Presseschau: 9. November 2014

Der 9. November 2014 geht zu Ende — wie wurden die Tageszeitungen zu diesem Termin gestaltet? Hier ein Überblick darüber, wie ein paar ausgewählte Blätter in ihren regulären Samstagsausgaben vom 8. November 2014 mit dem Jahrestag umgegangen sind.

Berliner Zeitung

Titel

Ein großformartiges Foto, mehr nicht. Ein passender Auftakt: Das Thema 25 Jahre Mauerfall hat die Ausgabe auf 72 Seiten völlig in Beschlag genommen – aktuelle Meldungen haben nur auf 8 Seiten Platz gefunden.

Die beste Idee

Eine Zeitleiste von Januar 1989 bis heute, Beiträge von Prominenten und Entscheidungsträger_innen, Ost und West in vielen statistischen Vergleichen, Artikel zu verschiedenen Aspekten: Das Gesamtkonzept dieser Ausgabe ist beeindruckend.

Die doofste Idee

Wer Beiträge von Prominenten und Entscheidungsträger_innen schreiben lässt, kommt zwangsläufig zu einem starken Westblick. Und zu vielen „Ich habe vom Mauerfall gehört“-Sätzen, die nicht so recht in diese Ausgabe passen.

Die beste Erkenntnis

„Die gesamtdeutsche Sportgeschichte seit der Wende ist mehr als die Zusammenführung zweier Dopingsysteme.“

Der doofste Erkenntnis

„Die Deutsche Einheit […] habe ich in Hamburg erlebt […]. Wir waren am Abend mit Freunden zusammen, als wir einen Anruf bekamen: ‚Macht doch mal den Fernseher an, die Mauer ist auf.‘“ Hartmut Mehdorn kann leider nicht den 9. November und 3. Oktober auseinander halten.

Die Welt

Titel

Ein Paar umarmt sich am Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Überschrift: „Das Lachen einer Novembernacht“. Die Lyrikabteilung der Welt schlägt zu.

Die beste Idee

Wie ist es eigentlich zur Meldung gekommen, die Schabowski in der Pressekonferenz präsentiert hat? Eine umfangreiche Infografik zeichnet den Weg von 9 Uhr morgens bis 20 Uhr abends nach. Einziger Kritikpunkt: Gezeichnet sieht Egon Krenz aus wie Prinz Charles.

Die doofste Idee

Eine halbe Seite zu Biermanns Frotzeln gegen die Linkspartei ist zu viel Aufmerksamkeit für eine vorhersagbare Episode.

Die beste Erkenntnis

Ostdeutsche steigen eher durch eigene Anstrengungen auf. Einkommen und Status der Eltern im Westen haben einen deutlich größeren Einfluss.

Der doofste Erkenntnis

Am 9. 11. 1989 hat die Bild am Sonntag das „Goldene Lenkrad“ in Berlin verliehen. Auch Friede Springer war dabei, wie das groß abgedruckte Foto dokumentiert. Weltgeschichte!

taz

Titel

Honeckers Wachsfigur, Überschrift: „War da was?“ Die taz kann sich nicht erinnern und kann die Realität nicht von Bildern unterscheiden. Ein Problem, das sich durch die gesamte Ausgabe zieht. So gesehen ein sehr konsequenter Titel.

Die beste Idee

Verschiedene Tagebucheinträge vom 8. und 9. November stehen nebeneinander. Leider haben in den meisten Fällen irgendwelche Westdeutschen nur im Fernsehen davon gehört, was dann im Tagebuch doch nicht so spannend ist. Aber es geht hier ja um die Idee.

Die doofste Idee

Ein zweiseitiges Interview mit Felix Loch, achtfachem Weltmeister im Rennrodeln zum Thema Mauerfall – warum nicht? Vielleicht, weil er damals nicht einmal 4 Monate alt war? Entsprechend absurd sind die Fragen: Haben Sie einmal eine DDR-Fahne gehalten? Wann erfuhren Sie zum ersten Mal von der Mauer? Und ganz oft wird gefragt, was die Eltern gesagt und getan haben. Diese Vorgehensweise wurde bislang ja eher der Spitzelei der DDR vorgeworfen.

Die beste Erkenntnis

Einwanderer und ihre Kinder waren die eigentlichen Wendeverlierer. „So werden Ostdeutsche und Einwanderer auch gegeneinander ausgespielt. Hier der rassistische und autoritätshörige Ostdeutsche, da der integrationsunwillige und aggressive Migrant – diese Stereotype waren und sind für viele Westdeutsche sehr bequem […].“

Der doofste Erkenntnis

„Wohnungen sind knapp und teuer. Wenn es einen Ort gibt, an dem das zusammenwächst, was zuvor 40 Jahre getrennt war, dann hier. […] Reich, arm, Westen, Osten. Wäre Potsdam ein Film, das Drehbuch wäre ziemlich platt.“ Zum Glück machen sie bei der taz nur Zeitung.

Und noch was: „Die DDR ging unter, weil das Essen schlecht war.“ Das ist nicht mal so ironisch gemeint, wie es klingt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Titel

Falls es noch Zweifel gab: „Die Mauer ist offen“. Eine Abbildung zeigt ein Faksimile des FAZ-Titels vom 12. November 1989. Näher kommt man dem Ereignis in Frankfurt offenbar nicht, eine Handvoll Artikel sind in der Ausgabe verstreut.

Die beste Idee

Eine Ausgabe zum Mauerfall ganz ohne Mauererlebnisse und ohne Menschen, die am Abend irgendetwas damit zu tun hatten oder irgendwie davon gehört hatten: Das ist zumindest mutig. Aber dafür gibt es ein großes Foto von Helmut Kohl, wie er eine Rede hält, passend zu einem Artikel darüber, was Helmut Kohl an jenen Tagen so getrieben hat.

Die doofste Idee

In vier (4!) Artikeln wird Biermanns Auftritt im Bundestag behandelt, zwei davon auf der Titelseite. In einem weiteren Text wird sein Wirken in mehreren Absätzen bejubelt. Da wirkt die Welt-Lösung ja geradezu bescheiden.

Die beste Erkenntnis

Günter Schabowski reiste nach 1990 durch ganz Deutschland: „Seine journalistische Ausbildung kam ihm dabei ebenso zugute wie der exotische Reiz eines geläuterten Kommunisten.“

Der doofste Erkenntnis

„Die DDR ist weniger an fehlender Meinungs- und Reisefreiheit gescheitert als am fehlenden ökonomischen Erfolg der staatlichen Kollektive.“

 

Bullshit-Bingo: Der ultimativ-mediale Blick auf den Osten

Bullshit-Bingo: Der ultimativ-mediale Blick auf den Osten

Das Jubiläumsjahr zu 25 Jahren Mauerfall kocht dem Höhepunkt entgegen — Zeit für ein Spiel!

Denn inzwischen kommt man kaum noch an Geschichten über die DDR und ihr Ende vorbei. Es werden so viele Zeitzeugen porträtiert, dass man kaum noch weiß, wer dazu noch nicht befragt wurde. Überhaupt: Seit Anfang des Jahres schlängeln sich Geschichten durch die Gazetten, dass man gar nicht mehr weiß, was man überhaupt noch wissen wollen würde. Wenn nicht sowieso noch mehr kommen würde. Gründliche Recherchen stehen da neben gründlich aus dem Finger-Gesaugtem. Die „Zeit im Osten“ hat deshalb schon im Juni einige Tipps und Vorahnungen zum Feierjahr gegeben.

Nutzen wir also den Umstand und spielen ein wenig Bullshit-Bingo. Die Regeln:

  1. Bullshit-Bingo: Der ultimativ-mediale Blick auf den Osten ausdrucken und bereit legen
  2. Immer wenn eine Phrase oder ein Ereignis aus der Tabelle eintrifft: Ankreuzen! Dabei ist es völlig egal, ob es in Print‑, Radio‑, TV- oder Online-Beiträgen geschieht.
  3. Wenn eine Reihe (senkrecht, horizontal, diagonal) voll ist: „Bullshit!“ rufen.
  4. Bonus: Wenn alle Felder angekreuzt sind: „Ich sehe zu viele Beiträge zum Mauerfall!“ rufen
  5. Bonus-Bonus: Das auch noch in die Kommentare zu diesem Beitrag posten. Da freuen wir uns natürlich über alle Quellen, hehe.

Also dann: Viel Spaß beim Mauerfall — lasst die Spiele beginnen!

2 Dinge, mit denen Buzzfeed zur Ost-West-Debatte in Deutschland beiträgt 2

Welches Medienangebot macht derzeit den wohl innovativsten Schritt in der Wahrnehmung von unterschiedlichen Ost- und West-Erinnerungen? Der Tagesspiegel? Oder TV Total?

Nein: Es ist Buzzfeed. Das aus den USA stammende Medienportal hat vor allem das Ziel, Klicks zu generieren: seine Inhalte sind für Soziale Netzwerke optimiert, sollen also vor allem emotional ansprechen. Am 15. Oktober ist es auch in Deutschland an den Start gegangen — und startete mit Kindheitserinnerungen an die 1980er Jahren. Das wäre nichts besonderes, kulturelle Rückblicke sind schließlich ein beliebtes Thema im Netz. Ungewöhnlich ist aber: Es wurde eindeutig benannt, dass es sich um die Erinnerungen an eine West-Kindheit handelt. Es werden zwar oft westdeutsche Erinnerungen heraufbeschworen, sie werden aber als fiktiv-gesamtdeutsche Erinnerung unausgesprochen verallgemeinert.

Prompt rief dieses Thema Kritik hervor: Buzzfeed ziehe im 25. Jahr des Mauerfalls einen Graben, meint medienrauschen. Doch das stimmt nicht: Am selben Tag gab es einen Artikel mit der für das Portal typischen Überschrift: „25 Dinge, die Dich an Deine Kindheit in den 80ern im Osten erinnern“. Diese Liste enthält durchaus passende Erfahrungen, die bislang in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur ausgeblendet wurden.

Am erstaunlichsten aber: Die Benennung des Westdeutschen und die Sichtbarmachung des Ostdeutschen hätte man wohl am wenigsten in einem Klickportal erwartet. Und dass ausgerechnet ALF („Außerirdische Lebensform“) auf beiden Listen steht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Kurios: Die DDR im Internet

Wir beschäftigen uns hier ja damit, wie der Osten in all seinen Projektionen in den Medien dargestellt wird. Dabei haben wir in der Regel die „klassischen“ Medien im Blick. Doch wie sieht es in diesem krassen neuen Teil, diesem Internet aus? Die Historikerin Irmgard Zündorf hat sich in einem Seminar angeschaut, wie die DDR im Internet dargestellt wird. Ihre Erkenntnis: Es überwiegt deutlich eine kritische Auseinandersetzung. Die Erklärung ist einfach, wie sie im Interview mit der Thüringischen Landeszeitung erläutert:

Eine gute Geschichtsdarstellung kostet Geld. Und für eine ostalgische Seite, die gut gemacht ist, kriegt man keine öffentlichen Gelder. […] Wir haben auch Seiten gefunden von ehemaligen Grenzern oder ein MfS-Forum. Die waren so schlecht gemacht, dass die Studierenden meinten: Das ist zwar ein kurioses Bild der DDR, aber zu den Seiten würde man sich als junger Mensch sowieso nicht verirren.

Ein durchaus überraschender Befund also: Gerade im pluralistisch angelegten Internet werden so die Sicht- und Erzählweisen viel eingeschränkter als es möglich wäre. Gerade in Hinblick auf einen Staat, von dem man sich mit der viel beschworenen Meinungsfreiheit abheben wollte und will, ist dies recht bedenklich. Dass dies auch nicht im Sinne einer kritischen und umfangreichen Geschichtsdarstellung sein kann, zeigt das Resümee der Wissenschaftlerin und ihren Studierenden:

Was den Studierenden wiederum negativ aufgefallen ist: Die DDR wird dort sehr häufig im Spiegel der Bundesrepublik dargestellt. Die Bundesrepublik ist das Positivbeispiel, und die DDR ist das Negativbeispiel. Ihnen war das zu sehr schwarz-weiß. Immer ist die DDR offensichtlich ein Staat, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, wo die Regierung völlig desolat war, die Stasi alles beherrschte und der überwiegende Teil der Bevölkerung in der Opposition war. Gerade der letzte Punkt hat uns irritiert. Wieso konnte dieser Staat überhaupt 40 Jahre lang bestehen, wenn keiner ihn haben wollte und alle dagegen waren? Diese Unklarheit führt dazu, dass für junge Leute, die keinen direkten Bezug zur DDR haben, dieser Staat eine kuriose Geschichte bleibt.

Alltagsrassismus vs Flüchtlingspolitk

Wie wird über Flüchtlingspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gesprochen? Dies sind äußerst sensible Themen — und dass dabei unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden können, hat die Süddeutsche Zeitung in ihrer heutigen Ausgabe gezeigt: Thomas Hahn hat sich für den Politikteil in Mecklenburg-Vorpommern umgeschaut und sprach mit Flüchtlingen. Andreas Glas und Bernd Kastner berichten im Lokalteil aus der bayerischen Landeshauptstadt und haben mit CSU- und SPD-Politikern gesprochen.

Im Folgenden sind Zitate aus beiden Artikel nebeneinander gestellt: In der linken Spalte geht es um Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern, in der rechten um Flüchtlinge in München. Und es ist vielleicht nur Zufall, dass dies ganz unterschiedlich geschieht.

Flüchtlinge in den Zentralen des braunen Sumpfs Plötzliche Aktivität bei der CSU
Güstrower Alltagsrassismus Gescheiterte Flüchtlingspolitik der Staatsregierung
In Anklam und Güstrow beschreiben die Flüchtlinge die Stimmung in der Stadt als „beängstigend“, „unfreundlich“ und „abweisend“. Er selbst, so Spaenle [Kultusminister, CSU], sei „dauernd draußen“ an der Bayernkaserne und erlebe, dass es immer noch Ängste bei den Bürgern gebe.
Gerade in den großen Städten, in denen viele Zugewanderte leben, ist Vielfalt ein gewachsenes Gut. In der vergangenen Woche hatte zunächst SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter einen Aufnahmestopp für die überfüllte Bayernkaserne verfügt — und damit das Thema Unterbringung, für die eigentlich der Freistaat zuständig ist, an sich gerissen.
Mecklenburg-Vorpommern kann auch anders. In Rostock betreibt der Verein Ökohaus mit Rückhalt aus der Bürgerschaft und ausgebildeten Sozialpädagogen eine gelobte Gemeinschaftsunterkunft. Zugleich hält die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung an. Jüngstes Beispiel sind die Mitarbeiter der Stadtwerke (SWM) und ihrer Tochter M‑Net. Nachdem am Freitag der VIP-Bereich des Olympiastadions als Notunterkunft belegt worden war, baten die Firmen spontan ihre Mitarbeiter in der Zentrale um Spenden.
Es ist nirgendwo einfach, ein Flüchtling zu sein. Aber an manchen Orten in Mecklenburg-Vorpommern ist es ein Martyrium. Nahe des Sendlinger-Tor-Platzes schlugen unterdessen Flüchtlinge ein Protestzelt auf, um auf die Situation von Asylbewerber in München hinzuweisen. […] Um ein Lager wie 2013 auf dem Rindermarkt zu verhindern, dürfen diese aber nicht campieren. Die Polizei nahm den Protestierenden deshalb am Sonntagnachmittag Schlafsäcke und Isomatten ab.
Gleichzeitig sitzen Abdoulaye Mbodji und Sherif Barry in der Begegnungsstätte Villa Kunterbündnis am Pferdemarkt und wundern sich über die Atmosphäre in dieser Stadt, in die sie nach ihrer Flucht aus Mauretanien hineingeraten sind. Die beiden CSU-Politiker laden […] die Anwohner der Bayernkaserne zu einem Gespräch ein.
Die kleinen Zentralen des braunen Sumpfs CSU-Staatsregierung
Mecklenburg-Vorpommerns Hinterland München

Vielen Dank an Susanne für den Hinweis.

Einseitiges Einheits-Interesse

Der 25. Jahrestag des Mauerfalls rückt näher — und schon seit Monaten sind Geschichten dazu in den Medien zu finden. Auch der Soli kommt immer wieder in die Diskussion. Auch weil in der Westrepublik gerne geglaubt wird, dass allein sie dafür aufkomme. Da sollte man meinen, dass die Vorstellung des Jahresberichts zur deutschen Einheit auf großes Interesse stößt. Das tat sie auch — aber nur teilweise, wie Markus Decker (Berliner Zeitung) bemerkt:

Bei der gestrigen Pressekonferenz [24.09.2014] zur Vorstellung des Jahresberichts waren Journalisten ostdeutscher Medien und Auslandskorrespondenten übrigens fast unter sich. Auch das sagt über die Einheit ziemlich viel aus.

Aktuelle DDR-Vergleiche #19 — Israel

Endlich zahlt er sich aus, der Aufwand, der in die politische Vermarktung von „Das Leben der Anderen“ gesteckt wurde: Das Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung, die Unterrichtsmaterialen der politischen Bildung in der Schweiz und die Hinweise des Goethe-Instituts Frankreich, um nur einige zu nennen. Denn endlich führt dieser Spielfilm mit dokumentarischen Andichtungen zu Erkenntnissen, die alles verändern könnten:

Der israelische Soldat D. sah sich „Das Leben der Anderen“ an, ein Drama, in dem die Staatssicherheit der DDR ein Künstlerpaar abhört — und so zerstört. D. spürte Mitleid mit den Opfern, denen die Privatsphäre — ein fundamentales Recht — genommen wurde. Plötzlich durchfuhr es ihn: In der Rolle des Stasi-Mitarbeiters erkannte er sich selbst. „Wir tun genau dasselbe“, sagte D. der israelischen Nachrichtenseite „ynet“. „Nur sehr viel effizienter.“ (zitiert nach n‑tv)

Folge: 43 Mitglieder der Elite-Einheit 8200 der israelischen Armee (zuständig für Informationsbeschaffung) möchte nicht mehr gegen Palästinenser spionieren. Deshalb, liebe Einrichtungen der politischen Bildung: Macht weiter! Export euer Unterrichtsmaterial auch in die abgelegensten Abhörmetropolen dieser Welt, etwa nach Fort Meade, Cheltenham und Pullach! Denn die Realität kann die Herzen der Menschen nicht erreichen, nur das Spionieren der Anderen kann es.

Aktuelle DDR-Vergleiche #18 — BER

Wer dachte, dass es mit dem Berlin-Brandenburger Flughafenprojekt nicht mehr schlimmer kommen kann, hat sich geirrt — denn jetzt wird es auch noch mit der DDR verglichen! In einer gemeinsamen Erklärung der verschiedenen Aktions- und Bürgerbündnisse heißt es:

Nur ein Vierteljahrhundert später sehen sich die Menschen der Region wieder mit einer Politik konfrontiert, die auf Machtmissbrauch und Rechtsbruch beruht, die Lügen und Betrug mit Schönfärberei verbindet. Größenwahnsinnige öffentliche Projekte führen dazu, dass vielerorts die Kassen leer sind und es nur noch Mangel zu verwalten gibt.

Kann das sein — so eine direkte Verbindung zwischen damals und heute? Gibt es vielleicht doch etwas, das Menschen an der Macht miteinander verbindet, ganz egal, in welchem System? Lauschen wir doch mal Gunnar Schupelius vom Berliner Boulevardblatt B.Z.:

Abermals wird die DDR verniedlicht und abermals müssen wir klarstellen, wogegen die Bürgerrechtler damals kämpften: Sie kämpften nicht gegen den „Machtmissbrauch“ einzelner Politiker, sondern gegen den Staat DDR, in dem der Machtmissbrauch selbst das System war.

Damit dürften die Unterschiede zwischen den Systemen klar sein, in dem das eine zum falschen System gehörte, während das andere im richtigen ganz unsystematisch ist. Oder so. Und es gibt auch noch eine Belehrung von Herrn Schupelius, hier zum einfacheren Verständnis stark gekürzt:

Wer glaubt, dass diese Verhältnisse mit den heutigen vergleichbar wären, dem ist nicht zu helfen. Ausgerechnet die Flughafen-Gegner profitieren ja von einem politischen System, das ihnen alle Freiheiten und alle Möglichkeiten des Widerstandes zugesteht.

[…]

Nehmt euren DDR-Vergleich zurück, der ist unerträglich.

Übrigens läuft auf der Webseite der B.Z. eine Abstimmung: Hat Gunnar Schupelius Recht? Und immer dran denken: Schön systematisch abstimmen!

Des Würfels Kern

Da triumphiert der Tagesspiegel aus Berlin: Ganz lange wurde ganz fies behauptet, dass der Kapitalismus unmoralische Menschen hervorbringe. Solch moralischer Sieg Ostdeutschlands nagt natürlich und so kann jetzt Malte Lehming, Leiter des Meinungs-Ressorts, stolz verkünden:

Hat der real existierende Sozialismus also die besseren Menschen hervorgebracht? Nein, ganz und gar nicht.

Unter dem Stichwort „Sozialismus verdirbt den Charakter“ zitiert er aus einem Experiment, dessen Ergebnisse vor über zwei Monaten veröffentlicht worden sind: Forscher_innen der Duke University (USA) und der Ludwig-Maximilians-Universität München ließen Berliner würfeln: Sie sollten sich beim Würfeln entscheiden, ob die oben oder unten liegende Seite gezählt werden soll. Das sollten sie vor dem Wurf tun, mussten es aber erst danach mitteilen. Folge: Alle haben gemogelt, aber die ostdeutschen Schummler lagen mehr über dem statistischen Mittel als die westdeutschen. Und: Wer längere Zeit in der DDR gelebt hat, hat tendenziell mehr getrickst. Also folgert die Studie und der Tagesspiegel zitiert:

„Das System des Sozialismus hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Moral seiner Bürger.“ Das freilich bedeute nicht, dass die Ostdeutschen amoralischer seien, sie könnten auch nur besser gelernt haben, sich in einem vorgegebenen festen Rahmen vorteilsbringend zu behaupten.

Nun möchte ich ja das mediale Gejubel (der Tagesspiegel verlinkt auf ebenso begeisterte Artikel der Süddeutschen Zeitung und des Economist) ungern stören. Nur: Kritischer Journalismus sieht anders aus. Zum einen ist die Zahl von 259 Personen wohl kaum repräsentativ und deren Akquirierung auf Bürgerämtern sorgt nicht unbedingt zu einem möglichst breiten Bevölkerungsdurchschnitt. Und überhaupt: Berlin? Das ist sicherlich praktisch für diejenigen, die die Studie durchgeführt haben, aber finden sich gerade hier „typische“ Ost- bzw. Westdeutsche? Hier in der Hauptstadt der DDR und der westdeutschen Insel, die nach der Wende zur gemeinsamen Hauptstadt wurden? Zudem ist es ein starkes Stück, aus einer Koinzidenz (Menschen mit diesem und jenem familiären Hintergrund haben sich auf diese Weise verhalten) eine Kausalität zu konstruieren.

All das sind systemimmanente Probleme experimenteller Studien. Doch es hätte den medialen Berichten gut gestanden, sie kritisch zu beleuchten: Wie valide sind die Zahlen, wie lassen sie sich deuten? So zeigt etwa die Verteilung der „westdeutschen“ Würfe in der Studie ein harmonischeres Bild als die der „ostdeutschen“. Um hier auch einmal eine Kausalität zu bilden: Westdeutsche schummeln gerissener. Immerhin hatten sie mehr Zeit, es zu lernen.

Ostdeutsche Regie: Wir schließen Horizonte 1

Tilman Krause, leitender Literaturredakteur der Welt, leidet. Denn er musste sich die Inszenierung des „Ring“ von Frank Castorf ansehen. Soweit beruflicher Alltag eines Kritikers. Allerdings hat sein Leid dazu geführt, dass er nun in einer Polemik weit ausholt: Nicht nur Castorf ist doof — nein, Krause attestiert eine grundsätzliche ostdeutsche Unfähigkeit, Kunst zu schaffen. Um sein Fazit schon einmal vorweg zu nehmen:

Wer aus dieser Generation seine intellektuelle Sozialisation in der DDR erfahren hat, kann offenbar etwas kategorial anderes als politische Dekonstruktion via Vulgär-Provokation nicht mehr aufnehmen. Da reicht dann die gestalterische Kraft vielleicht für Anklam. Für größere Bühnen sollte man nach dem „Ring“-Desaster in Bayreuth endlich dazu übergehen, nach Leuten mit weiterem Horizont Ausschau zu halten.

Schauen wir uns doch einmal die Argumentation Krauses an. Damit auch Menschen mit Ostsozialisations-Hintergrund die Möglichkeit haben, seine Argumentation nachzuvollziehen.

[Die Regie Castorfs] führt zumindest den fortgeschrittenen Zuschauern ein für allemal vor Augen […]

Lektion 1: Mache immer deutlich, dass du als Vertreter einer intellektuell privilegierten Minderheit sprichst. So wird es schwierig, Kritik an dir zu üben — im Zweifelsfall hat man dich gar nicht verstanden. Man beachte auch den sauber gesetzten Subtext: Im Gesamtbild der Polemik wird klar, dass diese fortgeschrittenen Zuschauer zugleich auch westdeutsche sein müssen. Denn zum einen stellt das Westdeutsche ja ohnehin die ungenannte Norm dar, zum anderen würde die Kritik mit wissenden Ostdeutschen gar keinen Sinn ergeben.

[…] was sie vielleicht beim Besuch von Theater- oder Opernaufführungen mit Ost-Handschrift schon immer ahnten, aber noch nie in dieser Eindringlichkeit erleben konnten: nämlich das Versagen einer spezifischen Ost-Ästhetik vor allen differenzierteren Hervorbringungen des klassischen europäischen Musik- und Sprechtheaterrepertoires.

Lektion 2: Sprich immer für eine ungenannte Menge. Damit ist es nicht nur deine lächerliche Einzelmeinung, sondern eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Wer diese Menschen sind und woher du dieses Stimmungsbild hast: Geschenkt. Ist schließlich eine Polemik. Das wissen auch andere große Medien („Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht“) und weitere Stimmungsmacher („Das wird man doch wohl mal sagen dürfen“).

Das Versagen, wie es nicht nur, aber doch vor allem von Frank Castorfs kruder Mischung aus brechtscher Verfremdung, „dissidentem“ Sozialismus und Proletkult ausgeht. Auch wenn diese Mischung mancherorts noch immer als erfolgreiches Markenzeichen betrachtet wird, vor allem von Ostalgikern und Snobs.

Lektion 3: Behandle deinen Gegner als Stellvertreter einer größeren Gruppe. Denn wenn du dich an einer Einzelperson abarbeitest, müsstest du ihre konkrete Arbeit konkret kritisieren. Je allgemeiner und unspezifischer ihre Gruppe wird („nicht nur, aber doch vor allem“), desto allgemeiner und unspezifischer kannst du ihre unterstellten Weltanschauungen und Ziele gleich mitnehmen. Klischees können übrigens helfen: Über Ostalgiker und Snobs kann man schließlich immer eine Meinung haben.

Er bezeichnet etwas viel Umfänglicheres, nämlich die Beschränktheiten einer Kunstwahrnehmung, die sich in provinzieller Fixierung auf Erfahrungen mit der DDR, wo ja nun in der Tat alles jämmerlich und kleinkariert war, anmaßt, den gescheiterten real existiert habenden Sozialismus wie ein Passepartout über andere künstlerische Weltentwürfe zu stülpen.

Lektion 4: Bringe ein paar Schlagwörter unter. „DDR“, „jämmerlich“ und „kleinkariert“ gehen als Kombination immer, „real existierender Sozialismus“ ist fast schon ein Muss. Das muss auch überhaupt nichts mit dem Thema zu tun haben und sollte auch in den nächsten Jahrzehnten problemlos möglich sein.

Wir sehen also: Der leidende Literaturredakteur bedient sich journalistischer Taschenspielertricks und glaubt wahrscheinlich auch noch an die Klischees, die er für seine Argumentation benötigt. Schade. Die „Welt“ wäre gut beraten, für ihre Redaktion nach Leuten mit weiterem Horizont Ausschau zu halten.

(Übrigens passend dazu ein Zitat Frank Castorfs aus dem letzten Jahr zu Bayreuth: „Jeder von außen ist der Feind. Das ist pure DDR.“)

Danke an Negativpresse Ost für den Hinweis.