#WestdeutschAwareness weil Westdeutschland anders ist

Irgendwie sind 33 Jahre Mauerfall wie ein 33 Jahre andauernder Grundkurs, journalistisch angemessen über eine Region und ihre Menschen zu berichten. Mit Erfolg: Bei der Berichterstattung zu Ost-West-Themen sind die Antworten fundierter und erhellender geworden.

Doch es ist beim Blick auf den Osten Deutschlands geblieben. Denn eine Hälfte der vielbeschworenen deutsch-deutschen Geschichte blieb gerne außen vor. Denn:

Was ist mit Westdeutschland?

Unsichtbar: Westdeutschland

Bei all den Berichten, Analysen und Erkenntnissen über Ostdeutschland bleibt die alte Bundesrepublik so blass wie, nun ja: die neuen Bundesländer den Westdeutschen nach der Vereinigung.

Denn anders als bei Ostdeutschen gibt es keine medialen Deutungsversuche, was Westdeutsche vom Rest Deutschlands unterscheidet. Westdeutschland ist zwar die Norm, an und mit der sich Ostdeutschland beständig messen muss – doch wo wird diese Norm benannt?

Tatsächlich sind der westdeutsch schauende Blick und die aus Westdeutschland agierende Position oft nicht sichtbar. Ähnlich sieht es bei westdeutschen Privilegien aus: Auch sie sind unsichtbar — aber stets vorhanden. So können Westdeutsche aus der Perspektive eines allgemein-deutschen „Wir“ sprechen und ihre Herkunft ist gemeint, wenn über „Deutschland“ gesprochen wird. Westdeutschland und Westdeutsche scheinen derart selbstverständlich, dass sie nicht erklärt werden müssen.

Erklärungsbedürftig: Westdeutschland

Das ist der Stand, den man für die aktuelle mediale Berichterstattung feststellen muss. Dabei gehört es zu den zentralen Aufgaben des Journalismus, kritisch zu sein. Und das heißt: Selbstverständlichkeiten hinterfragen. Blinde Flecken sichtbar machen. Insbesondere bei denjenigen, die in der Öffentlichkeit sprechen und entscheiden können. Leider passiert das nicht und eine machtvolle Position bleibt unsichtbar – und zieht möglicherweise einen Teil ihrer Macht aus dieser Unsichtbarkeit.

Dabei wäre es wichtig, diesen Teil Deutschlands zu verstehen. Schließlich ist es in der Regel ein westdeutscher Blick, der Debatten in Deutschland setzen und durchführen kann. Gleichzeitig stellen westdeutsch sozialisierte Menschen den Großteil der Eliten, etwa in Politik, Wirtschaft und Medien.

Es sollte daher ein breites Interesse geben, Westdeutschland und Westdeutsche zu verstehen. Deren Kultur und die davon geprägten Selbstverständnisse würden helfen, Stimmungen und Entscheidungen zu verstehen.

Deshalb: #WestdeutschAwareness Week!

Wir wollen daher unseren Beitrag leisten, das unsichtbare Westdeutschland zu erkennen: Am 9. November rufen wir die #WestdeutschAwareness-Week aus!

Im 33. Jahr des Mauerfalls wollen wir so auf die Leerstelle „Westdeutschland“ aufmerksam machen. Wir wollen Diskussionen in Bewegung bringen und Akteur*innen vernetzen. Wir wollen zusammentragen, was es bereits an Erhellendem über diesen Teil von Deutschland gibt. Vor allem aber wollen wir: Westdeutschland verstehen.

Wer jetzt irritiert ist: Dieses Gefühl gehört dazu, wenn eine unsichtbare Norm ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt word. Sich mit ihr zu beschäftigen, heißt Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Und ja, das muss zwangsläufig irritieren.

Wer jetzt schmunzelnd den Kopf schüttelt, denkt wahrscheinlich an all die einseitigen und klischeehaften Medienberichte über Ostdeutschland. Soll es den gleichen Quatsch jetzt auch über Westdeutschland geben? Auf keinen Fall! Wir sollten daraus lernen, wie wir über- und miteinander sprechen können. Damit aus der deutsch-deutschen Berichterstattung auch ein deutsch-deutsches Verständnis werden kann.

Fragen an Westdeutschland

Um gute Gedanken über Westdeutschland zu finden, stehen bei dieser #WestdeutschAwareness-Week Fragen im Mittelpunkt. Das bedeutet konkret: sieben Aspekte über Westdeutschland, die wir zusammen beleuchten können.

Machen Sie mit und sprechen Sie über Westdeutschland! Unten in den Kommentaren, drüben bei Twitter, per Mail oder bei Freunden und Bekannten.

  • Was hat sich durch den Mauerfall in Westdeutschland und in westdeutschen Biografien verändert?
  • Was sind aktuelle Herausforderungen, die spezifisch westdeutsch sind?
  • Warum sind in Westdeutschland rechte Positionen weniger stark als im Rest von Europa?
  • Warum verstehen sich Westdeutsche nicht als westdeutsch, sondern eher als Nord- oder Süddeutsche, als Deutsche oder als Europäer*innen?
  • Gibt es Privilegien in Westdeutschland bzw. für in Westdeutschland sozialisierte Menschen? Wenn ja: Welche sind das?
  • Was lernen Schüler*innen über westdeutsche Geschichte und Kultur?
  • Warum ist Westdeutschland anders als Ostdeutschland?
  • Bonusfrage: Was sollte auf diesem Titelbild zu sehen sein?
    So isser, der Wessi

Was es schon gibt: Westprivilegien, Critical Westness und Beispiele

Die Idee, auf Westdeutschland zu blicken und unsichtbare Normen und privilegierte Positionen zu benennen, ist nicht neu. Bereits 2010 hat die Kulturanthropologin Urmila Goel dazu geschrieben.

2019 brachte der Sozialwissenschaftler Heiner Schulze den Begriff der „Critical Westness“ in die Debatte ein. Das meint einen (selbst-)kritischen Blick auf westdeutsche Normen. (Hier gibt es eine archivierte Version.)

Aus beiden Texten kommen viele Anregungen für den Ansatz und die Inhalte unserer Aktion – vielen Dank an die Autor*innen.

Und schließlich gibt es auch journalistische Veröffentlichungen, die #WestdeutschAwareness zeigen: Unter dem Titel „Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ veröffentlichte 2022 Nicole Zepter ein Essay aus westdeutscher Perspektive. Ebenfalls 2022 und auch ausdrücklich westdeutsch schrieb Markus Decker: „Wie ich mit Olaf Scholz in der DDR mal gemeinsame Sache machte“. Beides sind erhellende Beispiele, wie fruchtbar es sein kann, diese Perspektive einzubringen.

Vielen Dank an Kati und Anne für die wertvollen Rückmeldungen!


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