Wie in Bad Schwartau Ängste vor dem Osten geschürt werden

Letztlich sind es die kleinen Dinge, die einen Unterschied in der Berichterstattung über Ost und West ausmachen. Hier ein Beispiel aus der Redaktion des Flensburger Tageblatts. Dort heißt es in der Überschrift:

Wie die Schwartauer Werke nach Ostdeutschland gelockt werden

Oh nein, mögen da Einheimische aus Schleswig-Holstein (im Text liebevoll und vertraut mit „SH“ abgekürzt) aufschreien — unsere schöne Marmeladenstadt soll in den tiefen Osten verschleppt werden! Ist den gottlosen Ossis denn nichts mehr heilig? Um die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, hier ein paar Fakten — die stehen zwar im Text verstreut, aber wer liest den nach einer solchen Überschrift ohne die Hilfe von ein paar Gläsern Baldrian?

  1. Die Schwartauer Werke benötigen mehr Platz und sind derzeit in der Bauplatzsuche.
  2. In Betracht kommt „eine Gemeinde“ in Mecklenburg-Vorpommern, das gerade einmal 14 Kilometer entfernt liegt. Zum Vergleich: Zur (ehemaligen) Bundeshauptstadt Bonn, der Personifikation Westdeutschlands also, sind es 500 Kilometer.
  3. Der Unternehmenssitz bleibt in jedem Fall in Bad Schwartau.

Das klingt kaum besorgniserregend — daher verwundert auch der aufgeregte Ton der Meldung. Für mich bleiben daher ein paar offene Fragen:

  1. Weshalb spricht der Text diffus von „Ostdeutschland“, wenn es doch um eine konkrete Gemeinde in unmittelbarer Umgebung geht? Warum wird auch diese nicht konkretisiert? Spielt man hier mit der Angst vor dem Unbekannten?
  2. Warum werden beispielhaft einzelne Unternehmen genannt, die nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen sind — aber keine Statistik, um diese Vorgänge einzuordnen? So vermeldete das gleiche Nachrichtenportal im Jahr 2014: Schleswig-Holstein ist Deutschlands Konjunktur-Primus. Auf Platz 3: Mecklenburg-Vorpommern.
  3. Warum spricht der Artikel mehrmals von „Umzug“ und erklärt erst zum Schluss, dass die Pläne gar nicht den Standort des Unternehmenssitzes betreffen, sondern nur ein weiteres Werk?
  4. Ist das Journalismus, der sachlich informiert und nicht verunsichert?

Vielleicht ist es doch ganz harmlos und es geht nur um die allgemeine Angst vor „dem Osten“. Da wir uns hier ja im hohen Norden befinden, ist das eine wunderbare Gelegenheit, dieses Zitat einzuspielen:

Aufschwung Hannover!

Aufschwung Hannover!

Zugegeben, es ist nicht immer leicht mit dem Zusammenspiel von redaktionellen und werblichen Inhalten. Und Zeitungen sind ja auch auf die Anzeigenerlöse angewiesen. Ärgerlich nur, wenn eine einzige Anzeige das gesamte Thema einer Sonderbeilage persifliert.

Was ist passiert? Am 13. November haben Tageszeitungen der fünf neueren Bundesländer eine gemeinsame Beilage mit dem Titel „Wirtschaft 5.1“ herausgebracht. Thema: Wie hat sich die Wirtschaft in den letzten 25 Jahren im Osten entwickelt? Die Artikel zeigen Erfolgsgeschichten und beschwerliche Wege, die klarste Aussage trifft aber die ganzseitige Anzeige auf der Rückseite: Neueröffnung eines Möbelhauses! In Hannover! Ganz Deutschland feiert mit! Nimm das, Osten! Ha!

2015-11-22 20.39.53
(Zumindest ist das in der Version der Berliner Zeitung so, wie man hier sehen kann.)

Es gibt zwei Arten von Hochhäusern 1

Dass in Berlin Asbest nicht gleich Asbest ist, wissen wir seitdem der Palast der Republik abgerissen wurde (wegen Asbest), während das ICC unter Denkmalschutz gestellt werden soll (trotz Asbest).  Nun lernen wir, dass auch Hochhaus nicht gleich Hochhaus ist. Denn die Wohnungsbaugesellschaft Mitte hat ihre Pläne präsentiert, auf der Berliner Fischerinsel ein Hochhaus zu bauen. Das ruft kritische Stimmen auf den Plan. So etwa den ehemaligen Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der in der Berliner Zeitung deutliche Worte findet:

Damit werden die Planungen der 70er-Jahre für ein sozialistisches Stadtzentrum mit Wohnen in Hochhäusern weitergeführt als existiere die DDR noch. […] Wenn es einen Ort gibt, an dem man sich mit der Geschichte vor der DDR beschäftigen muss, dann ist es dieser hier

Dumm nur: In der unmittelbaren Nähe befindet sich der Alexanderplatz, für den seit 1993 ein so genannter Masterplan existiert. Darin sind 10 Hochhäuser vorgesehen, nebst Abriss verschiedener vorhandener Gebäude der ‑richtig- DDR-Architektur. Umgesetzt wurde dies bislang nicht, daher wurde der Plan kürzlich überarbeitet. Da einige der Gebäude, die ursprünglich abgerissen werden sollten, mittlerweile unter Denkmalschutz stehen, lassen sich 10 Hochhäuser natürlich nicht mehr halten. Daher sieht der neue Plan nunmehr ‑richtig- 11 Hochhäuser vor!

Aber ärgern wir uns doch erst einmal über den sozialen Wohnungsbau in einem einzelnen Hochhaus, das so schamlos an die DDR anknüpft …

Gläserne Mauer

Es gibt doch keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West. Warum immer irgendwelche Probleme beschwören, wenn es so viele Erfolge gibt (Lebenserwartung leider geil)? Vielleicht, weil es immer noch  haarsträubende Probleme gibt:

Wenn ich in meine Verwaltung in Erfurt gucke, sind da zwei Drittel Westdeutsche. Auf der Ebene meiner Referatsleiter sprechen mehr Leute bayerisch als sonst wo. […] Jetzt bin ich für die Linke in der Landesregierung. Das hat Folgen. Ich habe mich mal in Bayern beworben. Da haben die gefragt, ob ich noch ganz bei Trost sei und wie ich auf die Idee käme, an einer bayerischen Hochschule anzuheuern. 25 Jahre nach dem Mauerfall gibt es da immer noch eine Grenze. Wenn du meinen politischen Hintergrund hast, dann kannst du im Westen immer noch bestimmte Jobs nicht machen. Das finde ich empörend, auch weil es das Leistungsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft infrage stellt.

Das hat der aus Ost-Berlin stammende Sozialwissenschaftler Benjamin-Immanuel Hoff im Gespräch mit Markus Decker gesagt — darin geht es um seine Ost-West-Ehe mit Karin Hoff aus dem Allgäu. Der Auszug aus Deckers Buch „Was ich dir immer schon mal sagen wollte“ ist in der Berliner Zeitung erschienen. Die dortige Überschrift setzt aber lieber einen Schwerpunkt auf ein ganz heißes deutsch-deutsches Eisen: „Ohne meine Westfrau hätte ich nicht sparen gelernt“.

Holla!

Bischöfe machen ihr Praktikum im Osten

Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige hat am 8.6.2015 Kritik an der Ernennung von Heiner Koch zum Erzbischof von Berlin geübt:

Neben Görlitz und Berlin ist Dresden-Meißen damit schon das dritte Bistum im Osten Deutschlands, das seinen Bischof nach nur kurzer Dienstzeit – diesmal handelte es sich lediglich um rund zwei Jahre – wieder verliert. […] Bedauerlicherweise entsteht der Eindruck, ostdeutsche Bistümer seien inzwischen so etwas wie ein „Verschiebebahnhof“ oder wie „Praktikumsstellen“ zur Qualifizierung für „höhere Ämter“.

Sonderlich beliebt scheinen die ungläubigen Bundesländer jedenfalls nicht zu sein — Bischof Wolfgang Ipolt aus Görlitz spricht von „hier in der Diaspora im Osten Deutschlands“.

Impfen in der DDR — und die FAZ spricht lieber vom Klassenkampf

„Das Impfen war auch Klassenkampf“ — so titelt ein FAZ-Artikel. Und ist dabei hin- und hergerissen: Nur eine Handvoll Maserfälle gebe es derzeit im Osten Deutschlands — doch in der DDR habe man bis zur Volljährigkeit „17 Pflichtimpfungen über sich ergehen“ lassen müssen. Dass beides direkt zusammen hängt, ist unbestritten, das weiß auch der Artikel. Doch dann kann man nicht gleichzeitig für die Erfolge und gegen deren Ursache sein.

Doch der Artikel von Frank Pergande ist nicht nur unentschlossen: Er ist so DDR-fixiert, dass er die BRD ganz vergisst. „Der Impfzwang entstand zunächst in der Nachkriegszeit“ — streckenweise liest sich das, als hätte das östliche Deutschland seine Einwohner_innen medizinisch unterjocht. Doch es fehlt der entscheidende Hinweis, dass dies in der BRD ursprünglich nicht viel anders war. Pergande hätte dies wissen können, zitiert er doch in weiten Passagen aus einem wissenschaftlichen Aufsatz der Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“. Hier werden die Impfpraktiken in BRD und DDR miteinander verglichen. Im FAZ-Artikel hingegen nicht.

Worauf der wissenschaftliche Artikel auch einen Hinweis bietet: Mit dem Begriff „Impfzwang“ operierte letztlich nur die BRD — und das nicht einmal in Bezug auf die DDR, sondern in Hinblick auf ihren eigenen Umgang mit dem Impfen. Der „Zwang“ ist eine nachträgliche Rückprojektion auf die DDR-Praktiken, die gar nicht so zwanghaft waren. Davon berichtet nicht nur ein Arzt im FAZ-Artikel — was die innere Zerrissenheit des Textes noch weiter unterstreicht — sondern auch Wolfgang Kiehl im Interview mit der Berliner Zeitung. Er war verantwortlich für die Impfungen, die den Masern-Ausbruch von 1970 in der DDR stoppten:

Gegen „Verweigerer“ wurde nichts unternommen. Darum ärgert mich, wenn in der aktuellen Debatte von „Impf-Zwang“ die Rede ist. Nein, wir haben die Impfpflicht aufgefasst als Pflicht des Staates, die Kinder zu schützen und zugleich als Pflicht der Eltern, diese Möglichkeit zu nutzen. Es war eine moralische Pflicht, zum Impfen zu gehen – und bald selbstverständlich. Das basierte nicht auf Zwang, sondern auf hohem Vertrauen gegenüber Ärzten und Gesundheitswesen.

Entscheidend sei, dass Ärzte individuell Überzeugungsarbeit leisten können — dies schaffe man heute aber heute zeitlich nicht mehr. Impfen ist also weniger eine Frage des Klassenkampfes als der Zeit. Notwendig ist es allemal, da ist man sich systemübergreifend einig. Sonst würde sich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wohl kaum so mit ihrer Kampagne „Deutschland sucht den Impfpass“ abmühen.

 

DDR, Alltag an deutschen Schulen?

Gerne wird so getan, als hätte die DDR 1990 aufgehört zu existieren. Dass dies für die Politik gilt, nicht aber für die Gesellschaft, wird gerne vergessen. Für Deutschlandradio Kultur hat die Schriftstellerin Susanne Schädlich nun beobachtet, dass die DDR immer noch in der Schule nachwirke. Ihr Generalvorwurf:

Der alte Mief! Er weht durch die Schulen, besonders in den östlichen Bezirken Berlins und in den neuen Bundesländern.

Ja, die Schriftstellerin weiß: In westdeutschen Schulen wird deutlich weniger gemieft! Da lachen Schüler_innen und die Lehrer_innen 50+ gemeinsam über die Beiträge von 9gags. Voll yolo, Alter!

Apropos Klassenfahrten. Mit konstanter Bosheit geht es gen Osten, als gebe es den Westen gar nicht, in „Ferienlager“, wo sogar die Straßen Pionierlagerstraße heißen.

Apropos Westen: Wie besessen fahren westdeutsche Klassen in den Osten — schließlich kann man dort nicht nur eine fremde Kultur kennen lernen, sondern ist auch noch billig. Also geht’s etwa in das Schullandheim Bitburg. Ach, das liegt in Rheinland-Pfalz? Verdammt.

So kommt im Geschichtsunterricht die DDR oft nicht vor – kein Wort von Diktatur, Mauertoten, Mangelwirtschaft. Dafür Geschichten aus dem Alltag.

Dumm nur: Die DDR ist in den Lehrplänen der Bundesländer verbindlich vorgeschrieben. Ja, auch in ostdeutschen Bundesländern (Beispiele aus Mecklenburg-Vorpommern (PDF), Brandenburg (PDF), Sachsen (PDF)). Beziehungsweise: Vor allem in ostdeutschen Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen (Lehrplan-PDF) wird die DDR nicht einmal erwähnt. Und in Bremen gibt es einen Bildungsplan nur für den Bereich „Biblische Geschichte“. Da steht die DDR aber auch nicht drin.

Was hat es also zu bedeuten, wenn Susanne Schädlich ihre Vorwürfe an das ostdeutsche Lehrpersonal einleitet mit „Gar nicht ungewöhnlich, dass […]“? Das täuscht statistisch unterfütterte Argumente vor — eingelöst wird das aber nicht. Schade, trotz der wichtigen Erkenntnis bleiben da nicht mehr als hohle Phrasen. Wie etwa der Einstieg:

„Wir haben Pech, wir haben noch DDR-Lehrer“, sagte kürzlich ein Schüler eines Berliner Gymnasiums.

Und welch Pech, dass die Schriftstellerin mit ihrem Beitrag solche Aussagen fördert: Denn ein Vorwurf, es gebe noch BRD-Lehrer, ist schlicht nicht denkbar. Dieser Schüler hat in der deutsch-deutschen Realität also sehr gut gelernt: Ich kann meinen Lehrenden pauschal ihre Herkunft vorwerfen. Irgendein Presseorgan wird das schon verwenden, ohne es zu hinterfragen.

Alltagsrassismus vs Flüchtlingspolitk

Wie wird über Flüchtlingspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gesprochen? Dies sind äußerst sensible Themen — und dass dabei unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden können, hat die Süddeutsche Zeitung in ihrer heutigen Ausgabe gezeigt: Thomas Hahn hat sich für den Politikteil in Mecklenburg-Vorpommern umgeschaut und sprach mit Flüchtlingen. Andreas Glas und Bernd Kastner berichten im Lokalteil aus der bayerischen Landeshauptstadt und haben mit CSU- und SPD-Politikern gesprochen.

Im Folgenden sind Zitate aus beiden Artikel nebeneinander gestellt: In der linken Spalte geht es um Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern, in der rechten um Flüchtlinge in München. Und es ist vielleicht nur Zufall, dass dies ganz unterschiedlich geschieht.

Flüchtlinge in den Zentralen des braunen Sumpfs Plötzliche Aktivität bei der CSU
Güstrower Alltagsrassismus Gescheiterte Flüchtlingspolitik der Staatsregierung
In Anklam und Güstrow beschreiben die Flüchtlinge die Stimmung in der Stadt als „beängstigend“, „unfreundlich“ und „abweisend“. Er selbst, so Spaenle [Kultusminister, CSU], sei „dauernd draußen“ an der Bayernkaserne und erlebe, dass es immer noch Ängste bei den Bürgern gebe.
Gerade in den großen Städten, in denen viele Zugewanderte leben, ist Vielfalt ein gewachsenes Gut. In der vergangenen Woche hatte zunächst SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter einen Aufnahmestopp für die überfüllte Bayernkaserne verfügt — und damit das Thema Unterbringung, für die eigentlich der Freistaat zuständig ist, an sich gerissen.
Mecklenburg-Vorpommern kann auch anders. In Rostock betreibt der Verein Ökohaus mit Rückhalt aus der Bürgerschaft und ausgebildeten Sozialpädagogen eine gelobte Gemeinschaftsunterkunft. Zugleich hält die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung an. Jüngstes Beispiel sind die Mitarbeiter der Stadtwerke (SWM) und ihrer Tochter M‑Net. Nachdem am Freitag der VIP-Bereich des Olympiastadions als Notunterkunft belegt worden war, baten die Firmen spontan ihre Mitarbeiter in der Zentrale um Spenden.
Es ist nirgendwo einfach, ein Flüchtling zu sein. Aber an manchen Orten in Mecklenburg-Vorpommern ist es ein Martyrium. Nahe des Sendlinger-Tor-Platzes schlugen unterdessen Flüchtlinge ein Protestzelt auf, um auf die Situation von Asylbewerber in München hinzuweisen. […] Um ein Lager wie 2013 auf dem Rindermarkt zu verhindern, dürfen diese aber nicht campieren. Die Polizei nahm den Protestierenden deshalb am Sonntagnachmittag Schlafsäcke und Isomatten ab.
Gleichzeitig sitzen Abdoulaye Mbodji und Sherif Barry in der Begegnungsstätte Villa Kunterbündnis am Pferdemarkt und wundern sich über die Atmosphäre in dieser Stadt, in die sie nach ihrer Flucht aus Mauretanien hineingeraten sind. Die beiden CSU-Politiker laden […] die Anwohner der Bayernkaserne zu einem Gespräch ein.
Die kleinen Zentralen des braunen Sumpfs CSU-Staatsregierung
Mecklenburg-Vorpommerns Hinterland München

Vielen Dank an Susanne für den Hinweis.

Aktuelle DDR-Vergleiche #18 — BER

Wer dachte, dass es mit dem Berlin-Brandenburger Flughafenprojekt nicht mehr schlimmer kommen kann, hat sich geirrt — denn jetzt wird es auch noch mit der DDR verglichen! In einer gemeinsamen Erklärung der verschiedenen Aktions- und Bürgerbündnisse heißt es:

Nur ein Vierteljahrhundert später sehen sich die Menschen der Region wieder mit einer Politik konfrontiert, die auf Machtmissbrauch und Rechtsbruch beruht, die Lügen und Betrug mit Schönfärberei verbindet. Größenwahnsinnige öffentliche Projekte führen dazu, dass vielerorts die Kassen leer sind und es nur noch Mangel zu verwalten gibt.

Kann das sein — so eine direkte Verbindung zwischen damals und heute? Gibt es vielleicht doch etwas, das Menschen an der Macht miteinander verbindet, ganz egal, in welchem System? Lauschen wir doch mal Gunnar Schupelius vom Berliner Boulevardblatt B.Z.:

Abermals wird die DDR verniedlicht und abermals müssen wir klarstellen, wogegen die Bürgerrechtler damals kämpften: Sie kämpften nicht gegen den „Machtmissbrauch“ einzelner Politiker, sondern gegen den Staat DDR, in dem der Machtmissbrauch selbst das System war.

Damit dürften die Unterschiede zwischen den Systemen klar sein, in dem das eine zum falschen System gehörte, während das andere im richtigen ganz unsystematisch ist. Oder so. Und es gibt auch noch eine Belehrung von Herrn Schupelius, hier zum einfacheren Verständnis stark gekürzt:

Wer glaubt, dass diese Verhältnisse mit den heutigen vergleichbar wären, dem ist nicht zu helfen. Ausgerechnet die Flughafen-Gegner profitieren ja von einem politischen System, das ihnen alle Freiheiten und alle Möglichkeiten des Widerstandes zugesteht.

[…]

Nehmt euren DDR-Vergleich zurück, der ist unerträglich.

Übrigens läuft auf der Webseite der B.Z. eine Abstimmung: Hat Gunnar Schupelius Recht? Und immer dran denken: Schön systematisch abstimmen!

Des Würfels Kern

Da triumphiert der Tagesspiegel aus Berlin: Ganz lange wurde ganz fies behauptet, dass der Kapitalismus unmoralische Menschen hervorbringe. Solch moralischer Sieg Ostdeutschlands nagt natürlich und so kann jetzt Malte Lehming, Leiter des Meinungs-Ressorts, stolz verkünden:

Hat der real existierende Sozialismus also die besseren Menschen hervorgebracht? Nein, ganz und gar nicht.

Unter dem Stichwort „Sozialismus verdirbt den Charakter“ zitiert er aus einem Experiment, dessen Ergebnisse vor über zwei Monaten veröffentlicht worden sind: Forscher_innen der Duke University (USA) und der Ludwig-Maximilians-Universität München ließen Berliner würfeln: Sie sollten sich beim Würfeln entscheiden, ob die oben oder unten liegende Seite gezählt werden soll. Das sollten sie vor dem Wurf tun, mussten es aber erst danach mitteilen. Folge: Alle haben gemogelt, aber die ostdeutschen Schummler lagen mehr über dem statistischen Mittel als die westdeutschen. Und: Wer längere Zeit in der DDR gelebt hat, hat tendenziell mehr getrickst. Also folgert die Studie und der Tagesspiegel zitiert:

„Das System des Sozialismus hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Moral seiner Bürger.“ Das freilich bedeute nicht, dass die Ostdeutschen amoralischer seien, sie könnten auch nur besser gelernt haben, sich in einem vorgegebenen festen Rahmen vorteilsbringend zu behaupten.

Nun möchte ich ja das mediale Gejubel (der Tagesspiegel verlinkt auf ebenso begeisterte Artikel der Süddeutschen Zeitung und des Economist) ungern stören. Nur: Kritischer Journalismus sieht anders aus. Zum einen ist die Zahl von 259 Personen wohl kaum repräsentativ und deren Akquirierung auf Bürgerämtern sorgt nicht unbedingt zu einem möglichst breiten Bevölkerungsdurchschnitt. Und überhaupt: Berlin? Das ist sicherlich praktisch für diejenigen, die die Studie durchgeführt haben, aber finden sich gerade hier „typische“ Ost- bzw. Westdeutsche? Hier in der Hauptstadt der DDR und der westdeutschen Insel, die nach der Wende zur gemeinsamen Hauptstadt wurden? Zudem ist es ein starkes Stück, aus einer Koinzidenz (Menschen mit diesem und jenem familiären Hintergrund haben sich auf diese Weise verhalten) eine Kausalität zu konstruieren.

All das sind systemimmanente Probleme experimenteller Studien. Doch es hätte den medialen Berichten gut gestanden, sie kritisch zu beleuchten: Wie valide sind die Zahlen, wie lassen sie sich deuten? So zeigt etwa die Verteilung der „westdeutschen“ Würfe in der Studie ein harmonischeres Bild als die der „ostdeutschen“. Um hier auch einmal eine Kausalität zu bilden: Westdeutsche schummeln gerissener. Immerhin hatten sie mehr Zeit, es zu lernen.