Die queer-hinkende Stasi-Inquisition der Zeit

Neulich in der Redaktion der Zeit:

„In unserer Überschrift fehlt noch was. Da soll das Thema Unterdrückung ganz differenziert…“

„Schreib einfach ‚Stasi‘ rein!“

„Super, danke. Was gibt’s heute in der Kantine?“

Dieses Gespräch mag ausgedacht sein – aber tatsächlich prangt diese Überschrift über einer Rezension der Zeit zum Essayband „Beißreflexe“ (Herausgeberin: Patsy l’Amour laLove). Sie lautet:

„Die queer-feministische Gender-Stasi“

Was soll das sein? Der Text selbst gibt nicht sonderlich viele Antworten. Er macht auch nicht transparent, ob der Begriff aus dem besprochenen Buch stammt oder vom Rezensenten. Der Begriff ist nicht einmal zentral im Text und wird nur an einer Stelle beiläufig erwähnt. Hier ist das komplette Zitat:

„Die eigene soziale und politische Position ist niemals rein. Das gilt für die in diesem Buch an den Pranger gestellte queer-feministische Gender-Stasi der akademischen Aktivistenszene genauso, wie für die protestierenden Polittunten um Patsy.“

Was queer und Überwachung verbindet

Was sich über den Text erschließen lässt: Der Essayband kritisiert, dass der ursprünglich befreiend gemeinte Begriff „queer“ in der deutschen Hochschul- und Aktivistenszene inzwischen anders zum Einsatz komme. Die menschlichen Körper sollten durch die Analysen von Michel Foucault und Judith Butler nicht mehr gesellschaftlich konstruiert sein, Identitäten sollten aufgelöst werden. Inzwischen gebe es aber eine „Sprachpolizei“ [im Artikel übrigens ohne Anführungszeichen], die die richtige Anwendung queerer Vorstellungen überwache. Bei Fehlverhalten werde mit Denunziation und Ausschluss gestraft. Im Text heißt es dazu:

„Aus einer radikalen sexualpolitischen Kritik ist eine moralische Kontrolle geworden. Wie konnte es zu dieser Form der Überwachungskultur kommen?“

Kritisiert wird die massive Selbstkritik an einer Homosexualität im Mainstream. Auch die Hierarchisierung von Diskriminierungserfahrungen steht in der Kritik, das Verhältnis von Lesben, Schwulen und Muslimen etwa sei schwierig. Und schließlich analysiert der Essayband: Es sei eine Vorstellung entwickelt worden, es gäbe eine Form von Subjektivität außerhalb von Herrschaftsverhältnissen. Er führt aus:

„Ein moralisch einwandfreies Wesen, vollkommen frei von Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie. Ein queerer Unschuldsengel. Eben dieser Fantasie von Reinheit und Gewissenhaftigkeit verdankt sich die inquisitorische Atmosphäre, die sich innerhalb der queer-feministischen Szene breitgemacht hat.“

Was Inquisition, Stasi und queer verbindet

Und da sind wir wieder bei der Überschrift. Aus einer Analogie – der Inquisition – erwächst die nächste – die Stasi. Dabei lassen sich durchaus Parallelen finden, grundsätzlich steht in allen drei Fällen die Überwachung von Weltbildern im Zentrum. Und da beginnen die Probleme, denn bereits diese Beschreibung ist sehr verkürzt. Schaut man genauer hin, gibt es immer weniger Ähnlichkeiten:

  • Die Inquisition waren kirchliche Gerichtsverfahren gegen Vertreter_innen einer Meinung, die gegen kirchliche Glaubensgrundsätze stand.
  • Die Stasi war Nachrichtendienst und Geheimpolizei, die unter anderem Menschen beobachtete, bei denen Verdacht auf politischen Widerstand oder Republikflucht bestand.
  • Die queer-Auseinandersetzung ist genau das: Eine Auseinandersetzung, in der eine Bewegung und eine Theorie den besten Weg für sich suchen. Zu ihren Methoden gehören beispielsweise Essays, wie die in der Zeit rezensierten.

Zu den Aufgaben der Medien gehört es, solche Auseinandersetzungen kritisch und nachvollziehbar zu begleiten. Wenn die Vergleiche hinken und nicht einmal klar ist, ob es am rezensiertem Werk oder am Rezensenten liegt, dann ist das eher nicht gewährleistet.


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