Westdeutsche Relevanzkritieren

Malte Lehming ist Leitender Redakteur im Bereich Meinung beim Berliner „Tagesspiegel“. Dort befasst man sich seit den letzten „Enthüllungen“ über Angela Merkel über deutsch-deutsche Befindlichkeiten. Lehmings Artikel „Einwanderer ohne Auswanderung“ fasst all seine Probleme bereits in der Überschrift zusammen. Er beginnt mit einem Witz, der kurz nach der Wiedervereinigung entstanden sein soll und in dem ein „Ossi-Ehepaar“ und ein „Türke“ aufeinander treffen. Lehming erklärt den Witz so:

Aus der Sicht vieler Einwanderer, die in der Bundesrepublik schon seit Jahrzehnten gelebt hatten, waren die Ostdeutschen 1990 eine große Gruppe von Neueinwanderern. Das Ungewöhnliche an diesen Immigranten war nur, dass sie überwiegend gut Deutsch sprachen und ihre Heimathäuser nicht hatten verlassen müssen. Ansonsten benahm sich ein Stralsunder, der zum ersten Mal nach Köln kam, kaum anders als ein Grieche, Pole oder Spanier. Er fremdelte, staunte, fand sich nicht zurecht.

Das ist eine interessante Art, eine westdeutsche Sicht darzustellen: Sie gar nicht zu benennen und auf andere Bevölkerungsgruppen zu projizieren. Tatsächlich gewinnen Ostdeutsche in dieser Erzählform noch an Exotik, wenn sie zusammen mit ebenfalls als exotisch imaginierten Gruppen dargestellt werden. Westdeutsch, das bleibt auf diese Weise eine unsichtbare und doch allgegenwärtige Norm und Bezugsebene. Dass dies nicht ganz einfach ist, erkennt Lehming zumindest an:

Anders sah es für die Westdeutschen aus. Ihr Leben änderte sich so gut wie nicht. […] Dieser Unterschied hatte eine gravierende Folge. Er führte zu einer Asymmetrie in der Relevanz von Biografien und Vergangenheiten.

Doch bleibt es bei dieser Feststellung. Bereits im folgenden Absatz führt Lehming vor, auf welcher Seite dieser Asymmetrie er selbst steht — und was es bedeutet, die Relevanz von Biografien und Vergangenheiten anderer Menschen abzusprechen:

[D]er Gesamtkomplex DDR – von ZV-Ausbildung über Sättigungsbeilage bis NVA – hatte seine Wirkungsmacht vor mehr als zwei Jahrzehnten unwiederbringlich verloren. Man kann ihn seitdem aus historischen, ethnologischen oder exotischen [sic!] Gründen studieren. Doch wirklich notwendig ist das zum Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft nicht.

Damit irrt Lehming nun außerordentlich. Denn es ist ja insbesondere die Wirkungsmacht, die auch nach 1990 fortbesteht — ganz im Gegensatz zur ZV-Ausbildung, Sättigungsbeilage oder NVA, die ja nun nicht mehr real existierten. In ostdeutschen Gruppen wird noch immer auf Erfahrungen in der DDR Bezug genommen, auf die Sprache und die Unterschiede zu heutigen Lebensumständen. Ein Verständnis der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ist also erst dann möglich, wenn man diese Wirkungsmacht ernst nimmt. Zumindest dann, wenn man die „deutsche Gesellschaft“ als gesamtdeutsch begreift und nicht nur auf die ehemalige BRD verweisen möchte. Wenn schon eine homogene Gruppe konstruiert werden muss, dann richtig.

Lehming schreibt auch noch über eine interessante westdeutsche Perspektive:

Ob Euro-Krise oder Pädophilie bei den Grünen, CSU-Vetternwirtschaft oder der Drohnenskandal im Verteidigungsministerium: Fast kein aktuell relevantes Thema hat auch nur am Rande mit der DDR zu tun.

Wie sollte es auch? Immerhin existiert dieses Land seit über 20 Jahren nicht mehr. Ich möchte einmal behaupten, dass es da durchaus folgerichtig ist, dass es kaum ein „aktuell relevantes Thema“ gibt. Wobei es aber durchaus relevant ist, wer etwas zu einem Thema machen kann. Die Jugendjahre einer Kanzlerin erscheinen schon allein aufgrund ihrer politischen Position wichtig und auch wenn westdeutsche Pharmaunternehmen in der DDR forschen ließen, wird es zu einem Thema, denn: In jedem Fall gibt es einen Bezugspunkt aus westdeutscher Sicht — relevant sind ostdeutsche Themen also dann, wenn sie den Westen betreffen. Was andersherum bedeutet: Ohne westdeutschen Bezug haben es ostdeutsche Themen ungleich schwerer, zu einem „Thema“ zu werden. Also gehört zu werden. In den Medien aufzutauchen. Relevant zu sein.

Damit schließt sich der Kreis zum Fazit von Lehming, der ganz ähnlich feststellt:

Das ist vermutlich die nachhaltigste psychologische Folge der deutschen Einheitswerdung. Der Ossi erfährt, dass sich der Wessi kaum stärker für ihn interessiert als für andere Einwanderer. Deren Schicksale aber werden zumindest gelegentlich durch Integrationsgipfel und Islamkonferenzen aufgewertet.

Das ist eine durchaus wichtige Erkenntnis in sehr entlarvenden Worten. Denn Lehming scheint „Einwanderer“ als Gruppen zu verstehen, denen es in erster Linie darum geht, wahrgenommen und geliebt zu werden. Integrationsgipfel sollen aber — so kritisch man ihre politische Konstruktion auch sehen muss — gerade nicht darauf reduziert werden, „Schicksale aufzuwerten“. In ihnen soll es darum gehen, wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft organisiert werden kann, zwischen dominanten Mehrheiten und Minderheiten. Es geht um handfeste gesellschaftliche Probleme.

Und es geht auch nicht darum, dass der Ossi — oder wie Lehming wohl meint: der Jammer-Ossi — erkennt, dass sich der Wessi nicht für ihn interessiert. Es geht auch nicht darum, dass  westdeutsch sozialisierten Menschen die Geschichte, Erfahrungen und Werte ost- und gesamtdeutsch sozialisierter Menschen egal ist.

Es geht darum, dass Menschen mit westdeutscher Biographie trotzdem darüber schreiben und urteilen. Und kraft ihrer Deutungshoheit die Diskussion zu einem Thema bestimmen, von dem sie keine Ahnung haben.

Nichts Wissen im Westen über Merkel

Im Wahlkampf geschehen ja immer die interessantesten Dinge. Was sich nun aber um die Veröffentlichung der Merkel-Biographie „Das erste Leben der Angela M.“ ereignet, lässt sich nur in einem Wort zusammenfassen: Unwissen.

Die westdeutsch sozialisierten Autoren Günther Lachmann und Ralf Georg Reuth haben dabei das Wunder vollbracht, die x‑te Biographie über die Bundeskanzlerin zu einem Thema in den Medien zu machen. Der Kniff: Sie stellen die Jahre Angela Merkels vor dem Mauerfall in den Mittelpunkt — die Mystik der DDR zieht offenbar noch immer.

Dabei offeriert die Lebensgeschichte nichts wirklich Neues, auch wenn die aufgeregten Medienstimmen anderes vermuten lassen. Dahinter steckt eben: Unwissen. Unwissen, dass die Kanzlerin bereits in dem 2004 erschienen Buch „Angela Merkel — Mein Weg. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg“ darauf verwiesen hatte, dass das Thema FDJ Teil ihre Lebens sei:

„Das ist bekannt, da habe ich nichts zu verbergen.“ Sie sei Kulturbeauftragte der FDJ für ihre Gruppe an dem Institut gewesen: „Ich kann mich nicht erinnern, in irgendeiner Weise agitiert zu haben.“ Zugleich hatte sie betont, sie sei keine Widerstandskämpferin oder Bürgerrechtlerin gewesen.
(zitiert nach Märkische Allgemeine Zeitung)

Es zeugt aber auch von Unwissen darüber, wie die DDR funktioniert hat. Was dazu führt, dass der Focus seiner Leser_innenschaft eine Lehrstunde geben muss: „FDJ, FDGB und DSF: Wie die DDR die Massen organisierte“.
Und was dazu führt, dass Werner Schulz, Politiker von Bündnis90/Die Grünen*, Angela Merkel in einem Zeit-Artikel verteidigt. Mitten im Wahlkampf.

Wie gesagt: Es geschehen interessante Dinge — insbesondere, wenn Westdeutschen die DDR erklärt werden muss.

 

* Auf der Seite der Zeit wird Werner Schulz als „Grüner“ bezeichnet. Damit wird der Anteil ostdeutscher Oppositioneller an der Partei marginalisiert, die am 14. Mai 1993 neugegründet wurde: Bündnis 90/Die Grünen.

Danke an Mareen für den Hinweis!

Aktuelle DDR-Vergleiche # 11 — Die Zonen-Bären 1

Im Berliner Stadtbezirk Mitte gibt es einen Bärenzwinger. Dort leben die Braunbärinnen Maxi und Schnute unter nicht ganz so „artgerechten“ Bedingungen, was auch schon länger kritisiert wird. Die taz hat nun erneute Bemühungen die Bärinnen umzusiedeln zum Anlass genommen, einen DDR-Vergleich anzubringen, der irgendwo zwischen lahm und dämlich angesiedelt ist:

Im Artikel Zonen-Bären hoffen auf Reisefreiheit ist zu lesen

„Seit ihrer Geburt in der DDR leben die beiden Bärinnen hinter einer Mauer in einem 480 Quadratmeter großen Zwinger…“

Ich habe ein wenig gerechnet. Seit 1990 gibt es bekanntermaßen die DDR nicht mehr. Die Zonen-Bärin Schnute ist jetzt 31 Jahre alt und lebt seit 23 in der BRD. Sie hat also acht Jahre ihres Lebens in der DDR verbracht. Die Zonen-Bärin Maxi ist 27 Jahre alt und hat damit ganze vier Jahre in der DDR und 23 Jahre in der BRD gelebt. In diesen 23 Jahren BRD hat sich für die beiden nicht viel geändert.

Die Verweise auf die Zone, die DDR, die Mauer und die Reisefreiheit erscheinen mit da sehr angemessen, lustig und geradezu sensationell-originell.
Ich hätte aber trotzdem einen Vorschlag für einen tagesaktuelleren Vergleich: BeBerlin-Bären hoffen auf Abschaffung der Residenzpflicht.

Aktuelle DDR-Vergleiche #10 — Mehmet Scholls Jacke

Jetzt wird es doch ein wenig absurd: Mehmet Scholl soll eine „Erich-Hoenecker-Gedächtnisjacke“ getragen haben. Das hat zumindest das Fußball-Magazin „11Freunde“ beobachtet und deshalb die Pressesprecherin des Berliner DDR-Museums interviewt.

Aber bevor die Enttäuschung groß ist: Die „Erich-Hoenecker-Gedächtnisjacke“ ist einfach nur eine Jacke, wie sie der Staatsratsvorsitzende getragen haben sollen könnte. Sagt „11Freunde“, das Fachmagazin für DDR-Mode.

Roland Berger in the Ost/West Mix 1

Der Unternehmensberater Roland Berger hat der Zeit ein ausführliches Interview gegeben. Zunächst wollte ich mich mit seinen Aussagen auseinandersetzen, habe aber dann aber gemerkt: Eigentlich hat er das selbst schon getan. Er spricht lobend über „wir Westdeutschen“ und kritisch über „einige“ aus dem Westen. Und zugleich weiß er, dass viele Fachkräfte im Westen aus dem Osten gekommen sind, dem nun geholfen werden muss. Von wem? Natürlich von „Wirwestdeutschen“. Und von Zuwandernden, für die die übrig gebliebenen Ostdeutschen (vulgo: „Nazis“) aber erst über mehr Kultur fit gemacht werden müssen. Die ja eigentlich aus dem Osten stammt.

Das klingt wie ein verwirrendes Selbstgespräch? Dann lassen wir doch Roland Berger selbst sprechen mit einer Montage der Aussagen seines Interview:

Der Osten hat für ganz Deutschland gebüßt, 45 Jahre sozialistisches Regime ertragen. Dafür verdient er durchaus ein Extra-Engagement von uns Westdeutschen, vor allem eben auf persönlicher Ebene.

Es gab [nach dem Mauerfall] leider einige, die dem Ruf unserer Branche sehr geschadet haben. Zumeist Ein-Mann- oder Zwei-Mann-Beratungen, die vom Mangel profitieren wollten. Die im Westen seit Jahren aussortiert waren und in den neuen Ländern nun mit Inkompetenz und Arroganz eine Menge Unheil anrichteten.

Eine der größten Leistungen der Westdeutschen besteht darin, Geld geschickt zu haben, um diese wunderbaren Innenstädte [im Osten] wieder aufzubauen. Aber kaum ein Westdeutscher kennt sie.

[E]s gab allerhand Exmanager, die im Westen längst ohne Job waren und vielleicht auch nicht immer zur ersten Klasse gehörten – plötzlich starteten die im Osten durch.

Das heißt, dass etwa 310000 Menschen ihre Arbeit verloren haben! Die arbeiteten zum Teil in VEBs, die vorher die großen Einzelhandelskonzerne im Westen beliefert hatten.

Der Osten braucht Investitionen, um aufzuholen.

1,8 Millionen Menschen sind abgewandert, darunter vor allem die jungen, fleißigen, unternehmerischen. Viele von ihnen tragen heute zum Wachstum in Westdeutschland bei.

[Ein Rat an die Ostdeutschen:] Sie sollten eher mit einem Lächeln zu viel als zu wenig auf ihre Mitbürger aus dem Westen zugehen. Sie sollten einem Besucher das Gefühl geben, dass man gern gesehen ist. Auch mal öfter Danke sagen wäre nicht unbedingt verkehrt.

Nur steht [der Zuwanderung aus dem Ausland] etwas entgegen: das Problem mit dem Rechtsextremismus. Ich werde den Namen Hoyerswerda nicht vergessen. Wer zweimal pro Woche im Fernsehen Neonazis durch ostdeutsche Städte marschieren sieht, möchte da normalerweise nicht hin. Was denkt da erst ein Migrant?

Wer Kultur und Bildung fördert, bekämpft Extremismus.

Der Osten ist Wiege der deutschen Kultur!

Heute tun wir gut daran, Bundeskanzlerin und Bundespräsident zuzuhören, wenn sie von ihrer Herkunft sprechen. Wir Wessis können noch viel lernen von den Ostdeutschen.

P.S.: Ich bin sehr froh, dass Roland Berger nicht die Stasi als Ursache für die wirtschaftliche Schwäche Ostdeutschlands anführt. Das war sie nämlich noch vor kurzem.

Der freie Wille

Gregor Gysi und die Stasi: Ein aktueller Spitzenkandidat, der für ein diktatorisches System gearbeitet haben soll. Welch ein Politikkrimi! Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft Hamburg, denn Gysi könnte bei seiner eidesstattlichen Versicherung gelogen haben. Das Dokument lässt sich bei der Welt nachlesen. Die entsprechende Stelle lautet:

Ich habe zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staatssicherheit berichtet.

Um diese Aussage geht es der Staatsanwaltschaft und darum geht es auch in den Medien: Hat Gregor Gysi als Anwalt dem Ministerium für Staatssicherheit zugearbeitet? Oder konkreter (bei der FAZ): Hat er „wissentlich Kontakt zur Staatssicherheit der DDR gehabt?“

Das Wissen ist aber nicht der entscheidende Teil seiner Aussage. Entscheidend ist der Wille. Denn wenn das aktuelle Verfahren Beweise dafür liefern sollte, dass Gysi der Staatssicherheit zugeliefert hat, dann hätte er wissentlich berichtet. Ob er dies aber auch aus freien Stücken getan hätte: Das ließe sich überzeugend abstreiten. Denn wie hätte man willentlich handeln können in einem Land, das bereits beim gemeinsamen Töpfchengehen mit voller Autorität zum Kollektiv erzog? In einem System, in dem die Stasi allgegenwärtig war? Ein Land, das sich dem Rechtsstaat derart verweigerte, konnte ja gar keinen Platz lassen für einen freien Willen.

Zumindest nicht, wenn man den Großteil der medialen Stimmen über die DDR ernst nimmt. Und warum sollten wir damit aufhören, wenn es um Gregor Gysi und die Stasi geht? Freier Wille in einer Diktatur, ts…

[Unpassenden NS-Vergleich bitte hier einfügen.]

Wenn DDR-Mord, dann Stasi

In der ARD lief am 30. Januar 2013 der Spielfilm „Mord in Eberswalde“ (und ist zur Zeit nach 20 Uhr in der Mediathek zu sehen). Grundlage ist der „Fall Hagedorn“, bei dem 1969 zwei Jungen ermordet wurden. Bereits 1974 wurde dieses Verbrechen für den DDR-„Polizeiruf“ verfilmt, aber erst 2011 ausgestrahlt. 2001 produzierte die ARD eine Dokumentation über die Morde.

Und nun diese neue Verfilmung. Als Rezensent der Berliner Zeitung schreibt Torsten Wahl (leider nicht online verfügbar), dass sich der Film sachlich gebe, aber letztlich Klischees aneinander füge: lebenspraller Ost-Mann trifft verkniffenen Karrieristen, zudem spannt der eine dem anderen die Frau aus. An einer grauen Wand hängt ein FDJ-Emblem. Außerdem schreibt Wahl:

Wer sich noch einmal die ARD-Doku zum „Fall Hagedorn“ ansieht, in der die damals beteiligten Kriminalisten nüchtern ihre lange Zeit vergebliche Arbeit erklären, sieht deutlich, wie sehr die jetzige Verfilmung die damalige Tätersuche unbedingt politisch aufladen und den ignoranten Stasi-Leuten eine Mitschuld an einem weiteren Mord des Täters unterschieben will. Merke: Die Stasi ist halt immer schuld.

Ein DDR-Film ohne Stasi, das ist offenbar undenkbar. Und mir kommt auch die Verknüpfung zwischen dem Triebleben eines Kommissars mit einem Verbrechen bekannt vor: Dies gibt es ebenfalls in der DDR-Fiktion „Plan D“. Zufall?

Dritte Generation Stasi

Das Interesse an den Stasi-Akten bleibt auf einem hohen Niveau — wie die Berliner Zeitung berichtet, wurden 2012 über 88.000 Anträge von Privatpersonen auf Akteneinsicht gestellt. Das sind 10 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Sechs Prozent der Gesamtanträge stammen dabei von Kindern und Geschwistern, die in die Akten ihrer verstorbenen Angehörigen sehen wollten. Markus Decker, Autor der Zeitung, sieht dieses hohe Interesse auch als Indiz für das Engagement der Initiative „Dritte Generation Ost“.

In der heutigen Printausgabe der Berliner Zeitung äußerte sich mit Johannes Staemmler ein Vertreter dieses Netzwerks* zu diesem Thema. Er sieht einen Grund für die Nachfrage nach Akteneinsicht darin, dass die „letzten DDR-Kinder erwachsen genug geworden sind, um bewusst der Frage nachzugehen, wo sie eigentlich herkommen“. Als zentrale Fragen nennt er:

Woher komme ich? Wie haben meine Eltern gelebt? Was haben die unter welchen Umständen entscheiden müssen? […] Was war eigentlich die DDR? Wie hat sie funktioniert? Und wie hat sie auch uns geprägt?

Um diese Fragen zu beantworten, findet Staemmler Gespräche wichtig. Er weiß aber auch: Wer sich dem Widerstand zurechnen könne, habe keine Schwierigkeiten zu erzählen. Die anderen würden dazu neigen, das Gespräch abzubrechen. Sein Tipp:

Gespräche werden einfacher, wenn echtes Interesse an der Frage besteht, wie Menschen gelebt haben.

Keine Frage: Es ist wichtig Fragen zu stellen und den Dialog zwischen den Generationen zu führen. Stasi-Akten in diesen Prozess zu denken, hinterlässt bei mir allerdings einen bitteren Nachgeschmack. Welcher Erkenntnisgewinn soll dahinter stecken? In einem der Szenarien möchte ich mehr über das Leben meiner verstorbenen Eltern erfahren, indem ich Observationsberichte über sie lese. In dem anderen Szenario möchte ich nicht nur mit ihnen sprechen, sondern auch in ihren Akten lesen. Warum? Vertraue ich ihnen nicht? Ist die Existenz von Akten bereits Beleg für die Dissidenz der Eltern — oder waren sie Mitläufer, falls es keine Akten gibt?

Keine Frage: Die Stasi-Akten sind wichtige Unterlagen deutscher Geschichte, sie sind Zeugnis des Umgangs eines Staates mit seinen Menschen. Man muss sie allerdings mit historisch-kritischen Fragen bearbeiten: Wer hat sie für wen geschrieben? Welche Interessen standen dahinter? Wie vertrauenswürdig sind diese Quellen also? Diese Fragen lassen sich nur individuell, nicht pauschal beantworten. Vor allem deswegen sind sie als zentrales Mittel zur Klärung der Vergangenheit einzelner Personen vollkommen ungeeignet.

Wer das hingegen propagiert, macht sich die Methoden der Staatssicherheit zu eigen. Denn wer unkritisch auf Geheimdienst-Berichte setzt, kann auf keine ehrliche Auseinandersetzung mit einer komplexen Vergangenheit hoffen. Vertrauen und Lücken gehören dazu, auch wenn auskunftfreudige Akten verführerisch erscheinen.

 

* Die Dritte Generation Ost ist eine Initiative, die ein Netzwerk für die heute 25- bis 35-jährigen Menschen aus Ostdeutschland bilden möchte. Demografisch gesehen gehöre ich zu dieser Altersgruppe — ich möchte mich allerdings dagegen verwehren, von dieser Gruppe bei ihren öffentlichen Meinungsäußerungen vereinnahmt zu werden: Sie kann nicht für mich sprechen, auch wenn sie gerne so tut, als ob sie die Sichtweise einer ganzen Generation vertritt.

Rezension: Plan D 1

Stasigrau. Das fasst die DDR in Simon Urbans Roman „Plan D“ präzise zusammen. Aber der Reihe nach.

Das 2011 erschienene Werk gehört dem Genre der Alternativweltgeschichte an, in der es um das Was-wäre-wenn geht. Bekanntester Vertreter ist wahrscheinlich „Vaterland“ von Robert Harris. Schauplatz jenen Romans sind die 1960er Jahre eines Großdeutschen Reiches, das im 2. Weltkrieg nicht besiegt wurde und das von der Weltgemeinschaft anerkannt werden möchte. Wären da nicht unheimliche Geheimnisse, die von einem naiven Polizisten ans Tageslicht geholt werden mit Unterstützung einer Frau, die mehr weiß als er selbst. Am Ende stellt sich heraus, dass all die vermeintlichen Verbesserungen nur Fassade sind.

„Plan D“ funktioniert prinzipiell ähnlich: Schauplatz ist die DDR im Jahr 2011, die von der Weltgemeinschaft anerkannt werden möchte. Wären da nicht irgendwelche Geheimnisse, die von einem naiven Polizisten ans Tageslicht geholt werden mit Unterstützung einer Frau, die mehr weiß als er selbst. Und wer das Ende von „Vaterland“ kennt, wird auch hier nicht sonderlich überrascht sein.

Das ist das erste Problem von Urbans Roman: Es klebt in der Grundkonstruktion so nah an „Vaterland“, als ob es ausreichen würde, Hakenkreuze gegen Trabanten (bzw. deren Nachfolger) und Gestapo gegen Stasi auszutauschen. Das tut es eben nicht, auch wenn der Vergleich der Herrschaftssysteme von NSDAP und SED allzu oft gepflegt wird. Gerade zum Ende hin fällt auf, dass die Geschichte nicht einlösen kann, was sie verspricht. Weil es eben doch unterschiedliche Charakteristika beider Systeme gab, die auch in der fiktionalen Bearbeitung berücksichtigt werden müssen. Ein Austausch der Symbole reicht da nicht aus — und ein Egon Krenz als Hitler-Ersatz wirkt eher lächerlich.

Offenbar nimmt aber auch der Autor den Schauplatz des Geschehens trotz aller Graumalerei nicht ernst. Prominenz aus Showbusiness, Sport und Politik bilden im Hintergrundrauschen eine bunte Nummernrevue: Oskar Lafontaine regiert die Bundesrepublik, Michael Ballack trainiert im Osten und Sahra Wagenknecht ist Schauspielerin in sozialistischen Actionfilmen. Diese und andere Figuren tragen nicht zur Handlung bei und sollen wohl eher für Aha-Effekte sorgen: Stimmt, das sind ja Ossis.

Wie aber stellt sich der Westfale Simon Urban die DDR des Jahres 2011 vor? Sie unterscheidet sich nicht viel von der DDR, wie sie vor dem Mauerfall gesehen wurde, es gibt nur mehr – mehr Stasi und mehr grau. Urban wird nicht müde, diese Schlagwörter zu betonen, bis er dem Hauptcharakter schließlich den allumfassenden Begriff „stasigrau“ in den Mund legt. Die Menschen leben in diesem Land so tranig-traurig, dass sie es durch Massensuizid schon längst hätten entvölkern können. Von einem Aufbegehren gegen die Herrschenden ganz zu schweigen.

Ja, so eines gab es in der wirklichen Geschichte tatsächlich. Das vergisst man beim Lesen des Romans – und das wurde offenbar auch beim Schreiben vergessen. Denn der Roman nimmt auch die Menschen der 2011er DDR nicht ernst. Es scheint, er weidet sich an ihren stasigrauen Schicksalen und freut sich, sie als beliebige Abziehbilder einer letztlich trivialen Handlung zu benutzen. Ihr einziger Reiz liegt somit darin, dass sie in einem Deutschland leben, das irgendwie anders und zurückgebliebener ist. Und vor allem stasigrauer.

Und das, so vermute ich, sagt vielleicht auch etwas darüber aus, wie Menschen aus dem Osten Deutschlands wahrgenommen werden. Hier in der realen Welt, der Alternative zur Alternativweltgeschichte.

Simon Urban: Plan D
552 Seiten. Schöffling & Co. Verlag
ISBN: 978 – 3‑89561 – 195‑7 (gebundene Ausgabe)
ISBN: 978 – 3442744428 (Taschenbuch, ab Februar 2013)

Die demaskierten Ostdeutschen 1

Typisch „Die Zeit“: Da reist der Autor Tuvia Tenenbom durch ganz Deutschland, veröffentlicht seine Erfahrungen in dem Buch „Allein unter Deutschen“ — und im Interview mit der Wochenzeitung geht es fast nur um Ostdeutschland. Sie möchte ihren Leserinnen und Lesern offenbar wieder einmal dieses Land näher bringen, das so anders ist als die ihnen so vertraute Bundesrepublik. Oder, wie Tenenbom meint:

Ostdeutschland ist besonders.

Im Interview geht es denn auch in erster Linie darum, diese Besonderheit zu erklären: Wie sind sie so, die Ossis? Und warum sind sie so nostalgisch und unzufrieden? Tenenbom erzählt vom ostdeutschen Humor und resümiert aus seinen Beobachtungen:

Die Menschen sind stolz auf ihre Herkunft – und schämen sich gleichzeitig dafür, in der DDR geboren zu sein.

Dass es in seinem Buch um mehr geht, als den Volksstamm der Ostdeutschen anthropologisch einzuordnen, kommt nur am Rande vor. Der ständig vorhandene und latente Antisemitismus in Deutschland wird etwa nur gestreift:

Die Ostdeutschen sind nicht antisemitischer als die Westdeutschen, sie setzen nur schneller ihre Maske ab.

Aber wie so oft wählt „Die Zeit“ den sicheren Weg: Bevor man sich selbst — und man selbst ist natürlich westdeutsch — von außen betrachtet, schaut man doch lieber auf den Osten. Das ist eben lehrreich und lustig zugleich und birgt nicht die Gefahr, unrühmliche Dinge zu entdecken.