Erwartbare Meldungen zur Lebenserwartung

Erwartbare Meldungen zur Lebenserwartung

Wir meckern ja viel zu oft und freuen uns zu wenig. Gerade an diesen sommerlichen Tagen. Also mal eine schöne Meldung:

Die Wiedervereinigung hat dazu geführt, dass die Menschen in den neuen Bundesländern heute länger leben als zu Mauerzeiten.

Das schreibt die Pharmazeutische Zeitung am 23.7. unter Berufung auf die Studie „So geht Einheit“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Veröffentlichung hatte für einigen Wirbel gesorgt ob der unschönen Unterschiede zwischen West und Ost, die darin stehen – aber bei der Lebenserwartung kann man sich freuen: Endlich etwas, wovon der Osten mal wirklich profitiert hat!

Quelle: So geht Einheit, 2015, S.48.

Quelle: So geht Einheit, 2015, S.48.

Gut, man könnte ein wenig nörgeln und darauf verweisen, dass die Lebenserwartung von Männern aus dem Osten just zur Wendezeit einen klaren Knick erlebt hat und erst 1994 den Stand von vor der Wende wieder erreicht hat. Und dass die DDR-Lebenserwartungen bis 1976 meist näher an den West-Vergleichsgruppen lag als heute oder im Fall der DDR-Männer sogar darüber: Das passt so gar nicht zum Bild des durchstartenden Westens nach Kriegsende. Erläutert werden beide Fälle in der Studie nicht.

Auf eine Sache verweisen Zeitung und Studie auch nur im Nebensatz:

Heutzutage hinge die Lebenserwartung nicht mehr vom Geburtsort, sondern von sozio-ökonomischen Faktoren wie Arbeits- und Einkommensverhältnissen oder dem Bildungsstand ab.

Aber: Wir wollen ja nicht jammern! Schauen wir lieber auf diese schöne Meldung aus dem Jahr 2014:

Länger leben im Osten dank Mauerfall

2014? Ja, am 10.9.2014 titelte das Neue Deutschland so unter Berufung auf eine Studie des Rostocker Max-Planck-Instituts. Dort sagte man begeistert:

„Der Zugewinn an Lebenszeit ist damit eine der größten, wenn auch oft übersehenen Errungenschaften der deutschen Einheit.“

Ach wie schön. Aber wir haben auch noch eine weitere Studie aus dem Jahr 2013:

Ostdeutsche leben länger — dank der deutschen Einheit

Ja, der Tagesspiegel meldete am 9.7.2013 eine Studie der Universität Rostock, die zu diesem Schluss gekommen war. Aber damit nicht genug: 2011 konnte der Wirtschaftsdienst die Angleichung der Lebenserwartung vermelden und 2009 der Focus, immer mit Verweis auf aktuelle Zahlen des Max-Planck-Instituts. Welch schöne Meldungen! Wie verlässlich! Wie wissenschaftlich bahnbrechend!

Man kann es natürlich auch so böse formulieren, wie es die taz 2011 getan hat:

Die Lebenserwartung von Geringverdienern ist entgegen aller Trends in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken. […] Das Phänomen betrifft ausschließlich Männer und den Osten härter als den Westen.

Also, das klingt ja gar nicht schön. Aber doch bitte nicht zur Sommerzeit — war doch klar, warum das in der Einheitsstudie so verklausuliert war. Und wehe, jemand kommt damit vor den tollen Einheitsfeierlichkeiten daher!

Denunziert euch mal nicht so

Nach 25 Jahren beständiger Aufdeckung von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Staatssicherheit ist es soweit: Alle gefunden, Mission beendet. Aber weil es so ganz ohne DDR-Denunzianten-Grusel ja langweilig wäre, startet der Spiegel die nächste Stufe: Auch Westdeutsche haben in der DDR angeschwärzt.

Wessis der DDR zugeliefert? Nein! Doch! Oh! Aber damit wir nicht in der Schreckstarre eines Louis de Funès verharren, gibt uns der Spiegel gleich die Begründung: Die Westdeutschen schwärzten Menschen aus der DDR an,

damit diese nicht rüber kommen, weil die „uns“ sonst „die Arbeit wegnehmen.“

Starkes Stück. Damit man aber nicht allzu sehr ins Grübeln kommt (Wo gibt es da Parallelen?), macht der Spiegel gleich weiter: Nicht nur die IM haben gespitzelt, nicht nur die Westdeutschen haben angeschwärzt, nein:

Anschwärzen im Alltag war für viele eine Selbstverständlichkeit — ganz ohne Zutun der Stasi

Noch stärkeres Stück. Damit man da richtig ins Grübeln kommt, liefert der Spiegel gleich noch ein Interview mit der Historikerin Hedwig Richter mit. Sie sagt etwa:

Die DDR-CDU hat dabei eine ganz negative Rolle gespielt, über die kaum ein Mensch redet.

Deshalb belässt es der Spiegel auch damit. Statt einer Auseinandersetzung mit dem Wahlgewinner ’90 („Allianz für Deutschland“) geht es also um das Fußvolk. Denn das war — man staune — eigentlich noch schlimmer als die Stasi-IMs. Historikerin Richter:

wer zur Stasi ging, der wusste ganz genau, dass er hier was Zweifelhaftes macht. [Aber] dieses Berichtswesen war ein niedrigschwelliges Angebot zur Denunziation ohne dass die, die denunzierten, sich wirklich schlecht fühlen mussten.

Denunzieren ohne schlechtes Gewissen! Was werden sich all die armen IM jetzt ärgern, dass sie sich damals immer in den Schlaf weinen mussten — hätten sie doch nur niedrigschwelliger gearbeitet. Stattdessen mussten die einen bewusst etwas Zweifelhaftes tun und die anderen: auch. Aber unbewusst. Also alle fiese Denunzianten in der DDR?

Natürlich ist die ostdeutsche Bevölkerung nicht prinzipiell irgendwie denunziationsfreudiger als die in einem anderen Land. Aber, wie so oft, hat diese Diktatur das Niedrige befördert. […] In einer freien Gesellschaft kann Denunziation gar nicht diese Rolle spielen, weil es dem Staat egal ist, was X über Y sagt.

Da hat der Spiegel die eigentlich spannende Entdeckung — Westdeutsche, die in der DDR denunzieren — schon längst vergessen. Stattdessen prangert das Interview die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der DDR-Bewohner_innen an. Und man freut sich: Endlich reden wir nach 25 Jahren über dieses Thema.

Und vielleicht reden wir dann in 25 Jahren auch über die denunzierenden Westdeutschen. Mal schauen, ob wir dann soweit sind.

„nichts gegen Aussiedler, aber …“

Das mag jetzt vielleicht überraschen, aber: Angst vor Flüchtlingen ist nicht unbedingt eine ostdeutsche Erfindung. Das ARD-Politikmagazin „Kontraste“ hat dazu einen Fernsehausschnitt aus dem Jahr 1989 gefunden. Eine gute deutsche Tradition also.

Wobei man ergänzen sollte, dass die interviewte Frau höchstwahrscheinlich Westfernsehen gesehen hat.

DDR-Führung und Westen: Gemeinsame Sache bei Kunst-Enteignungen

Ach ja, der Unrechtsstaat DDR: 25 Millionen Mark Devisen pro Jahr hatte er dadurch erlangt, dass er in den 70er und 80er Jahren Kunst und Antiquitäten privater Sammler und Museen veräußerte. Das war nicht rechtens, auch nicht nach DDR-Recht.

Was wissen wir heute darüber? Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schreibt dazu:

Die zuständigen Behörden auf Bundes- und Landesebene verfügen, wie eine Telefon-Umfrage ergeben hat, nur über bruchstückhafte Informationen. […] Während in Forschung und Öffentlichkeit der Raubkunst aus der Zeit des Dritten Reichs die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird, drohen die Schicksale der Kunstsammler aus der DDR in Vergessenheit zu geraten.

Zu dumm. Denn das Problem ist nicht etwa, dass die ursprünglichen Eigentümer_innen keinen Anspruch auf Wiedergutmachung hätten — denn den haben sie u.a. über das sogenannte Vermögensgesetz. Das Problem ist, dass die Kunstwerke nicht auffindbar sind. Doch wo sind sie geblieben? Die NZZ weiß: Ohne Käufer kein Verkauf. Und die saßen in der Bundesrepublik, in den Niederlanden, England und der Schweiz:

Heerscharen von kunstaffinen Schnäppchenjägern pilgerten in den siebziger und achtziger Jahren nach Ostdeutschland. Auch nachdem die verwerflichen Praktiken öffentlich bekanntgeworden waren, haben sich die Abnehmer, darunter renommierte Auktionshäuser, weiter mit der von der Stasi kontrollierten Kunst und Antiquitäten GmbH eingelassen.

Nachdem sich nun die Enteigneten seit Jahren um Rückgabe oder Entschädigung bemühen, kommt ein Gesetzesvorhaben der Bundesländer zur Novellierung des Zivilrechts ins Rollen, denn wie Isabel Pfeiffer-Poensgen, Generalsekretärin der Kulturstiftung, gegenüber der NZZ meint:

„Das Thema wurde lange ignoriert. 25 Jahre nach dem Mauerfall ist es an der Zeit, auch dieses Kapitel aufzuarbeiten. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.“

Wohl wahr. Allerdings lassen die bundesdeutschen Medien das Thema weiterhin im Dunkeln, erwähnt wurde es nur in einer knappen dpa-Meldung. Denn wir sollen ja bald Wiedervereinigung feiern und den Unrechtsstaat DDR schlecht finden. Da passt ein Westen nicht ins Bild, der Kunstwerke aus der DDR widerrechtlich aufkaufte und bis heute der Wiedergutmachung widerrechtlich aus dem Weg geht.

2 Dinge, mit denen Buzzfeed zur Ost-West-Debatte in Deutschland beiträgt 2

Welches Medienangebot macht derzeit den wohl innovativsten Schritt in der Wahrnehmung von unterschiedlichen Ost- und West-Erinnerungen? Der Tagesspiegel? Oder TV Total?

Nein: Es ist Buzzfeed. Das aus den USA stammende Medienportal hat vor allem das Ziel, Klicks zu generieren: seine Inhalte sind für Soziale Netzwerke optimiert, sollen also vor allem emotional ansprechen. Am 15. Oktober ist es auch in Deutschland an den Start gegangen — und startete mit Kindheitserinnerungen an die 1980er Jahren. Das wäre nichts besonderes, kulturelle Rückblicke sind schließlich ein beliebtes Thema im Netz. Ungewöhnlich ist aber: Es wurde eindeutig benannt, dass es sich um die Erinnerungen an eine West-Kindheit handelt. Es werden zwar oft westdeutsche Erinnerungen heraufbeschworen, sie werden aber als fiktiv-gesamtdeutsche Erinnerung unausgesprochen verallgemeinert.

Prompt rief dieses Thema Kritik hervor: Buzzfeed ziehe im 25. Jahr des Mauerfalls einen Graben, meint medienrauschen. Doch das stimmt nicht: Am selben Tag gab es einen Artikel mit der für das Portal typischen Überschrift: „25 Dinge, die Dich an Deine Kindheit in den 80ern im Osten erinnern“. Diese Liste enthält durchaus passende Erfahrungen, die bislang in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur ausgeblendet wurden.

Am erstaunlichsten aber: Die Benennung des Westdeutschen und die Sichtbarmachung des Ostdeutschen hätte man wohl am wenigsten in einem Klickportal erwartet. Und dass ausgerechnet ALF („Außerirdische Lebensform“) auf beiden Listen steht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Kurios: Die DDR im Internet

Wir beschäftigen uns hier ja damit, wie der Osten in all seinen Projektionen in den Medien dargestellt wird. Dabei haben wir in der Regel die „klassischen“ Medien im Blick. Doch wie sieht es in diesem krassen neuen Teil, diesem Internet aus? Die Historikerin Irmgard Zündorf hat sich in einem Seminar angeschaut, wie die DDR im Internet dargestellt wird. Ihre Erkenntnis: Es überwiegt deutlich eine kritische Auseinandersetzung. Die Erklärung ist einfach, wie sie im Interview mit der Thüringischen Landeszeitung erläutert:

Eine gute Geschichtsdarstellung kostet Geld. Und für eine ostalgische Seite, die gut gemacht ist, kriegt man keine öffentlichen Gelder. […] Wir haben auch Seiten gefunden von ehemaligen Grenzern oder ein MfS-Forum. Die waren so schlecht gemacht, dass die Studierenden meinten: Das ist zwar ein kurioses Bild der DDR, aber zu den Seiten würde man sich als junger Mensch sowieso nicht verirren.

Ein durchaus überraschender Befund also: Gerade im pluralistisch angelegten Internet werden so die Sicht- und Erzählweisen viel eingeschränkter als es möglich wäre. Gerade in Hinblick auf einen Staat, von dem man sich mit der viel beschworenen Meinungsfreiheit abheben wollte und will, ist dies recht bedenklich. Dass dies auch nicht im Sinne einer kritischen und umfangreichen Geschichtsdarstellung sein kann, zeigt das Resümee der Wissenschaftlerin und ihren Studierenden:

Was den Studierenden wiederum negativ aufgefallen ist: Die DDR wird dort sehr häufig im Spiegel der Bundesrepublik dargestellt. Die Bundesrepublik ist das Positivbeispiel, und die DDR ist das Negativbeispiel. Ihnen war das zu sehr schwarz-weiß. Immer ist die DDR offensichtlich ein Staat, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, wo die Regierung völlig desolat war, die Stasi alles beherrschte und der überwiegende Teil der Bevölkerung in der Opposition war. Gerade der letzte Punkt hat uns irritiert. Wieso konnte dieser Staat überhaupt 40 Jahre lang bestehen, wenn keiner ihn haben wollte und alle dagegen waren? Diese Unklarheit führt dazu, dass für junge Leute, die keinen direkten Bezug zur DDR haben, dieser Staat eine kuriose Geschichte bleibt.

Einseitiges Einheits-Interesse

Der 25. Jahrestag des Mauerfalls rückt näher — und schon seit Monaten sind Geschichten dazu in den Medien zu finden. Auch der Soli kommt immer wieder in die Diskussion. Auch weil in der Westrepublik gerne geglaubt wird, dass allein sie dafür aufkomme. Da sollte man meinen, dass die Vorstellung des Jahresberichts zur deutschen Einheit auf großes Interesse stößt. Das tat sie auch — aber nur teilweise, wie Markus Decker (Berliner Zeitung) bemerkt:

Bei der gestrigen Pressekonferenz [24.09.2014] zur Vorstellung des Jahresberichts waren Journalisten ostdeutscher Medien und Auslandskorrespondenten übrigens fast unter sich. Auch das sagt über die Einheit ziemlich viel aus.

Hello, Lenin?

In Berlin wird derzeit um einen Kopf gestritten, um Lenins Kopf.

Aber der Reihe nach: 1970 wurde das Lenindenkmal im Osten Berlins aufgestellt. 1991 wurde es dann in 129 Segmente zerteilt und in einem Waldstück vergraben. Vor fünf Jahren schließlich wurde der Kopf für eine große Dauerausstellung über politische Denkmäler in Berlin eingeplant: „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ wird 2015 eröffnet. Lenins Kopf soll dort die Zeit von 1945 bis 1989 symbolisieren.

Doch nun macht der Berliner Senat einen Rückzieher: Geht nicht, denn das Denkmal geht nur als Ganzes. Und die Restaurierung kostet ja auch. Und überhaupt: Wir wissen gar nicht, wo der Kopf eigentlich liegt.

Unsinn, sagen etwa Alexander Koch, Präsident des Deutschen Historischen Museums und Andreas Nachama, Direktor der Topografie des Terrors. So meint Koch, mit dem Exponat könnte der gesellschaftlich-politischen Bedeutung solcher Denkmäler in der DDR nachgegangen werden. Die aktuelle Diskussion zeigt aber: Die gesellschaftlich-politische Bedeutung im aktuellen System ist mindestens genauso erhellend.

Mauerfall-Einheit: Vereinnehmen ohne übernehmen

Wie funktioniert eigentlich Vereinnahmung von Geschichte? Hier ein aktuelles Beispiel: Die in der DDR geborene Piraten-Politikerin Anke Domscheit-Berg hat der Zeit ein umfangreiches Interview gegeben. Darin sagt sie unter anderem:

Der Mauerfall ist die endlose Energiequelle, die mich immer antreiben wird. […] Ich wollte eine bessere DDR, einen dritten Weg. Aber davon sprach dann niemand mehr, die runden Tische verschwanden, viele wollten nur noch die D‑Mark. […] Als wir auf die Straße gingen, hatten wir eine Vision von einer besseren Welt. […] Wir, die dablieben, wollten den dritten Weg, wir wollten eine bessere Gesellschaft. Das geht ja nicht, wenn man abhaut und alle anderen dalässt. […] Überlegen Sie mal: Wir Ostdeutschen wissen sogar, wie man Geheimdienste abschafft, wir haben das selbst einmal gemacht.

Der dritte Weg, das war ein zentrales Ziel der Dissidenten ab Anfang der 1980er Jahre: Sie wollten eine demokratisch reformierte DDR. Die Idee des Sozialismus fanden sie nicht schlecht — nur dessen Umsetzung. Die Wiedervereinigung hingegen war eine politisch und ökonomisch motivierte Idee der bundesdeutschen Kohl-Regierung. Der Rest ist Geschichte.

Nun aber zur Vereinnahmung. Im Tagesspiegel schreibt Chefredakteur Lorenz Maroldt eine Replik zu diesem Text — er argumentiert aber gar nicht für oder gegen Domscheit-Berg, sondern führt ausgehend von ihrem Interview die Meinungen von SPD-Politiker aus dem Jahr 1989 vor. Das sieht dann so aus:

Die wichtigste Botschaft des Lebens gehe von den Ereignissen damals aus: Nichts, wirklich nichts müsse so bleiben wie es ist, schreibt sie, egal, wie stabil es aussieht. […] Dass irgendwann die Mauer fällt und die Einheit kommt, dass so etwas geht, das haben vor ’89 – und auch noch mittendrin – nur die wenigsten erwartet. Erich Honecker sah sie noch in hundert Jahren stehen, und auch im Westen, hier besonders im linken, grünen, sozialdemokratischen Milieu, war die Sache abgehakt, mindestens das. […] Noch kurz vor dem Mauerfall erklärte [Egon Bahr apodiktisch]: ‚Es gibt keine Chance, die deutschen Staaten zusammenzuführen.‘ […] Doch die Wucht der Ereignisse, die Bahr überrollte, so wie auch Hans-Jochen Vogel (‚illusionäres Wiedervereinigungsgerede‘, September ’89), Oskar Lafontaine (‚historischer Schwachsinn‘, Dezember ’89), Willy Brandt (‚die Hoffnung auf Wiedervereinigung wird gerade zur Lebenslüge‘, September ’89), Gerhard Schröder (‚keine Chance‘, September ’89), wirkt nach, ist nicht vergangen.

Und wir sehen: Plötzlich sind der Mauerfall und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten untrennbar miteinander verbunden. Und es scheint Maroldt nicht zu stören, dass seine Zitatgeberin etwas ganz anderes sagt. Da passt es, dass sein Mauerfall-Einheits-Brei zu einem Naturereignis ohne Akteure wird: „Ereignisse“, „die Sache“. Keine Rede von denen, die auf die Straße gingen und viel riskierten. Keine Rede von Menschen wie Anke Domscheit-Berg. Sie würden wohl nur diese vereinnahmende Sichtweise stören.

zahlen vergleichen 2

mir begegnen gelegentlich statistiken; zahlen von diesem und jenem im vergleich zu zahlen von diesem und anderem. sowas zum beispiel:

Die Zahl der Verkehrstoten ist nach einer aktuellen Prognose des ADAC im Jahr 2013 auf einen historischen Tiefststand gesunken. … Die höchsten Zahlen gab es laut ADAC-Sprecher Andreas Hölzel Anfang der 70er Jahre. «Da hatten wir rund 20 000 Verkehrstote im Jahr.» … Es werde voraussichtlich auch weniger Verletzte geben. Zu erwarten sei ein Rückgang um fast fünf Prozent auf 366 000 verletzte Verkehrsteilnehmer. Dies wäre der niedrigste Stand seit 1954.

oder auch sowas in einem artikel aus dem Jahr 2008:

Die Zahl der Neugeborenentötungen ist in den letzten 30 Jahren etwa gleich geblieben.

na? wem fällt was auf? 

ich würde die journalist_innen, adac-sprechenden und wissenschaftler_innen gerne fragen in welchem land sie leben und und welcher Alten-Neuen-BRD sie ihre verkehrstoten und ‑verletzten und ihre neugeborenentötungen gezählt haben und was sie da eigentlich vergleichen.

wenn die zahl der neugeborenentötungen zwischen 1978 und 2008 in etwa gleich geblieben ist, dann hat sie sich verändert!