Tag der deutschen Einheit 2020 in den Medien — Einigkeit und Streit und Deutung

Tag der deutschen Einheit 2020 in den Medien - Einigkeit und Streit und Deutung

Regelmäßig zu den Gedenktagen am 9. November und 3. Oktober legen sich die Zeitungen ins Zeug – und das von Jahr zu Jahr mehr, was Umfang und Qualität der Beiträge angeht. Aber was steckt eigentlich drin? Hier unser Überblick zum Tag der deutschen Einheit 2020:

Überblick: Zeitungen zum 3. Oktober 2020

Süddeutsche Zeitung

Titelbild Süddeutsche Zeitung zum Tag der deutschen Einheit 2020

Für die SZ ist 3. Oktober wie schon im letzten Jahr eine „Feiertagsausgabe“ wert. Neben dem kreativsten Titel finden wir hier übrigens auch die langweiligste Karikatur im Konkurrenzfeld.

Buzzwords: Stasi, blühende Landschaften, Jammerossi, Wutbürger

Symbolischer Ort: Rosenthaler Platz in Berlin

Statistisches:

  • 1 Titel
  • 1 Leitartikel
  • 1 Glosse
  • 1 Langstrecke (4 Seiten)
  • 1 Ausstellungsbesuch
  • 1 Karikatur

Die Welt

Titelseite von Die Welt zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die Zeitung nennt es „eine besondere Ausgabe“ und eine Sache ist tatsächlich besonders (aber nicht einmalig, siehe unten): Sie hat nicht nur eine Titelseite, sondern gleich noch eine zweite. In beiden Fällen sind die Feierlichkeiten vom 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag zu sehen. Einmal glückliche Politiker ganz nah, einmal die Totale mit Menschen und schwarz-rot-goldenen Flaggen.

Buzzwords: Freiheit, Mauertote, Stasi, Unrechtsstaat

Symbolischer Ort: Moormuseum, Fickentor, „Palumpa-Land“

Statistisches:

  • 2 Titel
  • 2 Kommentare
  • 2 Leitartikel
  • 1 Essay
  • 1 Interview
  • 2 Artikel
  • 1 Geschichtsstrecke

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die FAZ will klotzen: Alles in allem präsentiert sie 34 Beiträge zu einem breiten Themenfeld . Außerdem gibt es bei mehreren Beiträgen Inhalte in Augmented Reality. Das heißt konkret: Smartphone raufhalten und interaktive Bilder oder Videos ansehen. Da kann man es der Zeitung nur ein wenig verübeln, wenn sie auf dem Titel vor allem sich selbst thematisiert (und lobt): „Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.“ Eine zweite Titelseite bietet sie ebenfalls an – man nimmt ja mit, was geht.

Buzzwords: FKK, Sex, Vaterland, Helmut Kohl, Wolf Biermann, Nina Hagen, Todesstreifen, Tal der Ahnungslosen, Staatsdoping, Joachim Gauck, Krippe, Berliner Schloss, Singen

Symbolische Orte: Kohl und Kongo

Statistisches

  • 2 Titelstorys
  • 3 Kommentare
  • 2 Interviews
  • 12 Artikel
  • 1 interaktive Galerie
  • 1 Karikatur
  • Weitere 13 Texte in einer Beilage

Die Zeit

Titelseite von Die Zeit zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die Wochenzeitung stellt den US-Wahlkampf zwischen Trump und Biden groß auf den Titel, die Wiedervereinigung steht deutlich kleiner in der Seitenspalte. Das ist übrigens nicht überall so: In der Zeit im Osten ist die Wiedervereinigung das große Titelthema und enthält dort drei weitere Texte. Diese völlig unterschiedlichen Schwerpunkte der Zeit-Ausgaben sagen wahrscheinlich mehr über den Stand der Einheit als die eigentlichen Inhalte.

Buzzwords: Einigungsvertrag, Identitäten

Symbolischer Ort: Erinnerung

Statistisches

  • 1 bisschen Titel
  • 2 Artikel
  • 1 Interview

Die großen Themen

Einheit — ja, nein, vielleicht?

Das zentrale Thema auf den Titeln ist die „Einheit“. „Endlich vereint“, meint die Süddeutsche. „Nicht immer einig. Aber immer eins“, sagt die FAZ. „Hurra wir müssen uns nicht mehr einig sein!“, ruft die Zeit. Die Welt macht gleich auf Kohl-Fanzine und zitiert ihn mit den Worten „Mit dem heutigen Tage ist das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiedervereint“. Auch bei weiteren Blättern schafft es das Thema auf die Titelblätter: „30 Jahre – sind wir uns einig?“, fragt der Tagesspiegel und „30 Jahre deutsche Einheit – Wir sind eins“, weiß die Berliner Morgenpost.

In den Ausgaben selbst wird die Frage der Einheit aber nicht mehr ganz so zentral verhandelt, kommt aber in verschiedenen Aspekten vor. Im SZ-Leitartikel von Ulrike Nimz etwa heißt es: „Die Andersartigkeit des Ostens, sie ist mit geradezu therapeutischem Eifer beschrieben worden.“

In der Zeit benennt Martin Machowecz gleich zu Beginn die Leserschaft als eine vorrangig westdeutsche, konfrontiert sie mit einem Test und spielt bei der Auswertung mit den Identitäten: 

„Wenn Sie einige oder gar alle Fragen mit Ja beantworten können, müssen Sie sich nicht schämen. Es wird die meisten Ostdeutschen nicht wundern, auch nicht den ostdeutschen Autor dieses Textes. ‚Wir‘ im Osten wissen, dass ‚Sie‘ im Westen irritiert sind. Dass Sie dachten, ‚wir‘ alle wären weiter, gleicher.“ 

Es folgt ein kurzer Abriss der letzten 30 Jahre inklusive der Feststellung: „Streit wird produktiver, wenn er gleichberechtigt geführt wird.“ 

Ebenfalls in der Zeit plädiert auch Thomas Oberender für das Streiten:

„Diese offene Debatte vereint uns eher, als dass sie uns spaltet. Aber dieses ‚Jetzt gebt doch endlich mal Ruhe, ihr ewig jammernden, unzufriedenen Ostdeutschen‘, das wird uns nicht heilen.“

Berthold Kohler setzt den deutschen Streit in globale Verhältnisse und meint in der FAZ: „Verglichen mit den tiefen politischen und gesellschaftlichen Rissen, die sich durch Amerika ziehen, ist Deutschland ein ziemlich einig Vaterland.“

Die Streiflicht-Glosse der Süddeutschen geht das Thema gleich humoristisch-tiefgründig an: 

„Wer am 3. Oktober Willy Brandts Satz vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, in einer Rede oder einem Leitartikel zitiert, muss 250 Euro Bußgeld wegen Verphrasierung der deutschen Sprache bezahlen. … Nach dreißig Jahren jedenfalls ist die Vereinigung geglückt, an der Einheit wird noch gearbeitet.“

Übereinander sprechen

Überhaupt: Das Sprechen über das Sprechen zieht sich ebenfalls durch die Ausgaben. So widmet Stefan Locke in der FAZ einen ganzen Text der medialen Darstellung von Ostdeutschland. „Wie aus dem Kongo“ heißt er postkolonial eher fragwürdig, aber mit treffenden Beispielen und Feststellungen: 

„Die gesamtdeutsche Norm aber bleibt
westdeutsch, aus ihr wird das Land beschrieben und
kommentiert.“

Ulrike Nimz schreibt in der Süddeutschen: „Bei welcher Gelegenheit ‚die Lebensleistung der Ostdeutschen‘ zur Phrase wurde, lässt sich schwer sagen“ und außerdem meint auch: „Paternalistische Zwischentöne haben das Ost-West-Verhältnis immer wieder strapaziert.“

Zu den westdeutschen Sprachbildern zählt Thomas Oberender in der Zeit auch den Begriff „Mauerfall“: „Mir schien es irgendwann nicht mehr selbstverständlich, so davon zu sprechen, weil dahinter eben auch die Sicht vieler Westdeutscher steht, für die die Mauer tatsächlich irgendwann einfach umfiel – huch!“

Die FDP-Landesvorsitzende Linda Teuteberg weist in ihrem Gastkommentar in der Welt auf eine weitere Phrase hin: 

„Das war eine Revolution, keine Wende. Auf diesen frühen Fall erfolgreichen politischen Framings sollten wir nicht hereinfallen.“ 

Das hindert den Welt-Chefredakteur aber nicht daran, von der „Wende“ zu sprechen. Auch weitere Artikel von Welt und FAZ verwenden den ursprünglich von Egon Krenz geprägten Begriff unhinterfragt.

Apropos Welt-Chefredakteur: Ulf Poschardt prangert die Dinge an, die aus seiner Sicht öffentlich nicht mehr vorkommen: 

„30 Jahre nach der Wiedervereinigung mögen die Mauertoten in Debatten verdrängt oder im postmodernen Allerlei vergessen sein, aber die Erfrage dieser Wiedervereinigung nach dem Verhältnis zu Selbstbestimmung und Freiheit bleibt nur halb beantwortet.“ 

Freiheit, das ist übrigens das große Thema in dieser Ausgabe Welt.

Ganz neue sprachliche Ansätze liefert der FAZ-Herausgeber Kohler in seinem Kommentar. Mit „real existierendem Föderalismus“ und „der Zukunft zugewandt“ bringt der gebürtige Oberfranke DDR-Versatzstücke unter. Und meint, dass die Linkspartei ähnlich wie die Grünen ins politische System integriert werden könnte.

Wer ist schuld?

Ein weiteres Thema dreht sich darum, ob die Ostdeutschen die Einheit (so) wollten und warum das eigentlich alles so gekommen ist.

In der Welt stellt sich Sven Felix Kellerhoff, leitender Geschichtsredakteur aus Stuttgart, sich den Klagen zur Wiedervereinigung entgegen: Die Ostdeutschen seien gegen ihren Willen oder ohne nach ihren Wünschen gefragt worden zu sein Teil des vereinigten Deutschlands geworden. Dafür zählt er jüngere Publikationen auf von Sascha-Ilko Kowalczuk („Die Übernahme“), Petra Köpping („Integriert erstmal uns!“) und Daniela Dahn („Die Einheit – eine Abrechnung“). Es bleibt aber fraglich, ob Kellerhoff sie tatsächlich gelesen hat – die Veröffentlichungen argumentieren sehr quellennah und bestreiten gar nicht den Willen der Ostdeutschen. Vielmehr zeichnen sie Entwicklungslinien nach, wie sie damals gar nicht vorhergesagt werden konnten. Aber Kellerhoff sind ohnehin andere Dinge wichtiger:

  1. Die DDR so oft im Text nennen, wie möglich. Neben notwendigen historischen Verweisen sind es auch mal regionale Bezüge („Petra Köpping … landete einen Bestseller in der vormaligen DDR“), die Beschreibung einer Person („die schon in der DDR aktive Schriftstellerin Daniela Dahn“) und die Einordnung eines SPD-geführten Brandenburg („bald bürgerte sich für das Land der Spitzname ‚kleine DDR ein‘“).
  2. Einen Grundkurs in politischer Bildung geben. Denn den derzeit murrenden Bürgern aus der damaligen DDR muss man das wohl ganz einfach erklären: „Zum Wesen jeder Demokratie gehört die Mehrheitsentscheidung bei gleichzeitigem Respekt vor der Position der Minderheit. (…) Eine Demokratie stellt die Wünsche der Mehrheit per Abstimmung aller Wahlberechtigten fest. Weil aber so ein Verfahren organisatorisch aufwendig und teuer ist, kann es nur relativ selten umgesetzt werden.“ Aus welchem langweiligen Lehrbuch Kellerhoff abgeschrieben hat, legt er allerdings nicht offen.
  3. Den Ossis die Schuld geben. Also zitiert Kellerhoff die Zahlen aus den Wahlen und Umfragen im Jahr 1990, zeigt die breite Unterstützung der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung und schließt mit den Worten: „Eigentlich beschimpfen jene Ostdeutsche, die heute die Wiedervereinigung kritisieren, also ihre eigenen unrealistischen Vorstellungen.“ Den Satz mit den dümmsten Kälbern musste er sich dann doch verkneifen. Schließlich hätte er dann Bertolt Brecht zitiert (DDR!) und er selbst wäre dann zum Metzger geworden und ach nein, das kommt nicht gut.

Wie eine Antwort auf Kellerhoff schreibt Jürgen Kaube in der FAZ unter dem Titel „Wendewucht“:

„Gerade in der DDR war Karl Marx in Vergessenheit geraten, weil man dort im Irrtum lebte, sein Hauptwerk heiße ‚Der Sozialismus‘. Andererseits hätte ihnen Karl Marx auch nicht viel geholfen, um die spürbare Missachtung und Selbstgerechtigkeit zu verwinden, die nicht nur alle ökonomischen Segnungen begleitete, sondern auch den Befund, an der DDR sei schlechterdings nichts erhaltenswert und nichts, wovon etwas zu lernen gewesen wäre. Jahre danach erst kam man beispielsweise im Westen darauf, was von den ostdeutschen Schulen hätte gelernt werden können. Oder ganz allgemein: von der Erfahrung, in einem solchen Land gelebt zu haben.“

Symbolische Orte

Die beiden Beiträge in der Süddeutschen und in der Welt zu symbolischen Orten zeigen schließlich auf, dass es nicht allzu viel bringt, an einen Ort zu fahren, an dem man Deutschland angeblich verstehen könnte. So lernt man in der Süddeutschen, dass der Verkehr am Rosenthaler Platz stark zugenommen hat. Von den acht Porträtierten lebt übrigens nur ein Mann schon länger als 30 Jahre hier.

Und über den geografischen Mittelpunkt Deutschlands erfährt man in der Welt: „Er liegt in Thüringen, mitten im Nichts.“ In dem Text gibt es dann doch mehr als Nichts. Aber auch das Geständnis, dass insgesamt acht Mittelpunkte von Deutschland existieren. Der Erkenntnisgewinn ist dann recht überschaubar und der Artikel endet damit, dass eine Frau weint, als sie von ihrem Besuch 1986 im Westen erzählt. Weil sie damals glaubte, dass nicht noch einmal sehen zu können. Parfüm, Früchte und Farben nennt sie. Und Türen, die von alleine aufgingen: „Mein Onkel öffnete das Garagentor mit einer Fernbedienung.“ Da sind sie wieder: Ostdeutsche, wie sie sich Westdeutsche schön vorstellen können.

Bilder

Man kann es nicht anders sagen: Die Bildsprache in den Zeitungen ist langweilig. Die Politikprominenz am Eineheitstag 1990 kommt etwa dreimal vor — bei der Welt auf dem Titel, bei der FAZ auf dem zweiten Titel und bei der Zeit im Bereich Wissen:

Das Titelmotiv der Zeit ist das gleiche, das auch das Neue Deutschland für seine aktuelle Ausgabe benutzt:

Unabwendbar sind offenbar Vorher-Nacher-Bildvergleiche. Es gibt sie bei der Zeit und bei der FAZ. Dort zumindest aufgehübscht mit einer etwas umständlichen Lösung in Augmented Reality.

Und nicht einmal der Verzicht auf Bilder kann helfen: Die FAZ macht es, die Berliner Zeitung ebenfalls — dort aber deutlich weißer:

Und nun?

Die Zeitungen haben den Tag der Deutschen Einheit 2020 genutzt, um uns mit vielen Texten und langweiligen Bildern zuzuschütten. Sie alle versuchen, zu bilanzieren, zu erklären, zu verstehen. Dabei muss man festhalten, dass kaum essenziell neue Erkenntnisse kommen — aber wie auch? Gerade in den letzten fünf Jahren ist ja bereits sehr viel gesagt worden — und gleichzeitig sind die Redaktionen feinfühliger, diverser geworden. Eine Banane auf dem Titel der FAZ, die wir noch 2015 beobachten konnten, gibt es da zum Glück nicht mehr.

Gleichzeitig fehlt der Mut zu vollkommen neuen Ansätzen. Die Diversität in den Redaktionen mag da noch zu gering sein, aber Fragen und Themen gäbe es: Warum geht es etwa bei den Rückblicken fast ausschließlich um die DDR und ihr Erbe? Was ist denn mit der alten Bundesrepublik? Sie bleibt so konturlos, als wäre sie mit der Einheit untergegangen und nicht die DDR. Oder ist der Kohl’sche Atem der Geschichte noch zu deutlich im Nacken der Redaktionen zu spüren?

Seien wir also gespannt, welche Änderungen die nächsten Jahre bringen!

Bündnis 90: Bedeutend gefeiert und prominent ignoriert

Stell dir vor, du bist als Journalist auf einer Feier und weißt anschließend nicht, was gefeiert wurde. Klingt seltsam? Leider ist dies an diesem Wochenende mehrfach passiert. Denn die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ beging am 10. Januar 2020 einen Doppelgeburtstag — 40 Jahre „Die Grünen“ und 30 Jahre „Bündnis 90“. Und einige Medienberichte haben einen Teil der Feier übersehen.

Zuvor ein kurzer Exkurs in die Geschichte (ausführlich bei Wikipedia): Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“ gegründet. 1990 wiederum bildeten verschiedene Oppositionsgruppen in der DDR die Listenvereinigung „Bündnis 90“. Drei Jahre später schlossen sich beide Gruppen zusammen, die Partei heißt seitdem offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“.

Im Januar 2020 nun also das große Jubiläumsfest, die großen Medien berichten ausführlich. Allerdings scheinen sie von ganz unterschiedlichen Festen zu schreiben. Und von ganz unterschiedlichen Parteien.

Die Problematik der zweiteiligen Partei wird allein von Jana Hensel benennt, in der Zeit schreibt sie:

Nicht nur der 40. Geburtstag der West-Grünen wurde begangen, sondern auch der 30. Geburtstag von Bündnis 90, dem ostdeutschen Vorläufer der Partei, der in der Vergangenheit gern mal vergessen wurde.

Jana Hensel: Happy Birthday, Gegenwart, Die Zeit, 11.01.2020

Weitere Erläuterungen zu dieser Problematik oder zur Bedeutung von Bündnis 90 gibt sie allerdings nicht.

Die Süddeutsche Zeitung stellt die Geschichte der Partei ausführlich dar. Selbst die Geschichte der Grünen in der DDR bekommt einen eigenen Abschnitt — so detailliert ist sonst kein Medium bei diesem Thema. Constanze von Bullion schlägt in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen eine Verbindung zwischen der Partei und der deutsch-deutschen Geschichte:

Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

Constanze von Bullion: Langer Lauf zum deutschen Staat, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2020

Bedeutung von Bündnis 90

Auch andere Artikel sehen die Verbindung aus Bündnis 90 und Grünen als bedeutungsvoll an. So schreibt etwa Sascha Lehnartz in Die Welt:

Dass die Partei in die Mitte der Gesellschaft gerückt sei, sei nicht zuletzt dem Zusammenschluss mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 zu verdanken

Sascha Lehnartz: Eine Mahnung von Grumpy Opa Joschka an die stürmische Jugend, Die Welt, 11.01.2020

Und Stephan-Andreas Casdorff meint im Tagesspiegel:

Dass die Grünen zu einer politischen Institution werden konnten, haben sie der Wiedervereinigung zu verdanken. Ohne die und eine nachfolgende Vereinigung mit Bündnis 90 aus dem Osten gäbe es sie heute womöglich gar nicht mehr. Oder nicht so. (…) Die Bürgerbewegung der DDR war gewissermaßen ihre Rettung.

Stephan-Andreas Casdorff: Dem Osten sei Dank!, Tagesspiegel, 12.01.2020

Die DDR-Oppositionellen haben also nicht nur einen Staat zu Fall gebracht, sondern auch die Grünen gerettet! Das ist in dieser Lesart überraschend deutlich und wäre vor ein paar Jahren wahrscheinlich so noch nicht möglich gewesen.

Bündnisgrüne: Konflikte und Ausblicke

Wo aber steht diese Partei aus zwei Herkünften heute? Das Magazin Cicero sieht eine westdeutsche Dominanz:

Doch trotz aller Verneigungen (…) kann auch an diesem Abend auch der Auftritt der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne Birthler, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei westdeutsch dominiert ist

Moritz Gathmann, Bastian Brauns: Piep, piep, piep, Cicero, 11.01.2020

Diesen Blick innerhalb hatten wir auf einwende bereits 2018 als „Wessi-Brille“ thematisiert. Beim Jubiläumsfest gerät diese Fokussiert aber in Bewegung, das beobachtet Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Auch Marianne Birthler, die einst Sprecherin von Bündnis 90 und zuletzt Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen war, hatte noch einen Wunsch: Die Partei möge sich in „Bündnisgrüne“ umbenennen. Viele Vertreter der Bürgerbewegungen aus der DDR (…) stören sich daran, dass im normalen Sprachgebrauch der volle sperrige Name „Bündnis 90/Die Grünen“ oft zu „Die Grünen“ verkürzt wird und der Anteil der Ostdeutschen untergeht. Beide Parteivorsitzenden ließen am Freitagabend deutliche Sympathien für diesen Vorstoß erkennen.

Helene Bubrowski: Die Grünen genießen ihren Albtraum, FAZ, 11.01.2020

Valerie Höhne vom Spiegel fällt die Bezeichnung ebenfalls auf — und wagt einen Blick in die Zukunft:

Der Begriff „Bündnisgrüne“ fällt auf, er wird an diesem Abend mehrfach gebraucht. (…) Vielleicht ist es der erste Schritt, den umständlichen Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen in einen einfacheren umzuwandeln, in einen, der dem ostdeutschen Bündnis im Namen einen ebenbürtigen Platz einräumt

Valerie Höhne: Trau‘ keinem über 40, Der Spiegel, 11.01.2020

Prominent ausgeblendet

Ohne Bündnis 90 würde es die Grünen nicht mehr geben. Eine neue Bezeichnung für die Partei wird etabliert. 

Das sind bedeutende Erkenntnisse aus einer Jubiläumsfeier, an der eine journalistische Berichterstattung nicht vorbei kommen kann, oder?

Doch! Schließlich wurde 2019 ausreichend auf Ostdeutsche und ihre Befindlichkeiten geschaut — jetzt ist mal eine gute westdeutsche Partei aus guter alter westdeutscher Sicht dran!

So verkürzt der Stern den Zusammenschluss auf eine Umbenennung, das Twix unter den Parteien also:

1993 hatten sie sich — trotz heftiger Konflikte — zusammengeschlossen und heißen nun seitdem Bündnis90/Die Grünen.

Von der Öko-Opposition zur Regierungspartei: Wie sich die Grünen verändert haben, stern, 10.01.2020

Der Bonner General-Anzeiger verkürzt weiter und schmeißt sowohl Bündnis 90 als auch den Zusammenschluss von 1993 aus der Wahrnehmung:

Das war die Lehre der verlorenen Bundestagswahl von 1990. Wie keine andere Partei hat sie sich danach gewandelt.

Helge Matthiesen: Eine Erfolgsgeschichte, General-Anzeiger, 10.01.2020

Die Augsburger Allgemeine, die tageszeitung und Die Welt schweigen sich über die ostdeutschen Aspekte der Partei gleich komplett aus. Eine 45-minütige Dokumentation der ARD findet darüber auch auch kein Wort. (Danke an Robert Heinrich für den Hinweis.)

Sensible Sichtbarmachung

Nun ließe sich vortrefflich streiten: Welche Rolle spielt die DDR-Opposition denn heute noch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen? Welchen Stellenwert hat dieser Zusammenschluss im Vergleich zu den ökologischen Ansprüchen der Partei? Lässt sich die Partei überhaupt als eine west-ostdeutsche Partei verstehen? 

Das alles sind und wären wichtige Fragen, die in Medienberichten im doppelten Jubiläumsjahr – 40 Jahre „Bündnis90/Die Grünen“ und 30 Jahre Wiedervereinigung – unbedingt gestellt werden müssten. Denn gerade durch die ausführliche Berichterstattung über den Osten im letzten Jahr ist deutlich geworden: Es kann nicht so weiter gehen wie bisher.

Es ist also gut, dass der mediale Blick auf diese Parteifeier so unterschiedlich ist. Denn er zeigt, dass die Wahrnehmung ostdeutscher Belange sensibler wird. Und dass noch viel zu tun ist.

Tag der deutschen Einheit 2019 in den Medien: 9 Thesen

Tag der deutschen Einheit 2019 in den Medien: 9 Thesen

30 Jahre Mauerfall. Seit Monaten wird in den Medien das Wesen Ostdeutschlands ergründet, am 1. September wurde in Brandenburg und Sachsen gewählt, Ende Oktober geben die Menschen in Thüringen ihre Stimme ab. Ostdeutschland stand selten so im medialen Fokus.

Wer aber am 2. Oktober vor dem Zeitungskiosk stand, musste etwas suchen, das Thema des nächsten Tages zu finden: Vielen Zeitungen war der Tag der Deutschen Einheit offenbar nicht wichtig genug, um ihn auf die Titelseite zu heben.

Wir schauen uns deshalb die überregionalen Zeitungen an, bei denen es der 3. Oktober auf die Titelseite geschafft hat. Welche Themen setzen sie und wie haben sie diese umgesetzt? Und abschließend geben wir einen Überblick, was sich daraus lernen lässt. Für die deutsch-deutsche Berichterstattung zum zentralen deutsch-deutschen Thema.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FAZ: Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit 2019
FAZ, 2.10.2019

Vor fünf Jahren hat es eine Banane auf die Titelseite der FAZ geschafft, diesmal war die Panzerparade zum 70. Jahrestag Chinas wichtiger. Trotzdem beschäftigen sich gleich zwei Artikel auf dem Titel mit der deutschen Einheit.

Mut auf der Titelseite

Der erste Kommentar beschäftigt sich dem „Mut, der die Deutschen verbindet“. Mut ist auch die große Klammer des Textes, vom speziellen Mut in der DDR hin zum Mut, das aktuell Trennende zu überwinden. Das liest sich recht staatstragend und das ist kein Wunder: „Mut verbindet“ ist das Motto der diesjährigen Einheitsfeier in Kiel. Und so hat man das Gefühl, der Text von Jasper von Altenbockum könnte auch als Rede bei den Feierlichkeiten gehalten werden. Inhaltlich spannt er entsprechend den Bogen von der „Wiedervereinigung im Stil Helmut Kohls“ über die Grundfrage in Deutschland und Europa (Wie soll man mit Feinden der Demokratie umgehen?) hin zu einer Rede von Joachim Gauck, die ausführlich zitiert wird. Zu denken gibt der Kommentar aber auch: 

„Was ist die Einheit, wenn gar nicht zusammenfinden soll, was nicht zusammengehört?“

Auch der zweite Artikel dreht sich um das Aufsatzthema Mut, diesmal ist es „Mut, der Zäune überwindet“. Und während darüber staatstragende Worte gefunden wurden, sind es hier pathetische Worte eines Motivationstrainers: „Mut, nicht Verdrossenheit, kann Zäune überwinden und Mauern zum Einsturz bringen. Und Freiheit erringen.“

Ganz gut mit Autobahnanbindung

Einen ganz anderen Ansatz findet die Reportage „Wer weg ist, bleibt meist weg“ aus dem Ressort Politik: Timo Steppat begleitet das Klassentreffen des Abijahrgangs 2004 aus dem thüringischen Hermsdorf. Gleichzeitig zeichnet der Text nach, was Bevölkerungsschwund für eine ostdeutsche Kleinstadt bedeutet. Der Text bringt immer dann die spannendsten Erkenntnisse, wenn er die Protagonisten zu Wort kommen.

Der Autor dagegen hält sich meist im Hintergrund. Wenn er dann doch einmal urteilt, dann weiß man, warum die Beobachtung der Menschen die besseren Stellen sind. So heißt es an einer Stelle: 

„Hermsdorf steht ganz gut da. Es gibt eine Autobahnanbindung, in einer halben Stunde ist man in Jena; es gibt einen Bahnhof, von dem aus man mit dem Zug in gut 50 Minuten in Erfurt ist. (…) Den einen Arbeitgeber für alle gibt es nicht mehr. (…) Es ist komplizierter geworden.“ 

Wir erinnern uns: Der Absatz begann mit den Worten „Hermsdorf steht ganz gut da“.

„Noch nicht einmal klar, was überhaupt gefeiert wird“

Im Feuilleton ist die deutsche Einheit ebenfalls ein Thema – in diesem Fall mit dem Gastbeitrag „Dreißig Jahre friedliche Revolution und keiner geht hin“ vom ostdeutschen Forscher Hagen Findeis. Er stellt fest, dass es nicht gelungen sei, ein erinnerungskulturelles Narrativ über die DDR zu etablieren, dass für Mehrheit anschlussfähig wäre. „Ja, es ist noch nicht einmal klar, was überhaupt gefeiert wird.“

Die Ostdeutschen seien noch auf der Suche nach einer angemessenen Form des Gedenkens an ihre Geschichte. Die offiziell eingerichteten Stellen und die öffentlichen Diskussionen gingen nämlich an der Lebenswelt von Ostdeutschen vorbei. Findeis plädiert deshalb dafür, dass Ostdeutsche ihre Verschiedenartigkeit gegenseitig wahrnehmen und respektieren sollten.

Ost-Filme endlich ästhetisch-erzählerisch

In der Rezension zum Fernsehfilm „Wendezeit“ freut sich Oliver Jungen, dass in Filmen über die DDR und ihr Ende „ästhetisch-erzählerische Kriterien wieder die Oberhand über Moral, Geschichtsvermittlung und Sensationsklamauk gewonnen haben“.

Oder weniger akademisch ausdrückt: Toll, dass DDR-Filme jetzt vor allem gut aussehen und eine gute Geschichte erzählen. Interessanterweise beginnt Jungens Aufzählung früherer Filme mit „Good Bye Lenin!“. Dieser Trend ist schon seit mehreren Jahren zu beobachten: Der Blick auf Ost-Filme beginnt mit westdeutschen Regisseuren, frühere Filme wie „Sonnenallee“ haben da keinen Platz.

„Geld entscheidet“

Im Ressort Wirtschaft gibt es ein Interview mit Klaus Brodführer, langjähriger Bürgermeister von Schleusinger in Thüringen. Die Rubrik erklärt sich, wenn man sich diese Auswahl von Brodführer-Zitaten anschaut:

  • Die Einheit bedeutet für mich Freiheit – aber Freiheit mit Leistung.“
  • „Wir haben die Stadtsanierung geschafft und sind schuldenfrei“
  • „Geld entscheidet“
  • „Andere Städte hatten in der Zeit fünf verschiedene Bürgermeister, einer hat mehr Schulden gemacht als der andere.“
  • „Die DDRler haben wenig verdient, der Stadt hat (…) bezahlt. Das war aber nicht umsonst. Uns ist das Geld vorher genommen worden und damit auch unsere Freiheit. Heute will ich das Geld selbst ausgeben“

Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung: Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit 2019
Süddeutsche Zeitung, 2.10.2019

Ein Trabant im atmosphärisch-roten Schatten blickt von der Titelseite der „Feiertagsausgabe“, daneben heißt es „In der Ostkurve“. Soviel vorab: Die Fußball-Metapher klärt sich nicht auf.

Die Gruppe dazwischen

Als wäre ein Trabi nicht genug, wird man auf der Seite des Titelthemas von zwei Ampelmännchen begrüßt. Puh.

Glücklicherweise ist der Artikel „Ohne die Grenze“ von Cornelius Pollmer  umso erhellender. Es ist ein pointiertes Plädoyer gegen simple Erklärungen durch die einseitige Interpretation von Statistiken oder einfache Positionen. Schlechtredner und Schönredner gäbe es, aber am interessantesten sei die Gruppe dazwischen mit differenzierten Positionen.

„Es gibt in dieser Gruppe schließlich die pragmatische Ansicht, das doch ein Deutschland möglich sein müsse, das seine Zusammengehörigkeit schätzt, ohne fortbestehende Unterschiede wegreden oder verschweigen zu müssen.“

„Die Menschen hier sind nicht anders als im Westen“

Für ein Interview spricht die SZ mit Axel Noack, dem ehemaligen Bischof von Magdeburg. Er fragt etwa: „Wer hört sich die Geschichten derer an, die nicht so gut angekommen sind?“ und bedauert: „Die Menschen hier sind nicht anders als im Westen, aber sie leben in einer anderen Zusammensetzung. Das wird viel zu wenig thematisiert.“

Benachteiligung im Westen

Ganz überraschend gibt es noch einen Text über die Stadt Hagen im Ruhrgebiet. Richtig: Westdeutschland ist auch Teil der deutschen Einheit, auch wenn die bisherigen Texte bislang wie selbstverständlich um Ostdeutschland gekreist sind. Warum eigentlich? Der Blick auf den Westen täte gut, um ein vollständiges Bild von Deutschland zur Einheit zu bekommen.

Der Text „Was den Neid schürt“ zeigt nämlich, wie nüchtern und erhellend ein Artikel über die wirtschaftliche Situation einer Region ausfallen kann, wenn eben genau diese Wirtschaft im Fokus steht. Und nicht noch soziologische, psychologische und weitere Erklärungen bemüht werden, wie das so oft bei Texten über Ostdeutschland der Fall ist.

Warum die DDR dem Westen leblos vorkam

Das Porträt „Der Kronzeuge“ schließlich beschreibt wie Ulrich Schwarz seine Zeit in der DDR verbracht hat. Er war DDR-Korrespondent des Spiegel – und der einzige West-Journalist bei der Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig.

Es ist zwar schade, dass die Menschen aus der DDR so nur zu beobachteten Demonstranten (und so zum beobachteten Objekt) oder zur allgegenwärtigen Stasi werden —  erhellend für den Blick auf den Osten ist das Porträt aber allemal. So habe Schwarz darauf geachtet, dass seine Quellen in den Artikeln nicht zu orten waren. Die Folge: 

„Deswegen lasen sich all die Texte so leblos, so unkonkret – so wie dem Westen die gesamte DDR vorkam.“

Die Zeit

Die Zeit: Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit 2019
Die Zeit, 2.10.2019

Die Wochenzeitung trägt in ihrer Ausgabe am 2. Oktober zweifellos am dicksten auf: Auf dem Titelbild recken FDJler ihre Fäuste und großes Zitat prangt darüber: „Die staatliche Willkür in der DDR war auch nicht schlimmer als heute“. Darunter heißt es nicht minder bedeutungsschwanger: „Ein großer Teil der Ostdeutschen schaut skeptisch auf die Demokratie. Was ist in den letzten 30 Jahren schiefgegangen?“

Die Panik des Scheiterns

Das Titelthema führt die historische Symbolik konsequent weiter, ein riesiges Staatswappen der DDR hängt über dem Artikel, die Überschrift ruft: „Jetzt hört mal zu!“

Im Fließtext werden die schweren Sätze der Titelseite fortgesetzt:

  • „Alles in allem ist die Stimmung mies, ausgerechnet zum Fest der deutschen Einheit. Etwas läuft gründlich schief.“
  • „Kommt da etwas in den Fundamenten der Republik ins Rutschen? Steht gar die Einheit im Begriff zu scheitern?“
  • „Die Repressalien, die Stasi, die Mauer – alles vergessen? Ist die Erinnerung an das Unrecht der Diktatur tatsächlich so sehr verblasst?“
  • „Die Befunde sind in weiten Teilen beunruhigend“

Dabei fokussiert der Text auf zwei Antworten: 41% der Befragten finden, man könne seine Meinung heute nicht freier oder sogar nur weniger frei äußern als vor 1989. 58% haben das Gefühl, heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt zu sein als in der DDR.

In der zweiten Hälfte des Textes lässt der Texte aber Expert*innen zu Wort kommen – und plötzlich können die Statistiken auch anders gelesen werden: Der Leiter der Zeit-Studie etwa weitet den Blick von den Erfahrungen der DDR- auf die Nachwendezeit. Auch der Umgang der Kanzlerin mit den Geflüchteten würde eine Rolle spielen.

Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau-Görlitz ergänzt: Nicht jede ostdeutsche Kritik am Funktionieren der Demokratie sei als Systemkritik zu verstehen. Denn um die 80% der Ostdeutschen halten die Demokratie für die beste Staatsform.

Und schließlich stellt der Artikel fest: Aus den Ergebnissen der Umfrage ließen sich verschiedene Handlungsanweisungen ablesen: Löhne, Renten und Repräsentanz in Politik und Wirtschaft wären demnach naheliegende Aktionsfelder.

Die Zeit setzt also groß auf aufsehenerregende Zahlen – und scheitert auf hohem Niveau. Die Zahlen sind fraglos wichtig und können gute Erkenntnisse liefern. Auch der Artikel bietet diese Ansätze – leider muss man zunächst skandalisierend-aufgeregte Absätze hinter sich bringen. Schade.

Treuhand-Skandale statt Anerkennung

In der gleichen Ausgabe gibt es aber auch einen wunderbaren Artikel: Sechs Menschen sprechen darüber, wie sie an unterschiedlichen Positionen die Treuhand erlebt haben. Zwischendurch wird das Geschehen fundiert einsortiert – einer der Autoren ist Marcus Böick, der zur Treuhand forscht.

Die große Stärke des Artikels „Das abgeschriebene Land“: Er lässt die Menschen zu Wort kommen, ganz ohne Skandalisierung. Die Aktivitäten der Treuhand erscheinen so wie eine Lupe für das Aufeinandertreffen von Ost und West, mit all seinen Widersprüchen. Die kleinen und großen Erlebnisse fangen das wunderbar ein.

Darunter sind Blickpunkte, die es früher nicht in die Medien geschafft haben. So bewundert Johannes Ludewig, die Betriebsräte, aber deren Arbeit „hat keine Anerkennung erfahren in den Medien und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Die interessierten sich nur für Transfer-Milliarden und für Skandale, aber nicht für den mühsamen Alltag von Umstrukturierungen und Neubeginn“.

Neun Thesen zur deutsch-deutschen Berichterstattung

Ein dritter Oktober im Jahr 2019, drei überregionale Zeitungen. Was lässt sich daraus lernen für die Berichterstattung über die deutsche Einheit, über Ostdeutschland und Westdeutschland?

  • Weniger Meinung: Auf vorschnelle Urteile und Skandalisierungen von Journalist*innen lässt sich gut verzichten. Wir sollten lieber hören, was Menschen erleben, erlebt haben und was Expert*innen zu sagen haben.
  • Mehr Vielfältigkeit in Ostdeutschland: Die Abkehr von der DDR funktioniert dann am besten, wenn die Unterschiedlichkeit innerhalb des Ostens unterstrichen wird. Ansonsten wird fortgeschrieben, was die DDR-Führung so gerne gewollt hatte: Ein gleichgeschaltetes Volk ohne Unterschiede.
  • Mehr Westdeutschland: Der Tag der deutschen Einheit betrifft schließlich beide Seiten.
  • Weniger Klischees: Erkenntnisse lassen sich nur gewinnen, wenn Vorurteile zurückgelassen werden. Das Bild über den Osten, über die DDR sollte eben nicht mit den vorhandenen Realitäten im Osten verwechselt werden. Gerade deshalb kommt den Medien eine besondere Bedeutung zu.
  • Mehr Fokussierung: Nicht immer muss ein Text die große Erklärung bieten. Merke: Nicht immer ist ein Blick auf mögliche Prägungen durch die DDR nötig und sinnvoll.
  • Mehr Transparenz: Wer ist diese Person, deren Text ich lese? Schreibt sie über ein „wir“ oder über ein „die“?
  • Nicht instrumentalisieren: Im Gespräch kann man erklären, beim Ankreuzen eines Fragebogens kann man das nicht. Zahlen lassen sich unterschiedlich interpretieren. Vertraut den Menschen, nicht den Statistiken!
  • Weniger urteilen: Ein richtiges Gedenken, eine richtige Haltung lässt sich nicht vorgeben. Unterschiedliche Haltungen müssen gehört, verstanden und ausgehalten werden. Dann kann man in der Gesellschaft auch damit umgehen.
  • Alle Medien – Zeitungen, Radio, Fernsehen, Webangebote – sie müssen nun auch Raum bieten für die Dinge, die sie einfordern: Ein Austausch von Erfahrungen, von Diskussionen. Ein gegenseitiges Zuhören. Und sie müssen die Konsequenzen selbst auch umsetzen: Ein höherer Anteil von Ostdeutschen und anderen Herkünften in den Redaktionen etwa. Damit ein kritischer Blick auf die eigenen Texte möglich wird.

Nach der Wahl: Ich-Erzähler erzählen über Ostdeutschland

Oh, diese Ostdeutschen! Diese Ostmänner! Nach der Bundestagswahl 2017 zeigen sie vor allem: Die gesamtdeutschen Zeitungsmacher_innen verstehen sie einfach nicht. Was läge also näher, als sich diese Spezies einmal genauer anzusehen? Doch diesmal ist alles schwieriger, schließlich fühlen sich diese Menschen nicht verstanden. Welch Rätsel, dass den westdeutschen Qualitätsmedien da gestellt wird!

Doch Lösung naht! Und sie lautet: Betroffenheitsjournalismus. Dabei geht es nicht nur um die Texte, ihre Beobachtungen und ihre Schlussfolgerungen. Nein, es geht auch um die Menschen hinter den Texten. Denn sie sollten etwas mit Ostdeutschland oder besser noch mit der DDR zu tun haben. Oder besser noch: Betroffene sein.

Dieser Ansatz war so naheliegend, dass kaum eine wichtige Zeitung in Deutschland in den Tagen nach der Bundestagswahl ohne einen entsprechenden Text blieb. Irgendwie schaffte es fast jede Redaktion Menschen mit Ost-Biografie, Ost-Erfahrung oder zumindest Ost-Bekanntschaften auszugraben.

Soviel Osten auf einmal war selten. Wir bieten daher einen Überblick zu diesen Texten. Damit alle endlich etwas über den Osten lernen. Aus erster Hand. Oder aus zweiter Hand. Oder von jemanden, der mal jemanden kannte, der früher was von jemandem gehört hat.

Wer diese Liste ergänzen möchte — gerne bei uns melden!

Der Ostmann

Näher dran ist keine andere Kategorie, denn der „Ostmann“ stand seit dem Wahlergebnis im Mittelpunkt der Diskussion. Nur in dieser Kategorie wird nicht über ihn geredet, hier redet er selbst. Und man kann feststellen: Offenbar gibt es nicht allzu viele Ostmänner, die bundesweit über sich schreiben.

  • Titel: „Oh, Ostmann!“ 
    • Erschienen in: Die Zeit
    • Zitat: „Ich bin ein ostdeutscher Mann, und eigentlich hatte ich eine Ehrenrettung schreiben wollen.“
  • Titel: „Ich bin der ostdeutsche Mann“ 
    • Erschienen in: Berliner Zeitung
    • Zitat: „Ich schreibe diese Zeilen als Betroffener. Ich bin seit meiner Geburt ein ostdeutscher Mann. Für meine Mutter war das nie leicht, zumal auch mein Bruder trotz aller ärztlichen Bemühungen ein ostdeutscher Mann wurde.“

Bonus: Der Ostmann im Westen

Wenn man als Redaktion keinen Ostmann im Osten zur Hand hat, kann man ja zumindest einen Ostmann nehmen, der im Westen lebt. Seit über 10 Jahren.

  • Titel: „AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl 2017: Hannes (30) aus Thüringen vergleicht das Revier mit seiner Heimat“ 
    • Erschienen in: Der Westen
    • Zitat: „Hannes Bieler (30) kommt aus Roßleben in Thüringen. Wie nahezu alle seiner Klassenkameraden kehrte er seiner Heimat nach Abi und Zivildienst den Rücken. Ihn zog es vor elf Jahren in den Westen.“

Die Ostfrau

Immerhin kommt auch sie aus dem Osten und kennt sowohl Land als auch Leute/Männer aus eigener Anschauung. Das ist pures Betroffenheitsgold! Kein Wunder, dass es davon mehrere Texte gibt.

  • Titel: „Die späte Rache der Ossis“ 
    • Erschienen in: die tageszeitung (taz)
    • Zitat: „Was ist los mit dem Land, in dem ich geboren worden bin und eine glückliche Kindheit hatte? In dem ich studiert habe und das ich – ich kann nicht anders – nach wie vor meine Heimat nenne.“
  • Titel: „Wir Ossis sind nicht alle Neonazis!“ 
    • Erschienen in: Der Tagesspiegel
    • Zitat: „Bei all dem Ostbashing gestehe ich hier: Ich bin Ossi. Bin ich jetzt auch Neonazi? Zumindest Neonazi-Versteherin?“
  • Titel: „Kaum läuft was schief, sind die dumm-naiven Ossis schuld“ 
    • Erschienen in: Nordkurier
    • Zitat: „Die Wahrheit wollen sie uns erzählen, über uns Ostdeutsche, deren Männer zu mehr als einem Viertel AfD gewählt haben.“
  • Titel: „Werden die Ossis zu nett behandelt?“ 
    • Erschienen in: Die Zeit
    • Zitat: „Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, ich lebe hier. Ich treffe täglich irgendwen, der AfD gewählt hat. Diesen Leuten geht es nicht mehrheitlich schlecht. Ihre Wahl war kein Akt der Verzweiflung, sondern einer der gefühlten Emanzipation. Und: eine politische Entscheidung.“

Bonus: Die Ostfrau im Westen

Da gab es doch diese Frau aus dem Osten in der Redaktion? Die immer wieder Wert darauf legt, dass sie ja gar nicht mehr Osten lebt? Die soll mal was schreiben! Wir haben ja sonst keinen für das Thema.

  • Titel: „Immer auf den Osten“ 
    • Erschienen in: Die Welt
    • Zitat: „Ich bin zwar kein Mann, aber ich bin auch aus dem Osten. Man sieht es mir nur nicht an, denn ich lebe nicht mehr im Osten, sondern schon sehr lange im Westen. Ich wohne schon länger im Westen, als ich im Osten gewohnt habe, länger als die DDR untergegangen ist. Ich wohne in einem Stadtteil von Berlin, der so westlich ist, wie kaum ein anderer, und soweit ich es überblicken kann, bin hier weit und breit die Einzige aus dem Osten. Ich arbeite auch im Westen, nicht nur geografisch, sondern auch politisch, nämlich bei einem Zeitungsverlag, der den Osten, als es ihn noch gab, bekämpft hat, so lange, bis er untergegangen war.“
  • Titel: „AfD im Osten: Ich verstehe das Ergebnis in meiner Heimat nicht“ 
    • Erschienen in: „Neue Westfälische“
    • Zitat: „Ich lebe bereits seit 2003 in Nordrhein-Westfalen. Als ich hierher zog war ich 19, aufgewachsen bin ich aber in Cottbus. Das ist meine Heimatstadt, so sehe ich sie auch heute noch.“

Der Westbesuch

Sehen wir der Wahrheit ins Auge — viele Redaktionen in Deutschland kennen gar keine echten Ost-Menschen. Seitdem es keine West-Pakete mehr gibt, ist schließlich der letzte Kontakt abgerissen. Und eigentlich muss man auch nicht viel über sie wissen: Was Politik und Klamotten angeht, werden sie ewig hinterherhinken und ansonsten sind sie zu langweilig und egal, um etwas über sie wissen zu müssen. Aber um etwas Empathie zu simulieren, da gibt es ja zum Glück noch die älteren Kollegen. Die sollen einfach mal von früher reden.

  • Titel: „Die Unsolidarischen — über den Erfolg der AfD bei ostdeutschen Männern“ 
    • Erschienen in: Stern
    • Zitat: „Ich habe die DDR von den 60er-Jahren, als ich noch ein kleines Kind war, bis zu ihrem Ende nahezu jedes Jahr mindestens einmal besucht.“
  • Titel: „Vom letzten Tag der DDR“ 
    • Erschienen in: Süddeutsche
    • Zitat: „Ich saß also am letzten Arbeitstag der DDR-Justiz im Amtszimmer des Gerichtsdirektors an der Littenstraße. Und ein paar Szenen, die Stimmung dieses Tages dort, möchte ich Ihnen heute schildern, weil am Dienstag der Tag der Deutschen Einheit gefeiert wird — genau 27 Jahre ist das alles nun her.“
  • Titel: „DDR-Korrespondent liest auf dem Campus“ 
    • Erschienen in: Rheinische Post
    • Zitat: „Kaum ein Journalist hat das letzte Jahrzehnt der DDR so nah erlebt, wie der aus Heiligenhaus stammende Peter Wensierski. Als jüngster westlicher Reisekorrespondent schrieb er ab 1979 Berichte und Reportagen über das Leben hinter dem „eisernen Vorhang“ und hatte Einblicke in Lebenswelten und Gedanken der Menschen dort.“

Auslandsbesuch

Wir Deutschen, wir haben uns ja immer so schwer mit unserer geteilten Vergangenheit. Warum nicht mal einen britischen Historiker zu Wort kommen lassen? Der ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Ausländer. Dem stellen wir dann auch mal die Fragen, die wir uns in Deutschland auch stellen. Aber nicht wagen zu sagen. Jetzt aber!

  • Titel: „Ostdeutschland war von Anfang an ein Fehler, sagt dieser Historiker“ 
    • Erschienen bei: Vice
    • VICE: Machen die Ostdeutschen uns alles kaputt?
    • VICE: Glauben Sie, dass der Osten gefährlich für Deutschland ist?

Aktuelle DDR-Vergleiche #23 — Das Internet

Der neue Roman „Purity“ des us-amerikanischen Autors Jonathan Franzen spielt im Ost-Berlin des Jahres 1989. Die Geschichte enthält offenbar alles, was man in dieser Zeit an diesem Ort erwartet: Spitzel, Oppositionelle und Kirchenasyl. Die Handlung könnte also auch heute angesiedelt sein und tatsächlich bringt Franzen die DDR von damals mit dem Internet von heute zusammen, wie die Rezension der Zeit feststellt:

Purity gipfelt in einem Gedankenspiel: Die sozialistischen Staaten mit ihren Spitzelwesen waren vom Wunsch beseelt, noch über die feinsten Geheimnisse ihrer Bürger, und seien es Belanglosigkeiten, informiert zu sein. Von dieser unguten Wissbegierde, so legt es Franzen nahe, seien auch die Netzaktivisten dieser Welt erfüllt — auch sie glaubten, Enthüllungen seien der Schlüssel für eine bessere Welt. Das Netz wie die DDR seien totalitär – mit jeweils starkem Anspruch, den Glauben an das Individuum durch den Glauben an das Kollektiv zu ersetzen: „Die Antwort auf jede Frage, ob groß oder klein, hieß Sozialismus. Ersetzte man Sozialismus durch Netzwerke, hatte man das Internet.“ In beiden sozialistischen Träumen würde das Kollektiv von wenigen Individuen manipuliert.

Tatsächlich, im Grunde ist die Analogie gar nicht so falsch: In seinem Grundverständnis kann das Internet außerordentliche kommunistische Züge tragen: Freies Wissen für alle, freie Software und das sharen der sozialen Netzwerke sowieso: Die gemeinsame Teilhabe also als gelebte sozialistische Utopie. Welch Ironie, dass diese Technologie ausgerechnet aus den USA stammt. So verwundert es nicht, dass Franzen die negativen Schnittmengen von DDR und Internet betont. Diese Analogie stößt aber nicht auf Gegenliebe. So schreibt Adam Soboczynski in der Zeit:

Man [i.e. Soboczynski] misstraut dieser im Roman entfalteten Analogie doch sehr. Schon deshalb, weil die Diktatur über ein Gewaltmonopol verfügt, von der ein Netzaktivist nur träumen kann: Sie hat die Möglichkeit zur physischen Gewalt und zum Zugriff auf den Körper. Gewiss sind auch die Internetkonzerne und Netzwerke mit ihrem Datendurst vom Drang beseelt, „unsere Existenz zu definieren“, wie es in Purity heißt. In welcher Weise und in welchem Ausmaß sie agieren können, regelt aber noch immer der demokratische Rechtsstaat. […] Und es grenzt an eine Verharmlosung der Diktatur, sie als Vorspiel des bösen Internets zu begreifen.

Geradezu niedlich nimmt sich Vertrauen auf den Rechtsstaat aus — schließlich nimmt das Cybermobbing derzeit lebensbedrohliche Ausmaße an: Auch bei uns ist damit der Zugriff auf den Körper gegeben. Und ausgerechnet die größten Datenkraken — Google und Facebook — kommen eben aus den USA, die ja durchaus als rechtsstaatlich gelten. Wohl auch deshalb schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung:

Wer den totalitären Staat mit Google gleichsetzt, verharmlost schließlich beides.

Was nützt das Doping in Gedanken?

„Die Polarisierung Ost kontra West ist jetzt beendet. Jetzt zeigt sich deutlich, dass der Sport auf beiden Seiten politisch benutzt wurde.“

Christian Schenk, Olympiasieger im Zehnkampf, im Interview mit der Welt am Sonntag

Am Wochenende hat die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die BRD in bislang ungekanntem Ausmaße Staats-Doping betrieben gefördert hat. Seit April 2013 wurde die Veröffentlichung der Studie zurückgehalten.

(Dieser Text wurde bereits vorsorglich relativiert.)

Die Suche der Zeitungen nach dem Osten

Bereits seit einiger Zeit fragen sich die großen westdeutschen Zeitungen, warum sie in den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern so selten gekauft werden. Daher gibt es einige Initiativen, die zeigen sollen: Hey, wir interessieren uns doch für euch im Osten! So betreibt die „Zeit“ das Projekt „Zeit im Osten“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ lässt unter dem Namen „Wostkinder“ bloggen. Alles schön und rüttelt nicht an den etablierten Inhalten und Strukturen.

Und die „Süddeutsche Zeitung“, die trotz ihres Namens bundesweit erscheint? Die präsentierte 2010 zu 20 Jahren deutscher Einheit die Reportagereihe „Unser Osten“. Wem das zu vereinnahmend klingt, darf sich freuen:
Im Leitartikel der heutigen Ausgabe geht es um den Andrang auf die Universitäten, eigentlich eine gesamtdeutsche Problematik. Doch Redakteur Johann Osel nimmt in „In der Bildungsbäckerei“ eindeutig Bezug auf „drüben“:

So bleiben Numerus-clausus-Opfern zwei Optionen: Man kann die Provinz entdecken lernen, oder die neuen Länder.

Hier sind sie wieder, das Wir und die Anderen. Wir die weltgewandten Großstädter, dort die Provinz. Wir Wessis. Ihr Ossis. Vielleicht lernen wir euch irgendwann einmal kennen.

Hm. Wieso werden diese Zeitungen eigentlich nicht so oft in den neueren Bundesländern gelesen?

Einseitig gedopt: Eine Doku in der öffentlichen Wahrnehmung

Man stelle sich vor: Da stört sich die Filmemacherin Sandra Kadelka am eindimensionalen Bild, das vom DDR-Sport gezeichnet wird und dreht „Einzelkämpfer“, einen differenzierten Dokumentarfilm über die Menschen und den Sport. Und was dringt von diesem Film an die Öffentlichkeit?

DDR-Olympiasieger gedopt.

„Ach was“, schreibt Claudio Catuogno in der Süddeutschen über diese Reduktion und lobt den Film. Er resümiert: Der DDR-Sport mit seiner Leistungs-Optimierung habe seine Protagonisten ganz gut vorbereitet auf die Leistungs-Optimierung um jeden Preis im Spitzensport West.

„Einzelkämpfer“ feiert seine Premiere am 15.2.2013 auf der Berlinale.

Ossis, Volk ohne Recht und Moral

Bereits Ende November schrieb Constanze von Bullion in der Süddeutschen Zeitung über das „Gift der Diktatur“. Für sie sei es „kein Zufall, dass die braune Mörderbande aus dem Osten kommt“. Denn:

In vielen Köpfen, vor allem ostdeutschen, ist er [der Rechtsstaat] ein fremder Planet geblieben.

Warum und wieso? Der Kommentar weidet sich an Statistiken, kennt als Antwort aber nur das Familienverständnis in der DDR und die „Verschwiegenheit der ostdeutschen Gesellschaft“. Am Ende wird beklagt, dass der Westen das Interesse verloren hätte. Ganz so, als hätte er als moralische Instanz über die verkommene Ostsippe wachen müssen.

Nicht nur heiße Luft 3

Ach, was wurde über das DDR-Doping gespottet. Über Anabolika, das aus Frauen Männern mache, unnatürliche Muskeln wachsen lasse und überhaupt: Das ganze war ja doch nur Kalter Krieg. Nicht so im sauberen Westen, in dem der Sport noch sportlich genommen wurde. Der Aufruhr um die völlig überraschenden Doping-Fälle bei der Tour de France vor einigen Jahren spricht da Bände.

Aber nun zeigt sich: Auch der Westen hat gedopt — in einer Weise, die in sport- und menschenverachtender Weise kaum hinter den DDR-Maßnahmen zurücksteht: „Aufpumpen“ wurde hier noch ernstgenommen, zumindest wenn man der Süddeutschen Zeitung glauben kann.