Wahrnehmungsproblem im Westen

Rechte Gewalt und der Umgang mit ihr sind ein komplexes Thema. In der medialen Betrachtung wird dies allerdings oft vereinfacht — und als ein vorrangig ostdeutsches Problem dargestellt. (Man nehme nur unsere Beispiele: 1, 2, 3) Dass ein komplexes Thema aber durch eine einseitige Sicht nicht vom Tisch ist, zeigt dieses Beispiel aus der Praxis:

Ich habe Seminare in Bayern gehalten und da wurde deutlich, dass es dort ein massives Problem mit rechter Gewalt gibt. Nur herrscht in Westdeutschland ein Wahrnehmungsproblem. Rechte Taten werden dort nicht flächendeckend dokumentiert und nicht öffentlich diskutiert, weil dafür entsprechende Stellen fehlen, die dies tun. Auch Betroffenen dieser Gewalt fehlen qualifizierte Ansprechpartner. Das ist ein untragbarer Zustand.

Marcus Reinert, Geschäftsführer der Opferperspektive, im Interview mit der taz. Opferperspektive ist ein ehrenamtlicher Verein zur Betreuung von Betroffenen rechter Gewalt

Merke: Was nicht gezählt wird, taucht in keiner Statistik auf. Es ist trotzdem vorhanden.

Danke an Urmila für den Hinweis

Ewige Verlierer im Osten 1

Wer kann einen Satz nennen, in dem die Worte „Ostdeutschland“, „Wende“ und „Verlierer“ vorkommen?

Ostdeutschland ist ein Verlierer der Energiewende

Danke, liebe FAZ! Heißt: Strom kostet in den nicht mehr brandneuen Bundesländern mehr, die Gewinne bleiben aber nicht dort. (Dass die Unterstützung von Ökostrom auch etwas von blühenden Landschaften in sich trägt: Diese plumpe Anspielung spare ich mir mal.)

Und als nächstes bitte ein Satz, der die Wörter „Gewinner“ und „einwende“ enthält.

Selbstbilder in Zeiten von Doping und NSA

Dieser Sommer 2013 wird später einmal als der Sommer gelten, in dem westdeutsche Gewissheiten flöten gingen.

Beispiel Doping: Jahrzehntelang inszenierte sich die BRD als Land des sauberen Sports, indem sie mit dem Finger auf den Osten zeigte und dessen Sportler_innen mit sexistischen Vergleichen belegte.

Die anhaltende Diskussion um einen Forschungsbericht zu westdeutschem Doping belegt da eindrücklich, wie schwierig es ist, das eigene Weltbild an abweichende Erkenntnisse anzupassen. Immer wieder kommen Fragen auf: War es so schlimm wie in der DDR, hat man vielleicht nur anders gedopt — ja, ist es überhaupt vergleichbar? Dass man 2 deutsche Staaten miteinander vergleichen könne — diese Vorstellung bereit offenbar Angst. Wenn die eigene moralische Position davon bedroht wird.

Beipiel NSA: Jahrzehntelang inszenierte sich die BRD als ein freies Land, indem sie mit dem Finger auf den Osten zeigte und das Vorgehen der Stasi genüsslich ausweidete.

Jetzt ist nicht nur die Stasi seit 20 Jahren fort, unbemerkt von manch treuen BRD-Anhänger_innen. Nun steht auch die Erkenntnis ins Haus, dass im Westen ebenfalls umfassend Daten gesammelt werden. Auch bei diesem Thema wendet man sich gerne der Frage zu, ob dies denn mit der DDR vergleichbar wäre. Und auch hier wird abgewiegelt. Was zum einen erstaunt, sind doch bislang kaum ausreichend Erkenntnisse vorhanden. Zum anderen erfolgt es auf Basis gewagter Behauptungen: Das Abschöpfen von Metadaten ist etwa keineswegs datenschutzfreundlich — in Zeiten von Big Data reicht dieses Vorgehen vollkommen aus, um alle Informationen zu erhalten, die man als Geheimdienst so braucht bzw. haben möchte.

Mit Verweis auf die DDR entzieht man sich so der aktuellen Verantwortung und führt Alibi-Diskussionen. „Man kann es nicht vergleichen, dort war es aber schlimmer“ — mit dieser Haltung zeigt der Finger also weiterhin auf das vermeintlich Andere, anstatt an die eigene Nase zu fassen.

Passend dazu: Die aktuelle Kolumne „Schnauze Wessi“.

Die Suche der Zeitungen nach dem Osten

Bereits seit einiger Zeit fragen sich die großen westdeutschen Zeitungen, warum sie in den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern so selten gekauft werden. Daher gibt es einige Initiativen, die zeigen sollen: Hey, wir interessieren uns doch für euch im Osten! So betreibt die „Zeit“ das Projekt „Zeit im Osten“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ lässt unter dem Namen „Wostkinder“ bloggen. Alles schön und rüttelt nicht an den etablierten Inhalten und Strukturen.

Und die „Süddeutsche Zeitung“, die trotz ihres Namens bundesweit erscheint? Die präsentierte 2010 zu 20 Jahren deutscher Einheit die Reportagereihe „Unser Osten“. Wem das zu vereinnahmend klingt, darf sich freuen:
Im Leitartikel der heutigen Ausgabe geht es um den Andrang auf die Universitäten, eigentlich eine gesamtdeutsche Problematik. Doch Redakteur Johann Osel nimmt in „In der Bildungsbäckerei“ eindeutig Bezug auf „drüben“:

So bleiben Numerus-clausus-Opfern zwei Optionen: Man kann die Provinz entdecken lernen, oder die neuen Länder.

Hier sind sie wieder, das Wir und die Anderen. Wir die weltgewandten Großstädter, dort die Provinz. Wir Wessis. Ihr Ossis. Vielleicht lernen wir euch irgendwann einmal kennen.

Hm. Wieso werden diese Zeitungen eigentlich nicht so oft in den neueren Bundesländern gelesen?

Gefühlte Medienvorgaben

Bei der Gelegenheit würde ich noch ein Missverständnis bei einigen Lesern ausräumen wollen – die Vorstellung, „die Verteufelung der DDR“ sei heute eine „zentrale Vorgabe für Medien“. Verehrte Leser! Es gibt keine DDR mehr. Nicht mal jemanden, der zentralen Vorgaben macht.

Birgit Walter, Redakteurin der Berliner Zeitung, in einem Beitrag über Bruce Springsteen.

Sie lässt allerdings offen, ob entsprechende Vorgaben überhaupt notwendig sind, wenn ein Konsens besteht.

Das Hochwasser und die Schuld

Man könnte zynisch sein und sagen: Mit dem Elbe-Hochwasser kommt der Osten Deutschlands mal wieder in die Medien, wenn auch wie üblich als Katastrophengebiet. Aber auf dieses Niveau will ich mich hier gar nicht begeben, sondern belasse es dabei: Mit dem Elbe-Hochwasser kommt die DDR mal wieder in die Medien, wie üblich als Schwarzer Peter.

Ein Scherz? Keineswegs. „Die Welt“ schreibt in ihrem Live-Ticker am 12. Juni von der „Giftmüllangst im Hamburger Hafen“, denn die „Stoffe lagern noch aus DDR-Zeiten in den Böden entlang der Elbe und seien sehr aufwändig zu entsorgen.“ Dass die Elbe die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern sowie Schleswig-Holstein berührt: geschenkt. In der Lesart der „Welt“ grenzt die DDR offenbar direkt an Hamburg. Und hat mit ihren Chemikalien über 20 Jahre gewartet.

Auf derselben Seite stellt die Zeitung fest:

„DDR-Bauwahnsinn trägt Mitschuld“

Dafür wird ein Elbe-Experte des BUND zitiert: Es sei ein Irrsinn gewesen, Halle-Neustadt zu bauen. Der Grundstein der Stadt wurde 1964 gelegt. Dabei bräuchte der BUND gar nicht so weit in die Vergangenheit schauen: Erst vor einem Jahr hatte der Verein darauf hingewiesen, dass dem Hochwasser von 2002 kaum Konsequenzen gefolgt seien. Ein Kritikpunkt: Die Bundesländer hätten ein generelles Bauverbot in Flussauen verhindert. Das bedeutet: Es wurde auch weiterhin direkt an Flüssen gebaut, nach 2002, weit über 40 Jahre nach Halle-Neustadt. Ein Bauwahnsinn.

Da ist der Verweis auf „InderDDRwarallesbesser“ nicht weit — die Stuttgarter Zeitung zitiert Menschen aus Grimma, die diesen Gedanken formulieren: Es hätte damals weniger Bebauung und Landwirtschaft in Flussauen gegeben und es seien Bisamratten gejagt worden, damit sie nicht die Dämme durchlöcherten.

Die Zeitung verweist aber auch darauf, dass die Städte durch Schutzmauern „durchaus wirksam“ hätten geschützt werden können — gegen die sich die Bewohner_innen allerdings gewehrt hätten. Die Zeitung unterstellt dabei den Betroffenen egoistische Beweggründe und konstruiert damit implizit eine persönliche Mitschuld. Eine Auseinandersetzung mit den Vorwürfen gegen die Politik nach 1990/2002 findet hingegen nicht statt.

Wider die historische Demenz

Von 2005 bis 2009 war Wolfgang Tiefensee Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer. Zudem ist er Vorsitzender des Forums Ostdeutschland der Sozialdemokratie e.V. Nun wurde er von der dpa zu seiner Sicht auf die Aufarbeitung von DDR-Geschichte befragt:

„Mein persönlicher Eindruck ist der einer gewissen historischen Demenz, der wir mit einem Engagement gegen das Vergessen entgegenwirken müssen. […] Unsere Aufgabe ist es, neue Formen der Vermittlung zu finden, um gerade den jungen Menschen keine starren Geschichtsbilder überzustülpen.

Die letzte Bemerkung könnte er auch auf die Interview-Frage gemünzt haben — die fragte nämlich nach der Auseinandersetzung mit der „kommunistischen Diktatur“. Und vermittelt dadurch ein durchaus festes Geschichtsbild.

Aktuelle DDR-Vergleiche # 11 — Die Zonen-Bären 1

Im Berliner Stadtbezirk Mitte gibt es einen Bärenzwinger. Dort leben die Braunbärinnen Maxi und Schnute unter nicht ganz so „artgerechten“ Bedingungen, was auch schon länger kritisiert wird. Die taz hat nun erneute Bemühungen die Bärinnen umzusiedeln zum Anlass genommen, einen DDR-Vergleich anzubringen, der irgendwo zwischen lahm und dämlich angesiedelt ist:

Im Artikel Zonen-Bären hoffen auf Reisefreiheit ist zu lesen

„Seit ihrer Geburt in der DDR leben die beiden Bärinnen hinter einer Mauer in einem 480 Quadratmeter großen Zwinger…“

Ich habe ein wenig gerechnet. Seit 1990 gibt es bekanntermaßen die DDR nicht mehr. Die Zonen-Bärin Schnute ist jetzt 31 Jahre alt und lebt seit 23 in der BRD. Sie hat also acht Jahre ihres Lebens in der DDR verbracht. Die Zonen-Bärin Maxi ist 27 Jahre alt und hat damit ganze vier Jahre in der DDR und 23 Jahre in der BRD gelebt. In diesen 23 Jahren BRD hat sich für die beiden nicht viel geändert.

Die Verweise auf die Zone, die DDR, die Mauer und die Reisefreiheit erscheinen mit da sehr angemessen, lustig und geradezu sensationell-originell.
Ich hätte aber trotzdem einen Vorschlag für einen tagesaktuelleren Vergleich: BeBerlin-Bären hoffen auf Abschaffung der Residenzpflicht.

Aktuelle DDR-Vergleiche #9 — SPD (Unternehmensberatung, CSU) 1

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat eine Parallele zwischen dem Wahlkampfmotto der SPD „Das Wir entscheidet“ und einer SED-Losung gezogen. In einer dpa-Meldung wird er folgendermaßen zitiert:

Unter dem Motto ‚Vom Ich zum Wir‘ verloren bis 1960 in der damaligen DDR 400 000 Bauern ihre Eigenständigkeit, 15 000 Bauern flohen in den Westen, 200 wählten den Freitod.  […] Es besorgt mich dieses Maß an mangelndem Geschichtsbewusstsein, dass wir schon vergessen haben, was passiert, wenn das Kollektiv Vorrang hat vor der einzelnen Persönlichkeit.

Doch warum in die Vergangenheit schweifen? „Vom ‚Ich‘ zum ‚Wir‘ “ wird auch in der Unternehmensberatung als Schlagwort genutzt. Schließlich sollen ja alle an einem Strang ziehen. Das weiß auch die CSU und hat das Wertebündnis Bayern vor einem Monat unter das Motto „Vom Ich zum Wir“ gestellt.

Das heißt also: Die CSU ist wie die SED. Sapperlot!

Aktuelle DDR-Vergleiche #7 — Lance Armstrong

Heute lernen wir, wie ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat einen anderen Zusammenhang konstruiert.

Armstrong ist unheimlich strukturiert und hat sehr gut mit Anwälten zusammengearbeitet, vielleicht sogar Sportfunktionäre beeinflusst. Ähnlich strukturiert war das in der DDR, wo alles unter staatlicher Aufsicht gemacht wurde.

So wird Wilhelm Schänzer, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln, in diesen Tagen zitiert. Bei n‑tv, Sport1 und Focus Online wurde die Meldung des Sport-Informations-Dienstes (SID) verbreitet: Armstrong = Staatsdoping = DDR. Wer aber in die Videoaufnahme des SID-Interviews schaut, kann feststellen, dass der Vergleich von der interviewenden Person eingebracht wurde, nicht von Schänzer. Der Professor verweist auf die aktive Rolle des Sportlers, die bislang unterschätzt worden sei. Einen direkten Vergleich zwischen Armstrong und DDR zieht er nicht.

Aber egal. Wenn in den Medien das Wort „Doping“ fällt, ist der Dreiklang mit „Staatsdoping“ und „DDR“ nicht fern. In einem  Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geht es daher nicht nur um das Leben des Radprofis, sondern auch zu großen Teilen um den Sport in der DDR. Dies kulminiert im ultimativen Vergleich:

Die Manipulation der DDR war perfider, mit Kinder-Doping und all den detailliert dokumentierten, schrecklichen Nebenwirkungen in diesem Menschenversuch noch menschenverachtender. Aber nie zuvor hat ein einzelner Sportler den professionellen Zweig einer ganzen Sportart so beherrscht, ja am Leben erhalten.

Da wundert es nicht, dass Armstrong selbst sich zu diesem Vergleich äußert:

Ich habe die Doping-Kultur des Radsports nicht erfunden, aber auch nicht versucht, sie zu beenden. Der Sport zahlt den Preis dafür. Aber zu sagen, unser Programm sei größer gewesen als das der DDR in den 70er- und 80er-Jahren, das ist falsch.

Als einzelne Person einen ganzen Staatsapparat zu übertreffen, das wäre tatsächlich eine große Leistung gewesen. Aber vielleicht wäre es angebracht, über sinnvollere Vergleiche nachzudenken, wenn diese schon notwendig sein müssen. Kleiner Tipp: Doping wurde und wird auch außerhalb der DDR praktiziert. Und die Tour de France wäre in diesem Fall nicht unbedingt an den Haaren herbeigezogen gewesen.