieser Kategorie wird nicht über ihn geredet, hier redet er selbst. Und man kann feststellen: Offenbar gibt es nicht allzu viele Ostmänner, die bundesweit über sich schreiben.

  • Titel: „Oh, Ostmann!“ 
    • Erschienen in: Die Zeit
    • Zitat: „Ich bin ein ostdeutscher Mann, und eigentlich hatte ich eine Ehrenrettung schreiben wollen.“
  • Titel: „Ich bin der ostdeutsche Mann“ 
    • Erschienen in: Berliner Zeitung
    • Zitat: „Ich schreibe diese Zeilen als Betroffener. Ich bin seit meiner Geburt ein ostdeutscher Mann. Für meine Mutter war das nie leicht, zumal auch mein Bruder trotz aller ärztlichen Bemühungen ein ostdeutscher Mann wurde.“

Bonus: Der Ostmann im Westen

Wenn man als Redaktion keinen Ostmann im Osten zur Hand hat, kann man ja zumindest einen Ostmann nehmen, der im Westen lebt. Seit über 10 Jahren.

  • Titel: „AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl 2017: Hannes (30) aus Thüringen vergleicht das Revier mit seiner Heimat“ 
    • Erschienen in: Der Westen
    • Zitat: „Hannes Bieler (30) kommt aus Roßleben in Thüringen. Wie nahezu alle seiner Klassenkameraden kehrte er seiner Heimat nach Abi und Zivildienst den Rücken. Ihn zog es vor elf Jahren in den Westen.“

Die Ostfrau

Immerhin kommt auch sie aus dem Osten und kennt sowohl Land als auch Leute/Männer aus eigener Anschauung. Das ist pures Betroffenheitsgold! Kein Wunder, dass es davon mehrere Texte gibt.

  • Titel: „Die späte Rache der Ossis“ 
    • Erschienen in: die tageszeitung (taz)
    • Zitat: „Was ist los mit dem Land, in dem ich geboren worden bin und eine glückliche Kindheit hatte? In dem ich studiert habe und das ich – ich kann nicht anders – nach wie vor meine Heimat nenne.“
  • Titel: „Wir Ossis sind nicht alle Neonazis!“ 
    • Erschienen in: Der Tagesspiegel
    • Zitat: „Bei all dem Ostbashing gestehe ich hier: Ich bin Ossi. Bin ich jetzt auch Neonazi? Zumindest Neonazi-Versteherin?“
  • Titel: „Kaum läuft was schief, sind die dumm-naiven Ossis schuld“ 
    • Erschienen in: Nordkurier
    • Zitat: „Die Wahrheit wollen sie uns erzählen, über uns Ostdeutsche, deren Männer zu mehr als einem Viertel AfD gewählt haben.“
  • Titel: „Werden die Ossis zu nett behandelt?“ 
    • Erschienen in: Die Zeit
    • Zitat: „Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, ich lebe hier. Ich treffe täglich irgendwen, der AfD gewählt hat. Diesen Leuten geht es nicht mehrheitlich schlecht. Ihre Wahl war kein Akt der Verzweiflung, sondern einer der gefühlten Emanzipation. Und: eine politische Entscheidung.“

Bonus: Die Ostfrau im Westen

Da gab es doch diese Frau aus dem Osten in der Redaktion? Die immer wieder Wert darauf legt, dass sie ja gar nicht mehr Osten lebt? Die soll mal was schreiben! Wir haben ja sonst keinen für das Thema.

  • Titel: „Immer auf den Osten“ 
    • Erschienen in: Die Welt
    • Zitat: „Ich bin zwar kein Mann, aber ich bin auch aus dem Osten. Man sieht es mir nur nicht an, denn ich lebe nicht mehr im Osten, sondern schon sehr lange im Westen. Ich wohne schon länger im Westen, als ich im Osten gewohnt habe, länger als die DDR untergegangen ist. Ich wohne in einem Stadtteil von Berlin, der so westlich ist, wie kaum ein anderer, und soweit ich es überblicken kann, bin hier weit und breit die Einzige aus dem Osten. Ich arbeite auch im Westen, nicht nur geografisch, sondern auch politisch, nämlich bei einem Zeitungsverlag, der den Osten, als es ihn noch gab, bekämpft hat, so lange, bis er untergegangen war.“
  • Titel: „AfD im Osten: Ich verstehe das Ergebnis in meiner Heimat nicht“ 
    • Erschienen in: „Neue Westfälische“
    • Zitat: „Ich lebe bereits seit 2003 in Nordrhein-Westfalen. Als ich hierher zog war ich 19, aufgewachsen bin ich aber in Cottbus. Das ist meine Heimatstadt, so sehe ich sie auch heute noch.“

Der Westbesuch

Sehen wir der Wahrheit ins Auge — viele Redaktionen in Deutschland kennen gar keine echten Ost-Menschen. Seitdem es keine West-Pakete mehr gibt, ist schließlich der letzte Kontakt abgerissen. Und eigentlich muss man auch nicht viel über sie wissen: Was Politik und Klamotten angeht, werden sie ewig hinterherhinken und ansonsten sind sie zu langweilig und egal, um etwas über sie wissen zu müssen. Aber um etwas Empathie zu simulieren, da gibt es ja zum Glück noch die älteren Kollegen. Die sollen einfach mal von früher reden.

  • Titel: „Die Unsolidarischen — über den Erfolg der AfD bei ostdeutschen Männern“ 
    • Erschienen in: Stern
    • Zitat: „Ich habe die DDR von den 60er-Jahren, als ich noch ein kleines Kind war, bis zu ihrem Ende nahezu jedes Jahr mindestens einmal besucht.“
  • Titel: „Vom letzten Tag der DDR“ 
    • Erschienen in: Süddeutsche
    • Zitat: „Ich saß also am letzten Arbeitstag der DDR-Justiz im Amtszimmer des Gerichtsdirektors an der Littenstraße. Und ein paar Szenen, die Stimmung dieses Tages dort, möchte ich Ihnen heute schildern, weil am Dienstag der Tag der Deutschen Einheit gefeiert wird — genau 27 Jahre ist das alles nun her.“
  • Titel: „DDR-Korrespondent liest auf dem Campus“ 
    • Erschienen in: Rheinische Post
    • Zitat: „Kaum ein Journalist hat das letzte Jahrzehnt der DDR so nah erlebt, wie der aus Heiligenhaus stammende Peter Wensierski. Als jüngster westlicher Reisekorrespondent schrieb er ab 1979 Berichte und Reportagen über das Leben hinter dem „eisernen Vorhang“ und hatte Einblicke in Lebenswelten und Gedanken der Menschen dort.“

Auslandsbesuch

Wir Deutschen, wir haben uns ja immer so schwer mit unserer geteilten Vergangenheit. Warum nicht mal einen britischen Historiker zu Wort kommen lassen? Der ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Ausländer. Dem stellen wir dann auch mal die Fragen, die wir uns in Deutschland auch stellen. Aber nicht wagen zu sagen. Jetzt aber!

  • Titel: „Ostdeutschland war von Anfang an ein Fehler, sagt dieser Historiker“ 
    • Erschienen bei: Vice
    • VICE: Machen die Ostdeutschen uns alles kaputt?
    • VICE: Glauben Sie, dass der Osten gefährlich für Deutschland ist?

Die taz muss in Marzahn müssen: Irgendwie schön

Die taz wirft einen Blick auf den Berliner Ortsteil Marzahn. Und gleich eine ganze Serie widmet man dem Bezirk! Aber sie wirft auch die Frage auf, ob die Zeitung wirklich will. Oder doch nicht nur muss.

Die Einleitung mit Perspektiven

Nehmen wir nur die Einleitung. Überschrieben ist sie mit „Der Blick von der anderen Seite“. Welcher Blick? Welche andere Seite? Der Text beschreibt den Aufstieg auf den „Skywalk“, einer Aussichtsplattform im 21. Stockwerk eines Hochhauses. Und was sehen die Menschen von hier oben? Dem Text fällt als erstes ein: „den Westteil der Stadt“. Denn man sehe Berlin von hier „mal aus einer anderen Perspektive. Von oben, von Marzahn aus.“

Es ist also eine Frage der Perspektive und die taz möchte gerne mal eine andere einnehmen. Der Blick von der Plattform ist also mehr als metaphorisch, geradezu selbstrefentiell. Man merkt: Die Redaktion kennt bislang nur Stereotype über den Bezirk, die so vielfältig wie Plattenbauten sind. Und findet am Ende doch: „Ja, irgendwie schön hier in Marzahn.“ Aber „irgendwie schön“ ist es fast überall, besonders 70 Meter weit oben. Deutlicher kann die taz nicht formulieren, dass sie keine Ahnung von ihrem Thema hat. Aber trotzdem eine Meinung dazu.

Doch das will die taz ändern und findet sogar noch eine Rentnerin als Stichwortgeberin:

Die Dame ist fast 80 Jahre als und aus Gropiusstadt angereist, „weil ich den Ausblick mal von der anderen Seite genießen wollte“.

Das ehemals linke Blatt ist also zu einem Reiseführer geworden für die Westberliner Generation 65 plus, die in ihrem Ruhestand endlich Zeit und Mut hat, den Ostblock der eigenen Stadt zu erkunden. Irgendwie schön.

Der Hausbesuch im Konjunktiv

Doch die taz schaut nicht nur von oben herab, sie geht auch hin zu den Menschen. Für den Artikel „Die Freiheit im siebten Stock“ besucht sie deshalb ein Paar, das seit 1979 dort lebt. Darin steht dieser Satz:

Anders als die Bewohner sozialen Wohnungsbaus im Westen, die sich oft eher abgeschoben fühlten, heißt es von den Erstbeziehern in Marzahn, sie hätten hier alles mitgestaltet. Sie hätten immer gern hier gewohnt.

Hier wird nicht nur inhaltlich Ost und West getrennt, sondern vor allem sprachlich. Mit den Bewohnern im Westen wird eine emotionale Bindung konstruiert: Sie hätten sich abgeschoben gefühlt. Bei den Menschen im Osten hingegen: „heißt es“ und „sie hätten“ — und das sogar zweimal. Das ist der maximale Konjunktiv. Mehr Abstand kann ein Text gar nicht ausdrücken.

Notiz am Rande: Susanne Messmer, die Autorin des Artikels, stammt aus Marburg und schreibt ansonsten über China. Liegt ja fast so weit im Osten wie Marzahn.

Das Interview mit Nachfragen

Die taz hat natürlich auch ein Expertinnen-Interview geführt, in diesem Fall ist Christine Hannemann die Gesprächspartnerin. Sie stammt aus Ostberlin, was bei solch einem Interview nicht oft passiert (hier unsere bisherigen Beispiele). Wie gut, dass die taz immer noch ihre Stereotypen hat (siehe oben). Denn nur so kann sie am Ende des Gesprächs diese Fragen einstreuen:

Was würden Sie einer syrischen Familie sagen, die aus einer Flüchtlingsunterkunft ausziehen muss und sich in Berlin bestenfalls eine Wohnung in Marzahn leisten kann?

Und was einer Mittelschichtsfamilie aus der Innenstadt, die aus ökonomischen Gründen dort hinziehen muss?

Müssen. Nicht leisten können. Ökonomische Gründe. Das sind also die Gründe, die für die taz für ein Leben in Marzahn sprechen, das auch ein Sinnbild des Ostens für die Zeitung ist. Irgendwie Platte. Irgendwie schön. Aber vor allem: Irgendwie unbekannt. Und irgendwie was zum Jubiläum machen müssen.

Das DDR-Sport-Kausalitätsparadoxon

Das DDR-Sport-Kausalitätsparadoxon geht so:

  1. Die DDR wollte international anerkannt sein. Mittel zum Zweck: In möglichst vielen internationalen Sportverbänden aufgenommen werden und möglichst viele Medaillen gewinnen.
  2. Wie bekommt man möglichst viele Medaillen? Mittel zum Zweck: Harte Selektion, hartes Training und Doping!
  3. Auch die BRD möchte möglichst viele Medaillen. Mittel zum Zweck bei den Olympischen Spielen 1992: Ein Großteil der deutschen Olympiamannschaft stammt aus der DDR und holt 82mal Bronze, Silber und Gold.
  4. 2016 holte Deutschland 44 Medaillen, das muss mehr werden! Aktuelles Mittel zum Zweck: Das Innenministerium möchte die Spitzensportförderung neu ordnen. Der Fokus liegt auf medaillenträchtigen Sportler_innen und Sportarten.
  5. Die Pläne stoßen auf Kritik. Mittel zum Zweck in den Medien: Eine DDR-Turnerin erinnert sich beim Deutschlandfunk an ihre verlorene Kindheit, der Sender erinnert auch des „besonders im Sport inhumanen DDR-Regimes“ und die taz kombiniert Textpassagen aus dem Sportbeschluss der DDR 1969 mit aktuellen Ansätzen. Welche Absätze woher stammen, verrät sie aber nicht.
  6. Das Paradoxon ist komplett: Wir wollen die Sporterfolge der DDR ohne die DDR. Medaillen um jeden Preis (Gauck: „Ich möchte nicht Präsident eines Landes sein, das Medaillen um jeden Preis will“).
  7. Medaillenspiegel sind fragwürdig? Ach was.

Neuland fürs tazland: Die tageszeitung entdeckt den Osten!

Preisfrage: Was ist das aktuellste Neuland?

  1. Der Merkelativ für „Internet“
  2. Ein Bio-Siegel, das die Gefühle der taz-LeserInnenschaft gerade aufwühlt.
  3. Die Erkenntnis der taz, dass die Mauer nicht mehr steht.

Antwort: 2. Das Bio-Siegel lügt uns an! Buh!

Oh, und auch 3., denn die tageszeitung (in Kleinbuchstaben) startet jetzt einen ganz neuen Scheiß: taz.neuland (in Kleinbuchstaben und mit Punkt). Sprich: Die taz entdeckt den Osten! 2016! Famos. Dazu heißt es im hauseigenen Blog:

Die taz ist ein Kind der westdeutschen Alternativkultur und fremdelt bisweilen immer noch mit der Gesellschaft, die keine Erfahrungen mit dieser Gegenkultur gemacht hat.

Mediale Selbstkritik, wer hätte das gedacht? Doch halt — die taz zeigt auch hier ihren plumpen Westdeutschismus: Sie nimmt — neckisch kreativ — einen Trabi als Illustration und zieht die „Zone“ den „neuen Bundesländern“ vor. Es besteht also weiterhin der Nachholbedarf, den wir hier schon mehrfach attestiert haben.

Nun gut — mit der Projektbeschreibung mag die Redaktion ja bewusst anecken wollen. Doch wie sieht es mit dem Projekt selbst aus? Die Sonderseite soll mittwochs und freitags erscheinen und zwar ausschließlich in der Zone im Osten. Der westdeutschen Neuland-Gegenkultur ist die ostdeutsche Neuland-Unbekanntkultur wohl nicht zuzumuten. Was soll’s — die Zeit macht das seit 2009 genauso. Die taz also voll im Trend.

Schließen wir aber mit den lyrischen Worten der taz, die ihre Haltung zu dem ihr unbekannten Deutschland wunderbar entlarvend auf den Punkt bringt. Der Osten ist nämlich kein Ort von Nachrichten. Nein:

Es darf gespielt werden. Der Osten ist die Spielwiese.

Na dann: Willkommen in der Gegenkultur!

Erwartbare Meldungen zur Lebenserwartung

Erwartbare Meldungen zur Lebenserwartung

Wir meckern ja viel zu oft und freuen uns zu wenig. Gerade an diesen sommerlichen Tagen. Also mal eine schöne Meldung:

Die Wiedervereinigung hat dazu geführt, dass die Menschen in den neuen Bundesländern heute länger leben als zu Mauerzeiten.

Das schreibt die Pharmazeutische Zeitung am 23.7. unter Berufung auf die Studie „So geht Einheit“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Veröffentlichung hatte für einigen Wirbel gesorgt ob der unschönen Unterschiede zwischen West und Ost, die darin stehen – aber bei der Lebenserwartung kann man sich freuen: Endlich etwas, wovon der Osten mal wirklich profitiert hat!

Quelle: So geht Einheit, 2015, S.48.

Quelle: So geht Einheit, 2015, S.48.

Gut, man könnte ein wenig nörgeln und darauf verweisen, dass die Lebenserwartung von Männern aus dem Osten just zur Wendezeit einen klaren Knick erlebt hat und erst 1994 den Stand von vor der Wende wieder erreicht hat. Und dass die DDR-Lebenserwartungen bis 1976 meist näher an den West-Vergleichsgruppen lag als heute oder im Fall der DDR-Männer sogar darüber: Das passt so gar nicht zum Bild des durchstartenden Westens nach Kriegsende. Erläutert werden beide Fälle in der Studie nicht.

Auf eine Sache verweisen Zeitung und Studie auch nur im Nebensatz:

Heutzutage hinge die Lebenserwartung nicht mehr vom Geburtsort, sondern von sozio-ökonomischen Faktoren wie Arbeits- und Einkommensverhältnissen oder dem Bildungsstand ab.

Aber: Wir wollen ja nicht jammern! Schauen wir lieber auf diese schöne Meldung aus dem Jahr 2014:

Länger leben im Osten dank Mauerfall

2014? Ja, am 10.9.2014 titelte das Neue Deutschland so unter Berufung auf eine Studie des Rostocker Max-Planck-Instituts. Dort sagte man begeistert:

„Der Zugewinn an Lebenszeit ist damit eine der größten, wenn auch oft übersehenen Errungenschaften der deutschen Einheit.“

Ach wie schön. Aber wir haben auch noch eine weitere Studie aus dem Jahr 2013:

Ostdeutsche leben länger — dank der deutschen Einheit

Ja, der Tagesspiegel meldete am 9.7.2013 eine Studie der Universität Rostock, die zu diesem Schluss gekommen war. Aber damit nicht genug: 2011 konnte der Wirtschaftsdienst die Angleichung der Lebenserwartung vermelden und 2009 der Focus, immer mit Verweis auf aktuelle Zahlen des Max-Planck-Instituts. Welch schöne Meldungen! Wie verlässlich! Wie wissenschaftlich bahnbrechend!

Man kann es natürlich auch so böse formulieren, wie es die taz 2011 getan hat:

Die Lebenserwartung von Geringverdienern ist entgegen aller Trends in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken. […] Das Phänomen betrifft ausschließlich Männer und den Osten härter als den Westen.

Also, das klingt ja gar nicht schön. Aber doch bitte nicht zur Sommerzeit — war doch klar, warum das in der Einheitsstudie so verklausuliert war. Und wehe, jemand kommt damit vor den tollen Einheitsfeierlichkeiten daher!

Presseschau: 9. November 2014

Der 9. November 2014 geht zu Ende — wie wurden die Tageszeitungen zu diesem Termin gestaltet? Hier ein Überblick darüber, wie ein paar ausgewählte Blätter in ihren regulären Samstagsausgaben vom 8. November 2014 mit dem Jahrestag umgegangen sind.

Berliner Zeitung

Titel

Ein großformartiges Foto, mehr nicht. Ein passender Auftakt: Das Thema 25 Jahre Mauerfall hat die Ausgabe auf 72 Seiten völlig in Beschlag genommen – aktuelle Meldungen haben nur auf 8 Seiten Platz gefunden.

Die beste Idee

Eine Zeitleiste von Januar 1989 bis heute, Beiträge von Prominenten und Entscheidungsträger_innen, Ost und West in vielen statistischen Vergleichen, Artikel zu verschiedenen Aspekten: Das Gesamtkonzept dieser Ausgabe ist beeindruckend.

Die doofste Idee

Wer Beiträge von Prominenten und Entscheidungsträger_innen schreiben lässt, kommt zwangsläufig zu einem starken Westblick. Und zu vielen „Ich habe vom Mauerfall gehört“-Sätzen, die nicht so recht in diese Ausgabe passen.

Die beste Erkenntnis

„Die gesamtdeutsche Sportgeschichte seit der Wende ist mehr als die Zusammenführung zweier Dopingsysteme.“

Der doofste Erkenntnis

„Die Deutsche Einheit […] habe ich in Hamburg erlebt […]. Wir waren am Abend mit Freunden zusammen, als wir einen Anruf bekamen: ‚Macht doch mal den Fernseher an, die Mauer ist auf.‘“ Hartmut Mehdorn kann leider nicht den 9. November und 3. Oktober auseinander halten.

Die Welt

Titel

Ein Paar umarmt sich am Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Überschrift: „Das Lachen einer Novembernacht“. Die Lyrikabteilung der Welt schlägt zu.

Die beste Idee

Wie ist es eigentlich zur Meldung gekommen, die Schabowski in der Pressekonferenz präsentiert hat? Eine umfangreiche Infografik zeichnet den Weg von 9 Uhr morgens bis 20 Uhr abends nach. Einziger Kritikpunkt: Gezeichnet sieht Egon Krenz aus wie Prinz Charles.

Die doofste Idee

Eine halbe Seite zu Biermanns Frotzeln gegen die Linkspartei ist zu viel Aufmerksamkeit für eine vorhersagbare Episode.

Die beste Erkenntnis

Ostdeutsche steigen eher durch eigene Anstrengungen auf. Einkommen und Status der Eltern im Westen haben einen deutlich größeren Einfluss.

Der doofste Erkenntnis

Am 9. 11. 1989 hat die Bild am Sonntag das „Goldene Lenkrad“ in Berlin verliehen. Auch Friede Springer war dabei, wie das groß abgedruckte Foto dokumentiert. Weltgeschichte!

taz

Titel

Honeckers Wachsfigur, Überschrift: „War da was?“ Die taz kann sich nicht erinnern und kann die Realität nicht von Bildern unterscheiden. Ein Problem, das sich durch die gesamte Ausgabe zieht. So gesehen ein sehr konsequenter Titel.

Die beste Idee

Verschiedene Tagebucheinträge vom 8. und 9. November stehen nebeneinander. Leider haben in den meisten Fällen irgendwelche Westdeutschen nur im Fernsehen davon gehört, was dann im Tagebuch doch nicht so spannend ist. Aber es geht hier ja um die Idee.

Die doofste Idee

Ein zweiseitiges Interview mit Felix Loch, achtfachem Weltmeister im Rennrodeln zum Thema Mauerfall – warum nicht? Vielleicht, weil er damals nicht einmal 4 Monate alt war? Entsprechend absurd sind die Fragen: Haben Sie einmal eine DDR-Fahne gehalten? Wann erfuhren Sie zum ersten Mal von der Mauer? Und ganz oft wird gefragt, was die Eltern gesagt und getan haben. Diese Vorgehensweise wurde bislang ja eher der Spitzelei der DDR vorgeworfen.

Die beste Erkenntnis

Einwanderer und ihre Kinder waren die eigentlichen Wendeverlierer. „So werden Ostdeutsche und Einwanderer auch gegeneinander ausgespielt. Hier der rassistische und autoritätshörige Ostdeutsche, da der integrationsunwillige und aggressive Migrant – diese Stereotype waren und sind für viele Westdeutsche sehr bequem […].“

Der doofste Erkenntnis

„Wohnungen sind knapp und teuer. Wenn es einen Ort gibt, an dem das zusammenwächst, was zuvor 40 Jahre getrennt war, dann hier. […] Reich, arm, Westen, Osten. Wäre Potsdam ein Film, das Drehbuch wäre ziemlich platt.“ Zum Glück machen sie bei der taz nur Zeitung.

Und noch was: „Die DDR ging unter, weil das Essen schlecht war.“ Das ist nicht mal so ironisch gemeint, wie es klingt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Titel

Falls es noch Zweifel gab: „Die Mauer ist offen“. Eine Abbildung zeigt ein Faksimile des FAZ-Titels vom 12. November 1989. Näher kommt man dem Ereignis in Frankfurt offenbar nicht, eine Handvoll Artikel sind in der Ausgabe verstreut.

Die beste Idee

Eine Ausgabe zum Mauerfall ganz ohne Mauererlebnisse und ohne Menschen, die am Abend irgendetwas damit zu tun hatten oder irgendwie davon gehört hatten: Das ist zumindest mutig. Aber dafür gibt es ein großes Foto von Helmut Kohl, wie er eine Rede hält, passend zu einem Artikel darüber, was Helmut Kohl an jenen Tagen so getrieben hat.

Die doofste Idee

In vier (4!) Artikeln wird Biermanns Auftritt im Bundestag behandelt, zwei davon auf der Titelseite. In einem weiteren Text wird sein Wirken in mehreren Absätzen bejubelt. Da wirkt die Welt-Lösung ja geradezu bescheiden.

Die beste Erkenntnis

Günter Schabowski reiste nach 1990 durch ganz Deutschland: „Seine journalistische Ausbildung kam ihm dabei ebenso zugute wie der exotische Reiz eines geläuterten Kommunisten.“

Der doofste Erkenntnis

„Die DDR ist weniger an fehlender Meinungs- und Reisefreiheit gescheitert als am fehlenden ökonomischen Erfolg der staatlichen Kollektive.“

 

Super: Illu mit dem Ossi-Blick

Im April 2011 war es soweit: Mit Robert Schneider wurde ein gebürtiger Ostdeutscher Chefredakteur der Super-Illu. Zuvor stand der Bayer Jochen Wolff 20 Jahre an der Spitze des Blattes, das in Ostdeutschland erfolgreicher ist als viele Zeitschriften aus dem Westen Deutschlands. Und das deshalb auch gerne argwöhnisch belächelt wird, wie etwa dieser taz-Artikel von 2007 zeigt.

Aber es war natürlich seltsam: Ein Bayer schafft es, Geschichten und Bilder zu finden, die in den nicht mehr ganz neuen Bundesländern erfolgreich sind. Was würde nun der aus Leipzig stammende Schneider tun? Zuvor war er stellvertretender Chefredakteur der Bild am Sonntag, also bestens vertraut mit den Tricks des westdeutschen Journalismus. Würde er also das Potenzial des Publikums der Super-Illu nutzen, es vielleicht aus dem Bild des „Jammer-Ossis“ hinaus führen? Hin zu einer Welt, in der sie selbstbewusst wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen?

Nun ja. Nicht ganz, wie diese Episode aus einer Reportage der Berliner Zeitung zeigt:

Die Fotos zu einem Interview mit dem Schauspieler Thomas Kretschmann lässt er komplett auswechseln. Sie sind ihm alle zu männlich. „Komm, nimm das“, sagt er zu [dem Layouter] Grabowski. „Das ist so ein schüchterner Ossi-Blick.“ Grabowski, selbst Ostler, weiß nicht, was das sein soll, ein schüchterner Ossi-Blick, aber wenn der Chef es so will. Er ist ja hier nicht nur der Geschichtenerzähler, er verkauft mit jedem Heft auch ein bisschen ostdeutsche Seele.

Wahrnehmungsproblem im Westen

Rechte Gewalt und der Umgang mit ihr sind ein komplexes Thema. In der medialen Betrachtung wird dies allerdings oft vereinfacht — und als ein vorrangig ostdeutsches Problem dargestellt. (Man nehme nur unsere Beispiele: 1, 2, 3) Dass ein komplexes Thema aber durch eine einseitige Sicht nicht vom Tisch ist, zeigt dieses Beispiel aus der Praxis:

Ich habe Seminare in Bayern gehalten und da wurde deutlich, dass es dort ein massives Problem mit rechter Gewalt gibt. Nur herrscht in Westdeutschland ein Wahrnehmungsproblem. Rechte Taten werden dort nicht flächendeckend dokumentiert und nicht öffentlich diskutiert, weil dafür entsprechende Stellen fehlen, die dies tun. Auch Betroffenen dieser Gewalt fehlen qualifizierte Ansprechpartner. Das ist ein untragbarer Zustand.

Marcus Reinert, Geschäftsführer der Opferperspektive, im Interview mit der taz. Opferperspektive ist ein ehrenamtlicher Verein zur Betreuung von Betroffenen rechter Gewalt

Merke: Was nicht gezählt wird, taucht in keiner Statistik auf. Es ist trotzdem vorhanden.

Danke an Urmila für den Hinweis