Tag der deutschen Einheit 2020 in den Medien — Einigkeit und Streit und Deutung

Tag der deutschen Einheit 2020 in den Medien - Einigkeit und Streit und Deutung

Regelmäßig zu den Gedenktagen am 9. November und 3. Oktober legen sich die Zeitungen ins Zeug – und das von Jahr zu Jahr mehr, was Umfang und Qualität der Beiträge angeht. Aber was steckt eigentlich drin? Hier unser Überblick zum Tag der deutschen Einheit 2020:

Überblick: Zeitungen zum 3. Oktober 2020

Süddeutsche Zeitung

Titelbild Süddeutsche Zeitung zum Tag der deutschen Einheit 2020

Für die SZ ist 3. Oktober wie schon im letzten Jahr eine „Feiertagsausgabe“ wert. Neben dem kreativsten Titel finden wir hier übrigens auch die langweiligste Karikatur im Konkurrenzfeld.

Buzzwords: Stasi, blühende Landschaften, Jammerossi, Wutbürger

Symbolischer Ort: Rosenthaler Platz in Berlin

Statistisches:

  • 1 Titel
  • 1 Leitartikel
  • 1 Glosse
  • 1 Langstrecke (4 Seiten)
  • 1 Ausstellungsbesuch
  • 1 Karikatur

Die Welt

Titelseite von Die Welt zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die Zeitung nennt es „eine besondere Ausgabe“ und eine Sache ist tatsächlich besonders (aber nicht einmalig, siehe unten): Sie hat nicht nur eine Titelseite, sondern gleich noch eine zweite. In beiden Fällen sind die Feierlichkeiten vom 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag zu sehen. Einmal glückliche Politiker ganz nah, einmal die Totale mit Menschen und schwarz-rot-goldenen Flaggen.

Buzzwords: Freiheit, Mauertote, Stasi, Unrechtsstaat

Symbolischer Ort: Moormuseum, Fickentor, „Palumpa-Land“

Statistisches:

  • 2 Titel
  • 2 Kommentare
  • 2 Leitartikel
  • 1 Essay
  • 1 Interview
  • 2 Artikel
  • 1 Geschichtsstrecke

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die FAZ will klotzen: Alles in allem präsentiert sie 34 Beiträge zu einem breiten Themenfeld . Außerdem gibt es bei mehreren Beiträgen Inhalte in Augmented Reality. Das heißt konkret: Smartphone raufhalten und interaktive Bilder oder Videos ansehen. Da kann man es der Zeitung nur ein wenig verübeln, wenn sie auf dem Titel vor allem sich selbst thematisiert (und lobt): „Die Frankfurter Allgemeine steht für die Freiheit im Denken.“ Eine zweite Titelseite bietet sie ebenfalls an – man nimmt ja mit, was geht.

Buzzwords: FKK, Sex, Vaterland, Helmut Kohl, Wolf Biermann, Nina Hagen, Todesstreifen, Tal der Ahnungslosen, Staatsdoping, Joachim Gauck, Krippe, Berliner Schloss, Singen

Symbolische Orte: Kohl und Kongo

Statistisches

  • 2 Titelstorys
  • 3 Kommentare
  • 2 Interviews
  • 12 Artikel
  • 1 interaktive Galerie
  • 1 Karikatur
  • Weitere 13 Texte in einer Beilage

Die Zeit

Titelseite von Die Zeit zum Tag der deutschen Einheit 2020

Die Wochenzeitung stellt den US-Wahlkampf zwischen Trump und Biden groß auf den Titel, die Wiedervereinigung steht deutlich kleiner in der Seitenspalte. Das ist übrigens nicht überall so: In der Zeit im Osten ist die Wiedervereinigung das große Titelthema und enthält dort drei weitere Texte. Diese völlig unterschiedlichen Schwerpunkte der Zeit-Ausgaben sagen wahrscheinlich mehr über den Stand der Einheit als die eigentlichen Inhalte.

Buzzwords: Einigungsvertrag, Identitäten

Symbolischer Ort: Erinnerung

Statistisches

  • 1 bisschen Titel
  • 2 Artikel
  • 1 Interview

Die großen Themen

Einheit — ja, nein, vielleicht?

Das zentrale Thema auf den Titeln ist die „Einheit“. „Endlich vereint“, meint die Süddeutsche. „Nicht immer einig. Aber immer eins“, sagt die FAZ. „Hurra wir müssen uns nicht mehr einig sein!“, ruft die Zeit. Die Welt macht gleich auf Kohl-Fanzine und zitiert ihn mit den Worten „Mit dem heutigen Tage ist das deutsche Volk in Frieden und Freiheit wiedervereint“. Auch bei weiteren Blättern schafft es das Thema auf die Titelblätter: „30 Jahre – sind wir uns einig?“, fragt der Tagesspiegel und „30 Jahre deutsche Einheit – Wir sind eins“, weiß die Berliner Morgenpost.

In den Ausgaben selbst wird die Frage der Einheit aber nicht mehr ganz so zentral verhandelt, kommt aber in verschiedenen Aspekten vor. Im SZ-Leitartikel von Ulrike Nimz etwa heißt es: „Die Andersartigkeit des Ostens, sie ist mit geradezu therapeutischem Eifer beschrieben worden.“

In der Zeit benennt Martin Machowecz gleich zu Beginn die Leserschaft als eine vorrangig westdeutsche, konfrontiert sie mit einem Test und spielt bei der Auswertung mit den Identitäten: 

„Wenn Sie einige oder gar alle Fragen mit Ja beantworten können, müssen Sie sich nicht schämen. Es wird die meisten Ostdeutschen nicht wundern, auch nicht den ostdeutschen Autor dieses Textes. ‚Wir‘ im Osten wissen, dass ‚Sie‘ im Westen irritiert sind. Dass Sie dachten, ‚wir‘ alle wären weiter, gleicher.“ 

Es folgt ein kurzer Abriss der letzten 30 Jahre inklusive der Feststellung: „Streit wird produktiver, wenn er gleichberechtigt geführt wird.“ 

Ebenfalls in der Zeit plädiert auch Thomas Oberender für das Streiten:

„Diese offene Debatte vereint uns eher, als dass sie uns spaltet. Aber dieses ‚Jetzt gebt doch endlich mal Ruhe, ihr ewig jammernden, unzufriedenen Ostdeutschen‘, das wird uns nicht heilen.“

Berthold Kohler setzt den deutschen Streit in globale Verhältnisse und meint in der FAZ: „Verglichen mit den tiefen politischen und gesellschaftlichen Rissen, die sich durch Amerika ziehen, ist Deutschland ein ziemlich einig Vaterland.“

Die Streiflicht-Glosse der Süddeutschen geht das Thema gleich humoristisch-tiefgründig an: 

„Wer am 3. Oktober Willy Brandts Satz vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, in einer Rede oder einem Leitartikel zitiert, muss 250 Euro Bußgeld wegen Verphrasierung der deutschen Sprache bezahlen. … Nach dreißig Jahren jedenfalls ist die Vereinigung geglückt, an der Einheit wird noch gearbeitet.“

Übereinander sprechen

Überhaupt: Das Sprechen über das Sprechen zieht sich ebenfalls durch die Ausgaben. So widmet Stefan Locke in der FAZ einen ganzen Text der medialen Darstellung von Ostdeutschland. „Wie aus dem Kongo“ heißt er postkolonial eher fragwürdig, aber mit treffenden Beispielen und Feststellungen: 

„Die gesamtdeutsche Norm aber bleibt
westdeutsch, aus ihr wird das Land beschrieben und
kommentiert.“

Ulrike Nimz schreibt in der Süddeutschen: „Bei welcher Gelegenheit ‚die Lebensleistung der Ostdeutschen‘ zur Phrase wurde, lässt sich schwer sagen“ und außerdem meint auch: „Paternalistische Zwischentöne haben das Ost-West-Verhältnis immer wieder strapaziert.“

Zu den westdeutschen Sprachbildern zählt Thomas Oberender in der Zeit auch den Begriff „Mauerfall“: „Mir schien es irgendwann nicht mehr selbstverständlich, so davon zu sprechen, weil dahinter eben auch die Sicht vieler Westdeutscher steht, für die die Mauer tatsächlich irgendwann einfach umfiel – huch!“

Die FDP-Landesvorsitzende Linda Teuteberg weist in ihrem Gastkommentar in der Welt auf eine weitere Phrase hin: 

„Das war eine Revolution, keine Wende. Auf diesen frühen Fall erfolgreichen politischen Framings sollten wir nicht hereinfallen.“ 

Das hindert den Welt-Chefredakteur aber nicht daran, von der „Wende“ zu sprechen. Auch weitere Artikel von Welt und FAZ verwenden den ursprünglich von Egon Krenz geprägten Begriff unhinterfragt.

Apropos Welt-Chefredakteur: Ulf Poschardt prangert die Dinge an, die aus seiner Sicht öffentlich nicht mehr vorkommen: 

„30 Jahre nach der Wiedervereinigung mögen die Mauertoten in Debatten verdrängt oder im postmodernen Allerlei vergessen sein, aber die Erfrage dieser Wiedervereinigung nach dem Verhältnis zu Selbstbestimmung und Freiheit bleibt nur halb beantwortet.“ 

Freiheit, das ist übrigens das große Thema in dieser Ausgabe Welt.

Ganz neue sprachliche Ansätze liefert der FAZ-Herausgeber Kohler in seinem Kommentar. Mit „real existierendem Föderalismus“ und „der Zukunft zugewandt“ bringt der gebürtige Oberfranke DDR-Versatzstücke unter. Und meint, dass die Linkspartei ähnlich wie die Grünen ins politische System integriert werden könnte.

Wer ist schuld?

Ein weiteres Thema dreht sich darum, ob die Ostdeutschen die Einheit (so) wollten und warum das eigentlich alles so gekommen ist.

In der Welt stellt sich Sven Felix Kellerhoff, leitender Geschichtsredakteur aus Stuttgart, sich den Klagen zur Wiedervereinigung entgegen: Die Ostdeutschen seien gegen ihren Willen oder ohne nach ihren Wünschen gefragt worden zu sein Teil des vereinigten Deutschlands geworden. Dafür zählt er jüngere Publikationen auf von Sascha-Ilko Kowalczuk („Die Übernahme“), Petra Köpping („Integriert erstmal uns!“) und Daniela Dahn („Die Einheit – eine Abrechnung“). Es bleibt aber fraglich, ob Kellerhoff sie tatsächlich gelesen hat – die Veröffentlichungen argumentieren sehr quellennah und bestreiten gar nicht den Willen der Ostdeutschen. Vielmehr zeichnen sie Entwicklungslinien nach, wie sie damals gar nicht vorhergesagt werden konnten. Aber Kellerhoff sind ohnehin andere Dinge wichtiger:

  1. Die DDR so oft im Text nennen, wie möglich. Neben notwendigen historischen Verweisen sind es auch mal regionale Bezüge („Petra Köpping … landete einen Bestseller in der vormaligen DDR“), die Beschreibung einer Person („die schon in der DDR aktive Schriftstellerin Daniela Dahn“) und die Einordnung eines SPD-geführten Brandenburg („bald bürgerte sich für das Land der Spitzname ‚kleine DDR ein‘“).
  2. Einen Grundkurs in politischer Bildung geben. Denn den derzeit murrenden Bürgern aus der damaligen DDR muss man das wohl ganz einfach erklären: „Zum Wesen jeder Demokratie gehört die Mehrheitsentscheidung bei gleichzeitigem Respekt vor der Position der Minderheit. (…) Eine Demokratie stellt die Wünsche der Mehrheit per Abstimmung aller Wahlberechtigten fest. Weil aber so ein Verfahren organisatorisch aufwendig und teuer ist, kann es nur relativ selten umgesetzt werden.“ Aus welchem langweiligen Lehrbuch Kellerhoff abgeschrieben hat, legt er allerdings nicht offen.
  3. Den Ossis die Schuld geben. Also zitiert Kellerhoff die Zahlen aus den Wahlen und Umfragen im Jahr 1990, zeigt die breite Unterstützung der Ostdeutschen für die Wiedervereinigung und schließt mit den Worten: „Eigentlich beschimpfen jene Ostdeutsche, die heute die Wiedervereinigung kritisieren, also ihre eigenen unrealistischen Vorstellungen.“ Den Satz mit den dümmsten Kälbern musste er sich dann doch verkneifen. Schließlich hätte er dann Bertolt Brecht zitiert (DDR!) und er selbst wäre dann zum Metzger geworden und ach nein, das kommt nicht gut.

Wie eine Antwort auf Kellerhoff schreibt Jürgen Kaube in der FAZ unter dem Titel „Wendewucht“:

„Gerade in der DDR war Karl Marx in Vergessenheit geraten, weil man dort im Irrtum lebte, sein Hauptwerk heiße ‚Der Sozialismus‘. Andererseits hätte ihnen Karl Marx auch nicht viel geholfen, um die spürbare Missachtung und Selbstgerechtigkeit zu verwinden, die nicht nur alle ökonomischen Segnungen begleitete, sondern auch den Befund, an der DDR sei schlechterdings nichts erhaltenswert und nichts, wovon etwas zu lernen gewesen wäre. Jahre danach erst kam man beispielsweise im Westen darauf, was von den ostdeutschen Schulen hätte gelernt werden können. Oder ganz allgemein: von der Erfahrung, in einem solchen Land gelebt zu haben.“

Symbolische Orte

Die beiden Beiträge in der Süddeutschen und in der Welt zu symbolischen Orten zeigen schließlich auf, dass es nicht allzu viel bringt, an einen Ort zu fahren, an dem man Deutschland angeblich verstehen könnte. So lernt man in der Süddeutschen, dass der Verkehr am Rosenthaler Platz stark zugenommen hat. Von den acht Porträtierten lebt übrigens nur ein Mann schon länger als 30 Jahre hier.

Und über den geografischen Mittelpunkt Deutschlands erfährt man in der Welt: „Er liegt in Thüringen, mitten im Nichts.“ In dem Text gibt es dann doch mehr als Nichts. Aber auch das Geständnis, dass insgesamt acht Mittelpunkte von Deutschland existieren. Der Erkenntnisgewinn ist dann recht überschaubar und der Artikel endet damit, dass eine Frau weint, als sie von ihrem Besuch 1986 im Westen erzählt. Weil sie damals glaubte, dass nicht noch einmal sehen zu können. Parfüm, Früchte und Farben nennt sie. Und Türen, die von alleine aufgingen: „Mein Onkel öffnete das Garagentor mit einer Fernbedienung.“ Da sind sie wieder: Ostdeutsche, wie sie sich Westdeutsche schön vorstellen können.

Bilder

Man kann es nicht anders sagen: Die Bildsprache in den Zeitungen ist langweilig. Die Politikprominenz am Eineheitstag 1990 kommt etwa dreimal vor — bei der Welt auf dem Titel, bei der FAZ auf dem zweiten Titel und bei der Zeit im Bereich Wissen:

Das Titelmotiv der Zeit ist das gleiche, das auch das Neue Deutschland für seine aktuelle Ausgabe benutzt:

Unabwendbar sind offenbar Vorher-Nacher-Bildvergleiche. Es gibt sie bei der Zeit und bei der FAZ. Dort zumindest aufgehübscht mit einer etwas umständlichen Lösung in Augmented Reality.

Und nicht einmal der Verzicht auf Bilder kann helfen: Die FAZ macht es, die Berliner Zeitung ebenfalls — dort aber deutlich weißer:

Und nun?

Die Zeitungen haben den Tag der Deutschen Einheit 2020 genutzt, um uns mit vielen Texten und langweiligen Bildern zuzuschütten. Sie alle versuchen, zu bilanzieren, zu erklären, zu verstehen. Dabei muss man festhalten, dass kaum essenziell neue Erkenntnisse kommen — aber wie auch? Gerade in den letzten fünf Jahren ist ja bereits sehr viel gesagt worden — und gleichzeitig sind die Redaktionen feinfühliger, diverser geworden. Eine Banane auf dem Titel der FAZ, die wir noch 2015 beobachten konnten, gibt es da zum Glück nicht mehr.

Gleichzeitig fehlt der Mut zu vollkommen neuen Ansätzen. Die Diversität in den Redaktionen mag da noch zu gering sein, aber Fragen und Themen gäbe es: Warum geht es etwa bei den Rückblicken fast ausschließlich um die DDR und ihr Erbe? Was ist denn mit der alten Bundesrepublik? Sie bleibt so konturlos, als wäre sie mit der Einheit untergegangen und nicht die DDR. Oder ist der Kohl’sche Atem der Geschichte noch zu deutlich im Nacken der Redaktionen zu spüren?

Seien wir also gespannt, welche Änderungen die nächsten Jahre bringen!

Atommüll-Endlager — die Suche nach Bundesländern im Osten

Atommüll-Endlager - die Suche nach Bundesländern im Osten

Wo wird es Endlager für Atommüll in Deutschland geben? Heute hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Zwischenbericht vorgelegt. Wie zu erwarten war, spielt in den Medienberichten hierzu der Standort Gorleben eine prominente Rolle. Aber auch Ostdeutschland kommt prominenter vor als gedacht. Und gleichzeitig wird Morsleben prominent ignoriert. Doch machen wir uns zunächst auf die Suche, wo Endlager in Deutschland eigentlich möglich sind.

Auf der Website der FAZ lautet der Teaser:

 „In Gorleben wird es kein Endlager für Atommüll geben, auch das Ruhrgebiet scheidet aus. In Frage kommt dagegen Bayern – aber auch große Teile Ostdeutschlands.“

Auffällig: Neben einer Stadt und einer Bergbauregion werden hier offenbar zwei Bundesländer genannt: Bayern und Ostdeutschland. Aber zeigt denn der Artikel detaillierter auf, worum es sich bei den „großen Teilen Ostdeutschlands“ handelt? Nicht wirklich:

„Die BGE hat neben Bayern andere Salzstöcke in Niedersachsen wie auch Gebiete in Baden-Württemberg sowie große Teile Ostdeutschlands auf der Liste. Das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Heißt also: „Große Teile Ostdeutschlands“ umfassen nicht Mecklenburg-Vorpommern.

Aber vielleicht kann uns die Meldung von n‑tv konkretere Informationen geben?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern. Das Saarland, Teile von Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Argh! Aber vielleicht die Süddeutsche Zeitung?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern.“

Verdammt, auch nicht… Wie ist es mit dir, Deutsche Welle?

„Salzstöcke in Niedersachsen gelten weiter als grundsätzlich geeignet, ebenso Granitschichten in Bayern — das sich politisch zuvor gegen Atommüll verweigert hatte. Auch in Baden-Württemberg und weiten Teilen Ostdeutschlands finden sich geeignete Gebiete. Weil der Atommüll nicht in Erdbebenregionen lagern soll, scheiden das Ruhrgebiet und das Saarland mit ihren zahlreichen alten Bergwerken aus.“

Aber vielleicht kann die Zeit präzisieren?

„Die Teilgebiete finden sich deutschlandweit unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und in ostdeutschen Ländern wieder.“

Also auch nicht. Tagesschau, du informierst uns doch immer differenziert, oder?

„Diese sogenannten Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern.“

Was steckt dahinter?

Halten wir fest: Das bringt alles nichts. Schließlich zeigt ein genauer Blick, dass sich die oben genannten Artikel auf eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) mit eben jener Formulierung stützen. Zwangsläufig ist sie nicht, wenn man auf die heute veröffentlichte Karte schaut.

Teilgebiete für Atommüll-Endlager
Quelle: Pressemitteilung der BGE vom 28.9.2020

Ebenso könnte man etwa von Nord- oder Süddeutschland sprechen. Oder wie es die BGE in ihrer Pressemitteilung formuliert hat:

„Die Teilgebiete verteilen sich auf alle Bundesländer mit Ausnahme des Saarlands.“

Liest man diese Pressemeldung ebenso wie den kompletten Bericht, kann man übrigens feststellen: Der Begriff „Ostdeutschland“ kommt dort gar nicht vor. Die BGE beschreibt die Teilgebiete für mögliche Endlager stattdessen ganz nüchtern anhand der Bundesländer. Der Blick auf die „ostdeutschen Länder“ ist also in diesem Fall eine mediale Konstruktion – von der dpa ins Leben gerufen und danach unhinterfragt weitergetragen.

In den letzten Jahrzehnten wurde so häufig von „Ostdeutschland“ gesprochen, dass es leicht fällt, hier ein homogenes Gebiet auszumachen. Ganz im Gegensatz zu Nord- oder Süddeutschland – hier stehen konkrete Regionen und spezifische Bundesländer im Fokus. Dass dies etwa auch für Thüringen und Brandenburg gelten könnte, kann der mediale Blick offenbar nicht sehen.

Ost-West-Debatte beim Atommüll

Dabei beschränkt sich der Bezug auf Ostdeutschland beim Thema Atommüll nicht nur auf bloße Kartenbeschreibungen. So heißt es in einem Kommentar im Berliner Tagesspiegel:

„Wenn in einem Jahr die Bundestagswahl ansteht, könnte die Vorauswahl in der Endlagersuche ein heißes Wahlkampfthema werden. (…) Da ist Bayern, wo sich CSU und Freie Wähler 2018 in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, dass der Freistaat kein geeigneter Standort sei. (…) Dann sind da Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die sich immer wieder frei nach dem Motto äußern: „Überall, nur nicht hier“. Und aus dem Osten ist auch mal zu hören, man wolle kein Endlager für westdeutschen Atommüll bauen.“

Und schwupps, sind wir mittendrin in der Ost-West-Debatte. Da reicht offenbar auch ein ungefähres Munkeln („ist auch mal zu hören“), um auf die gleiche Stufe wie ein Koalitionsvertrag gestellt zu werden. Dabei wäre ein anderer Hinweis deutlich treffender gewesen: Westdeutscher Atommüll im Osten ist Realität.

Was wird nicht thematisiert?

In Sachsen-Anhalt befindet sich das Endlager Morsleben. Von 1971 bis 1991 lagerte die DDR hier radioaktive Abfälle ein. Aber auch danach ging es weiter – und das in deutlich größerem Umfang, wie der Spiegel 2019 berichtete:

„Während das nun wiedervereinigte Deutschland andere Industrieanlagen der DDR als hoffnungslos überaltert und nicht wettbewerbsfähig abwickelte, sollte das Atommüll-Endlager bestehen bleiben. Die DDR-Betriebserlaubnis galt weiterhin. Zwischen 1994 und 1998 lagerte die Bundesrepublik in nur vier Jahren deutlich mehr ein als die DDR in 20 Jahren, und es sollte ursprünglich noch viel mehr werden.“

Dann stoppte ein Gericht die weitere Einlagerung, seit 2005 läuft ein Verfahren zur Stilllegung (weitere Informationen bei der BGE).

Beim aktuellen Bericht der BGE gehört Morsleben zu den ausgeschlossenen Gebieten. Im Gegensatz zum 120 Kilometer entfernten Gorleben und seiner Protestkultur stand dieses Lager kaum im Zentrum der Aufmerksamkeit – vor allem nicht in einer gesamt- oder gar westdeutschen Perspektive. 

Dabei hätte es sich jetzt angeboten, von Morsleben zu sprechen. Nicht nur, um vorhandene Atom-Endlager in Deutschland zu thematisieren. Sondern auch, damit nicht nur von „ostdeutschen Ländern“ einerseits und ostdeutschen Befindlichkeiten andererseits die Rede ist.

Aktuelle DDR-Vergleiche #32 — #34: Corona, Gendern, Deutschland

Die munteren DDR-Vergleiche waren eine fruchtbare Serie auf diesem Blog. Doch seit einiger Zeit schien es, als hätten sie sich erledigt. Endlich — hatten die Redaktionen wohl gemerkt, dass die Welten damals und heute komplexer waren und sind. Und womöglich führte auch die Kritik nach Pegida, AfD und Co. zu einem Einsehen: So plump können wir mit dem Osten nicht mehr umgehen.

Doch weit gefehlt – es wird wieder lustvoll verglichen! Aber wieso der neue Aufbruch in eine neue Ära der Assoziationen? Schauen wir sie uns doch an!

DDR-Vergleich #32 – Corona-Maßnahmen und Corona-Kritik

Arnold Vaatz, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, veröffentlichte Anfang August einen Gastbeitrag beim Blog „Tichys Einblick“. Darin meint er: „Von Monat zu Monat lernt man mehr von der DDR.“ Was das aus seiner Sicht bedeutet:

  • „Los ging es mit Einführung der Maskenpflicht, nachdem es lange hieß, Masken nützten nichts – so lange es keine zu kaufen gab. In der DDR streute die Partei: Bananen seien gar nicht so gesund.“
  • „Die dreiste Kleinrechnung der Teilnehmerzahlen der Demo vom 1. August durch die Berliner Polizei entspricht in etwa dem Geschwätz von der „Zusammenrottung einiger weniger Rowdys“, mit der die DDR-Medien anfangs die Demonstrationen im Herbst 1989 kleinrechneten.“
  • „Der gefährlichere Versuch, die Straßen leerzukriegen, war damals die Unterstellung, die Demonstranten handelten im Auftrag von CIA und BND. Der heutige Versuch, die Straßen leerzubekommen, besteht in der Warnung: Pass auf, mit wem du demonstrierst.“

Daran wurde öffentlich Kritik geäußert. So unterzog der Berliner Tagesspiegel den einzelnen Punkten einen Faktencheck und meint:

„Die abwegigen Vergleiche des stellvertretenden Unions-Fraktionsvorsitzenden werfen ein Schlaglicht darauf, wie manch einstiger DDR-Bürgerrechtler sich heute mitunter schwer damit tut, sich nach rechts abzugrenzen: Eine vermutete ‚Mainstream‘-Meinung wird mit der verordneten Meinung in der DDR verglichen und Sympathie für die vermeintliche Gegenposition bekundet.“

Auch Antonie Rietzschel von der Süddeutschen Zeitung kritisiert den Vergleich:

„Wenn er nun DDR-Vergleiche zieht, verharmlost er nicht nur das Unrecht, das ihm und vielen anderen angetan wurde. Er verleiht der Erzählung von Pegida, AfD und Neuen Rechten auch neues Gewicht. [… ] Dabei ist Widerspruch wichtig, vor allem gegen die Behauptung, es herrschten heute diktaturähnliche Verhältnisse. Das setzt aber voraus, dass sich [der aus Baden-Württemberg stammende CDU-Bundestagsabgeordnete Axel] Fischer und andere westdeutsche Politiker mit der Geschichte und gesellschaftlichen Dynamiken auseinandersetzen. Leider ist das auch 30 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch nicht selbstverständlich.“

DDR-Vergleich #33 – Gendergerechte Sprache

Ende August wurde die Schriftstellerin Monika Maron vom Spiegel interviewt. Zum Aufmacher wurde ihre Kritik an gendergerechter Sprache gemacht, die sie an die DDR erinnere. Es rege sie auf, wenn Sprachregelungen wie gendergerechte Formulierungen von Behörden, Medien und Unis verordnet würden.

Das ist nicht das erste Mal, dass sie geschlechtergerechte Sprache kritisiert: Beim Aufruf „Schluss mit Gender-Unfug!“ gehörte sie 2019 zu den Erstunterzeichnern (sic!).

In einem Text für die NZZ ordnet sie ihre Sprach-Kritik außerdem in einen anderen Zusammenhang ein: „Schon die Frage, ob der Klimawandel wirklich nur menschengemacht ist oder wie viel Einwanderung eine Gesellschaft verträgt, ohne schwerwiegenden Schaden zu nehmen, oder ob dieses Genderkauderwelsch wirklich den Frauen nutzt, kann ausreichen, um rechter Gesinnungsart verdächtigt zu werden.“ In dem Beitrag aus dem Jahr 2019 geht sie außerdem detailliert auf Vergleiche mit der DDR ein:

„Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, dass ich juristisch belangt werden könnte.

Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.

Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder sogar zu zerstören.“

Von Monika Maron ist kürzlich der Roman „Artur Lanz“ erschienen.

DDR-Vergleich #34 – Deutschland

Ebenfalls im August erschien ein Text auf Spiegel.de mit dem Titel „Wie Angela Merkel heimlich den Sozialismus eingeführt hat“.

Man mag einwenden, der Text sei nicht ernst gemeint. Vielleicht, weil schon der Beginn reichlich bekloppt ist: 

„Seid bereit, immer bereit: Coca-Cola und andere Konzerne werben seit Corona, als wären ihre Chefs Thälmann-Pioniere und die Slogans im Politbüro erdacht worden. Eine fiktive Verschwörungstheorie mit ganz realen Folgen.“ 

Vielleicht sollte auch stutzig machen, dass der Text als Glosse gekennzeichnet ist.

Allerdings: Dieser Text wird auch für bare Münze genommen – „Merkel-Sozialismus: ‚Spiegel‘-Autor fühlt sich durch Werbe-Parolen großer Konzerne an DDR erinnert“. Der entsprechende Artikel der Epoch Times nähert sich den Inhalten der Glosse entsprechend ernsthaft. Und Spaß wird so schnell zu Ernsthaftigkeit.

Wem nutzen diese Vergleiche?

Auf der inhaltlichen Ebene fällt auf: Es geht um Verbote und Vorschriften – offenbar ein geeignetes Futter für Vorwürfe aus Sicht derjenigen, die diese Vergleiche ziehen. Nur: Bei näherer Betrachtung ist nicht viel an diesen Vorwürfen dran. Es handelt sich um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, die weit weg sind von staatlich verordneter Zensur und den Maßnahmen der Stasi.

Was aber auch auffällt:

Die Einordnung des Blogs „Tichys Einblicke“ in den Rechtspopulismus wird immer wieder diskutiert.

Essays von Monika Maron wurden zuletzt vom Verlag Antaios herausgegeben, der einem Netzwerk der Neuen Rechten zugeordnet wird.

Die „Epoch Times“ wird von Anhänger*innen der AfD gerne gelesen.

Im größeren Zusammenhang gibt es also neben all diesen Vergleichen eine weitere DDR-Referenz: AfD und Pegida arbeiten immer wieder mit Bezügen zur DDR. Durch letztere wurde die Losung „Wir sind das Volk“ aufgegriffen – was etwa durch DDR-Bürgerrechtler kritisiert wurde. Und die AfD nutzte im letzten Jahr das Wahlkampfmotto „Wende 2.0“

Es scheint, die DDR-Vergleiche kommen nicht mehr rein zufällig: Sie sind Teil einer politischen Agenda. Und wie schon Cato durch ständige Wiederholung darauf abzielte, dass Rom Karthago erobern solle, so sollen uns die wiederkehrenden DDR-Vergleiche glauben lassen, das sie stimmen. Umso wichtiger ist es, dass sie fundiert eingeordnet werden. Und dass Medien kritisch und differenziert die entsprechenden Debatten begleiten.

8. Mai: Der westdeutsche Blick ist eine Niederlage

Am 20. Juli hielten Antje Vollmer und Philipp von Schulthess, Enkel von Stauffenberg, eine Rede zum Hitler-Attentat 1944. Ihr Kniff: Sie deuten dieses Attentat als einen „Tag der Befreiung“. Sie stellen diese Deutung in eine Reihe mit einem anderen „Tag der Befreiung“, dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie nehmen dabei Bezug auf die Weizsäcker-Rede von 1985:

Vor 35 Jahren hat Richard von Weizsäcker in seiner großen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Interpretation geprägt, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung. Das war damals ein mentaler Durchbruch, denn viele hatten bis dahin den 8. Mai nur als Tag der Niederlage begriffen.

Berliner Zeitung, 21. Juli 2020

Interessant sind dabei zwei Dinge: Das Wort „viele“ ist ziemlich unpräzise und die Sicht der DDR – Weizsäcker vertrat ja die BRD – kommt nicht vor. Holen wir das doch nach.

In der DDR war der „Tag der Befreiung“ Teil der offiziellen Erinnerungskultur. Er wurde ab 1950 begangen, teilweise als Feiertag. Die in der Rede angesprochene Sichtweise – der „Tag der Niederlage“ – war eine westdeutsche Sicht, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung ausführt.

Dieses Verständnis ist übrigens heute noch problemlos sagbar – so war eine Rede der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 2013 überschrieben mit „Der 8. Mai war nicht für alle Deutschen ein Tag der Befreiung“. Der Grund: Die deutsche Teilung und das politische System der DDR. Das sind die gleichen Aspekte, die auch im alten Westdeutschland als Begründung für das Sprechen von der „Niederlage“ angeführt wurden. Doch verharmlost das nicht die Verbrechen Deutschlands während der NS-Zeit? Öffentliche Debatten dazu gibt es nicht – der westdeutsche Blick gilt offenbar immer noch als legitim.

Dass das höchste Staatsamt der Bundesrepublik erst 35 Jahre nach der DDR von der Niederlage spricht, kann man also als „Interpretation prägen“ bezeichnen, wie es Antje Vollmer und Philipp von Schulthess tun. Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen. Eine ostdeutsche etwa und es wie Christoph Dieckmann formulieren: „Endlich gesteht’s der Westen!“

Corinna Harfouch, ein „DDR-Star“?

Corinna Harfouch, ein

Es ist ein Trend, der zum Glück zurückgegangen ist: Menschen mit „DDR-Schauspieler“, „DDR-Autorin“ oder einem ähnlichen Etikett zu bezeichnen. Bei den Nachrufen auf Achim Mentzel haben wir gesehen, wie viel differenzierter das mittlerweile geworden ist. Umso mehr fällt auf, wenn es dann doch wieder passiert. Und wenn das Etikett immer weniger passt. Wie bei der Schauspielerin Corinna Harfouch: Sie wurde nun vom Nordkurier als „DDR-Star“ bezeichnet. Wie kommt das?

36 Jahre alt war Corinna Harfouch im Jahr 1989. Ihr Werdegang in der DDR bis dahin: Von 1978 bis 1981 studierte sie Schauspiel, sie spielte unter Heiner Müller an der Volksbühne und hatte 1988 die erste Titelrolle in einem Spielfilm mit dem Titel „Die Schauspielerin“. 

Ihre DDR-Karriere dauerte also elf Jahre — und das auch nur, wenn man ihre Ausbildungszeit mit einrechnet. Acht Jahre sind es, wenn man die Bezeichnung „Schauspielerin“ erst ab dem Abschluss des Studiums ansetzen möchte.

Karriere und Auszeichnungen nach der Wende

Nach 1989 setzte sie Karriere in Gesamtdeutschland fort: Sie spielte Theater in Berlin, 1997 wurde sie zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Auch ihr filmisches Schaffen wurde ausgezeichnet. 2001 erhielt sie den Deutschen Fernsehpreis für die Darstellung der „Vera Brühne“. In dem Doku-Spielfilm ging es um einen realen Kriminalfall am Starnberger See in den 1960er Jahren, im tiefsten Westdeutschland also. In „Der Untergang“ von 2004 spielte sie Magda Goebbels. Der Film um die letzten Tage im Führerbunker — einem grundlegend deutschen Thema also — war für den Oscar nominiert.

Neben vielen weiteren Filmen spielte sie auch in den Verfilmungen von Bibi Blocksberg (2002 und 2004), einer wohl ur-westdeutschen Hörspielreihe.

Nun wurde verkündet, dass Corinna Harfouch neue Kommissarin im „Tatort“ werden wird, der großen Krimi-Institution aus der alten Bundesrepublik.

Corinna Harfouch als „DDR-Star“

Zur Erinnerung: In eben jener Meldung zu ihrer neuen Rolle bezeichnet der Nordkurier Corinna Harfouch als „DDR-Star“.

30 Jahre im vereinten Deutschland mit ausgezeichneten Rollen zu gesamt- und westdeutsche Themen reichen offenbar nicht aus, um gegen höchstens elf Schauspieljahre in der DDR anzukommen. Zumindest für den Nordkurier ist dies offenbar die entscheidende Lebensphase der künftigen Tatort-Kommissarin.

Warum die westdeutsche Mitte im Kalten Krieg feststeckt

Wenden wir uns einmal einem Blick auf Ostdeutschland zu, bei dem zunächst gar nicht klar ist, dass er ein zutiefst westdeutscher Blick ist. Und gerade durch diese Unsichtbarkeit gefährlich sein kann. Es geht um die „Mitte“.

Gerade bei den Versuchen zur Regierungsbildung in Thüringen wird immer wieder davon gesprochen: von einer „Politik der Mitte“ mit einem „Kandidaten der Mitte“ für eine „Mitte der Gesellschaft“. Auch die Medien sind mittendrin in der Rhetorik der Politik und wiederholen die Phrasen über eine „Mitte“, anstatt zu schauen: Stimmt das denn? Und was hat das mit Ostdeutschland zu tun?

Die „Mitte“ in Westdeutschland

Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) schrieb Chefredakteur Matthias Koch einen Beitrag rund um die „Mitte“ in Deutschland. Tatsächlich aber kommen vor allem Anekdoten vor, die aus westdeutschen Erfahrungen stammen: 

Jahrzehntelang pflegte Deutschland einen Mitte-Kult. Willy Brandt gab die launige Parole aus, die SPD müsse die „Partei des donnernden Sowohl-als-auch“ sein. Die SPD wollte nur ja nicht als zu links, die CDU nur ja nicht als zu rechts erscheinen. Und den meisten Szenenapplaus bekam, wer elegant ins jeweils andere Lager hinüberzugreifen verstand.

Heute vor 30 Jahren: Thüringen feiert die Mitte, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 20.02.2020

CDU und SPD: In Westdeutschland konnten die sogenannten Volksparteien nicht nur große Stimmen auf sich vereinen, sie fielen auch in Zeiten des wirtschaftlichen und politischen Erfolgs der BRD. Wie selbstverständlich diese beiden Parteien mit dem Begriff der „Mitte“ verknüpft sind, schrieb die taz im letzten Jahr: „Lediglich Union und SPD müssen sich um die Mitte streiten“, setzt aber auch hinzu: „Eine Partei, die von sich selbst behauptet, die Mitte abzubilden, lohnt es sich infrage zu stellen.“

Indes, die Begrifflichkeit kann bereits auf eine längere Karriere zurückblicken. So schrieb die Zeit 1976: „Die Bundesrepublik läßt sich nur aus der Mitte regieren“. 2001 blickte der Spiegel zurück: „Politik der Mitte – das war für die Sattelzeit der bundesdeutschen Gesellschaft (…) nicht primär eine Losung veränderungs- und experimentierängstlicher Spießer, sondern erfahrungsgesättigte historische Konsequenz aus den europäischen Bürgerkriegen und Pathologien der Extreme in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.“

Die aktuelle „Politik der Mitte“ geht zurück auf Angela Merkel, die dies 2001 als Kerngedanken in einem Beitrag formulierte, der in der Welt erschienen ist.

Auch wenn eine ostdeutsche Kanzlerin den Begriff zum Kern ihres politischen Anspruchs machte: „Die Politik der Mitte“ ist vor allem ein starkes Element der westdeutschen Geschichte.

Die „Mitte“ in Ostdeutschland

Ganz anders sieht das mit Blick auf das heutige Ostdeutschland aus: Die SED regierte 40 Jahre ohne Wahl. Ihr Alleinvertretungsanspruch war in die Verfassung geschrieben. Quasi eine festgeschriebene Partei der Mitte, wenn man so will. Gleichzeitig aber driftete die Realität davon, der wirtschaftliche und gefühlte Abstand zum Westen vergrößerte sich. Von einer „Mitte“ war aber keine Rede, eher wovon man sich abgrenzen wollte: Dem „Klassenfeind“. Der kam 1989/90 dann auch in die DDR. 

Der bereits erwähnte RND-Text setzt eine Rede von Helmut Kohl am 20.02.1990 in Erfurt als Ankerpunkt, als erste ostdeutsche Erfahrung mit der westdeutschen „Mitte“:

Kohls Kritiker, klar, tippten sich damals einmal mehr an den Kopf. Der Kanzler, sagten sie, fahre jetzt durch Ostdeutschland und mache den Menschen unhaltbare Versprechen. Dabei wisse Kohl ja selbst nicht genau, wie dieses oder jenes geregelt werden könne. […] Dennoch lag Kohl goldrichtig

Heute vor 30 Jahren: Thüringen feiert die Mitte, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 20.02.2020

Man könnte auch sagen: Kohl führte mit unhaltbaren Versprechungen die Politik der SED weiter.

Je nach Blickwinkel liegen SED und CDU ohnehin nicht weit auseinander. Ja, in ihrem Selbstverständnis war die SED sozialistisch, also „links“ nach vorherrschender Deutung. Dazu passt, dass die Rechtsnachfolgerin der Partei „Die Linke“ heißt. Andererseits stellte Linke-Politikerin Halina Wawzyniak 2017 fest: „Im Kern war die SED eine rechte Partei. Autoritär, nationenbezogen, ausgrenzend von allem was nicht ‚normal‘ war.“ Und: Auch die CDU kann aufgrund ihrer Mitglieder ein Stück weit als SED-Nachfolgepartei gesehen werden. Im Osten Deutschlands ist und war sie häufig Regierungspartei, in Thüringen etwa durchgängig bis 2014. 

Mit einer Traditionslinie von einer sozialistischen Einheitpartei sowohl zu einer christlich-demokratischen als auch zu einer linken Partei muss die Definition einer „Mitte“ in Ostdeutschland deutlich anders als in Westdeutschland vonstatten gehen. Man muss sich vielmehr fragen: Passt dieses Modell hier überhaupt?

Was ist diese „Mitte“ überhaupt? 

Zugegeben: Wenn es um die Frage der „politischen Mitte“ geht, könnte man sich den differenzierten Blick auf Ost und West komplett schenken. Schließlich ist das Hufeisenschema – eine der Kerntheorien hinter dem Links-Rechts-Mitte-Spektrum – alles andere als differenziert. n‑tv.de verweist darauf, dass das Modell als überholt und zu eindimensional gelte, um die politische Realität zu beschreiben. Im Beitrag kommt auch Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Hajo Funke von der Freien Universität Berlin zu Wort: 

„In Deutschland ist [die Hufeisentheorie] unter anderem verbunden mit dem rechtskonservativen Theoretiker Eckhard Jesse, der aus einem Kalten-Kriegs-Verständnis der 80er- und frühen 90er-Jahre heraus argumentiert und den Rechtsextremismus wie auch die AfD relativiert. Dieses Konzept tut so, als sei es ganz neutral, tatsächlich richtet es sich aber vor allem gegen die Linke. Es kann die Unterschiede zwischen einer pragmatischen Linken, einer extremen Linken und einer gewaltbereiten Linken nicht erfassen.“

Extremismus — links ist nicht gleich rechts, n‑tv.de, 19.02.2020

In der Mitte des Kalten Krieges

Deutlich werden also zwei Dinge: Das Hufeisenmodell und damit die Festlegung einer wie auch immer gearteten Mitte sind rechtskonservative Konzepte. Sie sind aber vor allem auch westdeutsche Erklärmodelle aus dem Kalten Krieg. 

Die „Mitte“ ist also ein Begriff, der eine westdeutsche Normalität beschreibt. Der Osten Deutschlands muss so zwangsläufig als Abweichung auftauchen. Gerade bei den aktuellen Entwicklungen in Thüringen zeigt sich aber auch, welche Folgen es haben kann, wenn ausschließlich eine westdeutsche Erklärungsfolie angelegt wird: Sie macht die Akteur*innen blind für all die Dinge, die in dieser Folie nicht vorgesehen sind. Etwa, wenn sie eine Mitte suchen, wo es sie nicht gibt. Und die Mitte nicht dort sehen, wo sie vorhanden ist. 

So lange Medien und Politik von einer „Mitte“ sprechen, die in den verschiedenen Teilen von Deutschland unterschiedlich gilt, stecken Argumentationen und Deutungen im Kalten Krieg fest.

Welch erfrischend neue Blickwinkel möglich sind, wenn man sich vom festgefahrenen Ballast löst, zeigt beispielsweise Martin Machowecz, Leiter des Leipziger Büros der Zeit. Er twitterte am 14. Februar mit Blick auf eine Umfrage zur Hamburger Bürgerschaftswahl:

Bündnis 90: Bedeutend gefeiert und prominent ignoriert

Stell dir vor, du bist als Journalist auf einer Feier und weißt anschließend nicht, was gefeiert wurde. Klingt seltsam? Leider ist dies an diesem Wochenende mehrfach passiert. Denn die Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ beging am 10. Januar 2020 einen Doppelgeburtstag — 40 Jahre „Die Grünen“ und 30 Jahre „Bündnis 90“. Und einige Medienberichte haben einen Teil der Feier übersehen.

Zuvor ein kurzer Exkurs in die Geschichte (ausführlich bei Wikipedia): Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Bundespartei „Die Grünen“ gegründet. 1990 wiederum bildeten verschiedene Oppositionsgruppen in der DDR die Listenvereinigung „Bündnis 90“. Drei Jahre später schlossen sich beide Gruppen zusammen, die Partei heißt seitdem offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“.

Im Januar 2020 nun also das große Jubiläumsfest, die großen Medien berichten ausführlich. Allerdings scheinen sie von ganz unterschiedlichen Festen zu schreiben. Und von ganz unterschiedlichen Parteien.

Die Problematik der zweiteiligen Partei wird allein von Jana Hensel benennt, in der Zeit schreibt sie:

Nicht nur der 40. Geburtstag der West-Grünen wurde begangen, sondern auch der 30. Geburtstag von Bündnis 90, dem ostdeutschen Vorläufer der Partei, der in der Vergangenheit gern mal vergessen wurde.

Jana Hensel: Happy Birthday, Gegenwart, Die Zeit, 11.01.2020

Weitere Erläuterungen zu dieser Problematik oder zur Bedeutung von Bündnis 90 gibt sie allerdings nicht.

Die Süddeutsche Zeitung stellt die Geschichte der Partei ausführlich dar. Selbst die Geschichte der Grünen in der DDR bekommt einen eigenen Abschnitt — so detailliert ist sonst kein Medium bei diesem Thema. Constanze von Bullion schlägt in einem weiteren Artikel in der Süddeutschen eine Verbindung zwischen der Partei und der deutsch-deutschen Geschichte:

Ein Doppelgeburtstag ist das, der ins Geschichtsbuch führt. Keine deutsche Partei hat sich in den letzten Jahrzehnten so vielen Häutungen unterzogen wie die Grünen, und der Staat häutete sich mit, notgedrungen.

Constanze von Bullion: Langer Lauf zum deutschen Staat, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2020

Bedeutung von Bündnis 90

Auch andere Artikel sehen die Verbindung aus Bündnis 90 und Grünen als bedeutungsvoll an. So schreibt etwa Sascha Lehnartz in Die Welt:

Dass die Partei in die Mitte der Gesellschaft gerückt sei, sei nicht zuletzt dem Zusammenschluss mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 zu verdanken

Sascha Lehnartz: Eine Mahnung von Grumpy Opa Joschka an die stürmische Jugend, Die Welt, 11.01.2020

Und Stephan-Andreas Casdorff meint im Tagesspiegel:

Dass die Grünen zu einer politischen Institution werden konnten, haben sie der Wiedervereinigung zu verdanken. Ohne die und eine nachfolgende Vereinigung mit Bündnis 90 aus dem Osten gäbe es sie heute womöglich gar nicht mehr. Oder nicht so. (…) Die Bürgerbewegung der DDR war gewissermaßen ihre Rettung.

Stephan-Andreas Casdorff: Dem Osten sei Dank!, Tagesspiegel, 12.01.2020

Die DDR-Oppositionellen haben also nicht nur einen Staat zu Fall gebracht, sondern auch die Grünen gerettet! Das ist in dieser Lesart überraschend deutlich und wäre vor ein paar Jahren wahrscheinlich so noch nicht möglich gewesen.

Bündnisgrüne: Konflikte und Ausblicke

Wo aber steht diese Partei aus zwei Herkünften heute? Das Magazin Cicero sieht eine westdeutsche Dominanz:

Doch trotz aller Verneigungen (…) kann auch an diesem Abend auch der Auftritt der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne Birthler, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei westdeutsch dominiert ist

Moritz Gathmann, Bastian Brauns: Piep, piep, piep, Cicero, 11.01.2020

Diesen Blick innerhalb hatten wir auf einwende bereits 2018 als „Wessi-Brille“ thematisiert. Beim Jubiläumsfest gerät diese Fokussiert aber in Bewegung, das beobachtet Helene Bubrowski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Auch Marianne Birthler, die einst Sprecherin von Bündnis 90 und zuletzt Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen war, hatte noch einen Wunsch: Die Partei möge sich in „Bündnisgrüne“ umbenennen. Viele Vertreter der Bürgerbewegungen aus der DDR (…) stören sich daran, dass im normalen Sprachgebrauch der volle sperrige Name „Bündnis 90/Die Grünen“ oft zu „Die Grünen“ verkürzt wird und der Anteil der Ostdeutschen untergeht. Beide Parteivorsitzenden ließen am Freitagabend deutliche Sympathien für diesen Vorstoß erkennen.

Helene Bubrowski: Die Grünen genießen ihren Albtraum, FAZ, 11.01.2020

Valerie Höhne vom Spiegel fällt die Bezeichnung ebenfalls auf — und wagt einen Blick in die Zukunft:

Der Begriff „Bündnisgrüne“ fällt auf, er wird an diesem Abend mehrfach gebraucht. (…) Vielleicht ist es der erste Schritt, den umständlichen Parteinamen Bündnis 90/Die Grünen in einen einfacheren umzuwandeln, in einen, der dem ostdeutschen Bündnis im Namen einen ebenbürtigen Platz einräumt

Valerie Höhne: Trau‘ keinem über 40, Der Spiegel, 11.01.2020

Prominent ausgeblendet

Ohne Bündnis 90 würde es die Grünen nicht mehr geben. Eine neue Bezeichnung für die Partei wird etabliert. 

Das sind bedeutende Erkenntnisse aus einer Jubiläumsfeier, an der eine journalistische Berichterstattung nicht vorbei kommen kann, oder?

Doch! Schließlich wurde 2019 ausreichend auf Ostdeutsche und ihre Befindlichkeiten geschaut — jetzt ist mal eine gute westdeutsche Partei aus guter alter westdeutscher Sicht dran!

So verkürzt der Stern den Zusammenschluss auf eine Umbenennung, das Twix unter den Parteien also:

1993 hatten sie sich — trotz heftiger Konflikte — zusammengeschlossen und heißen nun seitdem Bündnis90/Die Grünen.

Von der Öko-Opposition zur Regierungspartei: Wie sich die Grünen verändert haben, stern, 10.01.2020

Der Bonner General-Anzeiger verkürzt weiter und schmeißt sowohl Bündnis 90 als auch den Zusammenschluss von 1993 aus der Wahrnehmung:

Das war die Lehre der verlorenen Bundestagswahl von 1990. Wie keine andere Partei hat sie sich danach gewandelt.

Helge Matthiesen: Eine Erfolgsgeschichte, General-Anzeiger, 10.01.2020

Die Augsburger Allgemeine, die tageszeitung und Die Welt schweigen sich über die ostdeutschen Aspekte der Partei gleich komplett aus. Eine 45-minütige Dokumentation der ARD findet darüber auch auch kein Wort. (Danke an Robert Heinrich für den Hinweis.)

Sensible Sichtbarmachung

Nun ließe sich vortrefflich streiten: Welche Rolle spielt die DDR-Opposition denn heute noch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen? Welchen Stellenwert hat dieser Zusammenschluss im Vergleich zu den ökologischen Ansprüchen der Partei? Lässt sich die Partei überhaupt als eine west-ostdeutsche Partei verstehen? 

Das alles sind und wären wichtige Fragen, die in Medienberichten im doppelten Jubiläumsjahr – 40 Jahre „Bündnis90/Die Grünen“ und 30 Jahre Wiedervereinigung – unbedingt gestellt werden müssten. Denn gerade durch die ausführliche Berichterstattung über den Osten im letzten Jahr ist deutlich geworden: Es kann nicht so weiter gehen wie bisher.

Es ist also gut, dass der mediale Blick auf diese Parteifeier so unterschiedlich ist. Denn er zeigt, dass die Wahrnehmung ostdeutscher Belange sensibler wird. Und dass noch viel zu tun ist.

Tag der deutschen Einheit 2019 in den Medien: 9 Thesen

Tag der deutschen Einheit 2019 in den Medien: 9 Thesen

30 Jahre Mauerfall. Seit Monaten wird in den Medien das Wesen Ostdeutschlands ergründet, am 1. September wurde in Brandenburg und Sachsen gewählt, Ende Oktober geben die Menschen in Thüringen ihre Stimme ab. Ostdeutschland stand selten so im medialen Fokus.

Wer aber am 2. Oktober vor dem Zeitungskiosk stand, musste etwas suchen, das Thema des nächsten Tages zu finden: Vielen Zeitungen war der Tag der Deutschen Einheit offenbar nicht wichtig genug, um ihn auf die Titelseite zu heben.

Wir schauen uns deshalb die überregionalen Zeitungen an, bei denen es der 3. Oktober auf die Titelseite geschafft hat. Welche Themen setzen sie und wie haben sie diese umgesetzt? Und abschließend geben wir einen Überblick, was sich daraus lernen lässt. Für die deutsch-deutsche Berichterstattung zum zentralen deutsch-deutschen Thema.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FAZ: Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit 2019
FAZ, 2.10.2019

Vor fünf Jahren hat es eine Banane auf die Titelseite der FAZ geschafft, diesmal war die Panzerparade zum 70. Jahrestag Chinas wichtiger. Trotzdem beschäftigen sich gleich zwei Artikel auf dem Titel mit der deutschen Einheit.

Mut auf der Titelseite

Der erste Kommentar beschäftigt sich dem „Mut, der die Deutschen verbindet“. Mut ist auch die große Klammer des Textes, vom speziellen Mut in der DDR hin zum Mut, das aktuell Trennende zu überwinden. Das liest sich recht staatstragend und das ist kein Wunder: „Mut verbindet“ ist das Motto der diesjährigen Einheitsfeier in Kiel. Und so hat man das Gefühl, der Text von Jasper von Altenbockum könnte auch als Rede bei den Feierlichkeiten gehalten werden. Inhaltlich spannt er entsprechend den Bogen von der „Wiedervereinigung im Stil Helmut Kohls“ über die Grundfrage in Deutschland und Europa (Wie soll man mit Feinden der Demokratie umgehen?) hin zu einer Rede von Joachim Gauck, die ausführlich zitiert wird. Zu denken gibt der Kommentar aber auch: 

„Was ist die Einheit, wenn gar nicht zusammenfinden soll, was nicht zusammengehört?“

Auch der zweite Artikel dreht sich um das Aufsatzthema Mut, diesmal ist es „Mut, der Zäune überwindet“. Und während darüber staatstragende Worte gefunden wurden, sind es hier pathetische Worte eines Motivationstrainers: „Mut, nicht Verdrossenheit, kann Zäune überwinden und Mauern zum Einsturz bringen. Und Freiheit erringen.“

Ganz gut mit Autobahnanbindung

Einen ganz anderen Ansatz findet die Reportage „Wer weg ist, bleibt meist weg“ aus dem Ressort Politik: Timo Steppat begleitet das Klassentreffen des Abijahrgangs 2004 aus dem thüringischen Hermsdorf. Gleichzeitig zeichnet der Text nach, was Bevölkerungsschwund für eine ostdeutsche Kleinstadt bedeutet. Der Text bringt immer dann die spannendsten Erkenntnisse, wenn er die Protagonisten zu Wort kommen.

Der Autor dagegen hält sich meist im Hintergrund. Wenn er dann doch einmal urteilt, dann weiß man, warum die Beobachtung der Menschen die besseren Stellen sind. So heißt es an einer Stelle: 

„Hermsdorf steht ganz gut da. Es gibt eine Autobahnanbindung, in einer halben Stunde ist man in Jena; es gibt einen Bahnhof, von dem aus man mit dem Zug in gut 50 Minuten in Erfurt ist. (…) Den einen Arbeitgeber für alle gibt es nicht mehr. (…) Es ist komplizierter geworden.“ 

Wir erinnern uns: Der Absatz begann mit den Worten „Hermsdorf steht ganz gut da“.

„Noch nicht einmal klar, was überhaupt gefeiert wird“

Im Feuilleton ist die deutsche Einheit ebenfalls ein Thema – in diesem Fall mit dem Gastbeitrag „Dreißig Jahre friedliche Revolution und keiner geht hin“ vom ostdeutschen Forscher Hagen Findeis. Er stellt fest, dass es nicht gelungen sei, ein erinnerungskulturelles Narrativ über die DDR zu etablieren, dass für Mehrheit anschlussfähig wäre. „Ja, es ist noch nicht einmal klar, was überhaupt gefeiert wird.“

Die Ostdeutschen seien noch auf der Suche nach einer angemessenen Form des Gedenkens an ihre Geschichte. Die offiziell eingerichteten Stellen und die öffentlichen Diskussionen gingen nämlich an der Lebenswelt von Ostdeutschen vorbei. Findeis plädiert deshalb dafür, dass Ostdeutsche ihre Verschiedenartigkeit gegenseitig wahrnehmen und respektieren sollten.

Ost-Filme endlich ästhetisch-erzählerisch

In der Rezension zum Fernsehfilm „Wendezeit“ freut sich Oliver Jungen, dass in Filmen über die DDR und ihr Ende „ästhetisch-erzählerische Kriterien wieder die Oberhand über Moral, Geschichtsvermittlung und Sensationsklamauk gewonnen haben“.

Oder weniger akademisch ausdrückt: Toll, dass DDR-Filme jetzt vor allem gut aussehen und eine gute Geschichte erzählen. Interessanterweise beginnt Jungens Aufzählung früherer Filme mit „Good Bye Lenin!“. Dieser Trend ist schon seit mehreren Jahren zu beobachten: Der Blick auf Ost-Filme beginnt mit westdeutschen Regisseuren, frühere Filme wie „Sonnenallee“ haben da keinen Platz.

„Geld entscheidet“

Im Ressort Wirtschaft gibt es ein Interview mit Klaus Brodführer, langjähriger Bürgermeister von Schleusinger in Thüringen. Die Rubrik erklärt sich, wenn man sich diese Auswahl von Brodführer-Zitaten anschaut:

  • Die Einheit bedeutet für mich Freiheit – aber Freiheit mit Leistung.“
  • „Wir haben die Stadtsanierung geschafft und sind schuldenfrei“
  • „Geld entscheidet“
  • „Andere Städte hatten in der Zeit fünf verschiedene Bürgermeister, einer hat mehr Schulden gemacht als der andere.“
  • „Die DDRler haben wenig verdient, der Stadt hat (…) bezahlt. Das war aber nicht umsonst. Uns ist das Geld vorher genommen worden und damit auch unsere Freiheit. Heute will ich das Geld selbst ausgeben“

Süddeutsche Zeitung

Süddeutsche Zeitung: Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit 2019
Süddeutsche Zeitung, 2.10.2019

Ein Trabant im atmosphärisch-roten Schatten blickt von der Titelseite der „Feiertagsausgabe“, daneben heißt es „In der Ostkurve“. Soviel vorab: Die Fußball-Metapher klärt sich nicht auf.

Die Gruppe dazwischen

Als wäre ein Trabi nicht genug, wird man auf der Seite des Titelthemas von zwei Ampelmännchen begrüßt. Puh.

Glücklicherweise ist der Artikel „Ohne die Grenze“ von Cornelius Pollmer  umso erhellender. Es ist ein pointiertes Plädoyer gegen simple Erklärungen durch die einseitige Interpretation von Statistiken oder einfache Positionen. Schlechtredner und Schönredner gäbe es, aber am interessantesten sei die Gruppe dazwischen mit differenzierten Positionen.

„Es gibt in dieser Gruppe schließlich die pragmatische Ansicht, das doch ein Deutschland möglich sein müsse, das seine Zusammengehörigkeit schätzt, ohne fortbestehende Unterschiede wegreden oder verschweigen zu müssen.“

„Die Menschen hier sind nicht anders als im Westen“

Für ein Interview spricht die SZ mit Axel Noack, dem ehemaligen Bischof von Magdeburg. Er fragt etwa: „Wer hört sich die Geschichten derer an, die nicht so gut angekommen sind?“ und bedauert: „Die Menschen hier sind nicht anders als im Westen, aber sie leben in einer anderen Zusammensetzung. Das wird viel zu wenig thematisiert.“

Benachteiligung im Westen

Ganz überraschend gibt es noch einen Text über die Stadt Hagen im Ruhrgebiet. Richtig: Westdeutschland ist auch Teil der deutschen Einheit, auch wenn die bisherigen Texte bislang wie selbstverständlich um Ostdeutschland gekreist sind. Warum eigentlich? Der Blick auf den Westen täte gut, um ein vollständiges Bild von Deutschland zur Einheit zu bekommen.

Der Text „Was den Neid schürt“ zeigt nämlich, wie nüchtern und erhellend ein Artikel über die wirtschaftliche Situation einer Region ausfallen kann, wenn eben genau diese Wirtschaft im Fokus steht. Und nicht noch soziologische, psychologische und weitere Erklärungen bemüht werden, wie das so oft bei Texten über Ostdeutschland der Fall ist.

Warum die DDR dem Westen leblos vorkam

Das Porträt „Der Kronzeuge“ schließlich beschreibt wie Ulrich Schwarz seine Zeit in der DDR verbracht hat. Er war DDR-Korrespondent des Spiegel – und der einzige West-Journalist bei der Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig.

Es ist zwar schade, dass die Menschen aus der DDR so nur zu beobachteten Demonstranten (und so zum beobachteten Objekt) oder zur allgegenwärtigen Stasi werden —  erhellend für den Blick auf den Osten ist das Porträt aber allemal. So habe Schwarz darauf geachtet, dass seine Quellen in den Artikeln nicht zu orten waren. Die Folge: 

„Deswegen lasen sich all die Texte so leblos, so unkonkret – so wie dem Westen die gesamte DDR vorkam.“

Die Zeit

Die Zeit: Ausgabe zum Tag der deutschen Einheit 2019
Die Zeit, 2.10.2019

Die Wochenzeitung trägt in ihrer Ausgabe am 2. Oktober zweifellos am dicksten auf: Auf dem Titelbild recken FDJler ihre Fäuste und großes Zitat prangt darüber: „Die staatliche Willkür in der DDR war auch nicht schlimmer als heute“. Darunter heißt es nicht minder bedeutungsschwanger: „Ein großer Teil der Ostdeutschen schaut skeptisch auf die Demokratie. Was ist in den letzten 30 Jahren schiefgegangen?“

Die Panik des Scheiterns

Das Titelthema führt die historische Symbolik konsequent weiter, ein riesiges Staatswappen der DDR hängt über dem Artikel, die Überschrift ruft: „Jetzt hört mal zu!“

Im Fließtext werden die schweren Sätze der Titelseite fortgesetzt:

  • „Alles in allem ist die Stimmung mies, ausgerechnet zum Fest der deutschen Einheit. Etwas läuft gründlich schief.“
  • „Kommt da etwas in den Fundamenten der Republik ins Rutschen? Steht gar die Einheit im Begriff zu scheitern?“
  • „Die Repressalien, die Stasi, die Mauer – alles vergessen? Ist die Erinnerung an das Unrecht der Diktatur tatsächlich so sehr verblasst?“
  • „Die Befunde sind in weiten Teilen beunruhigend“

Dabei fokussiert der Text auf zwei Antworten: 41% der Befragten finden, man könne seine Meinung heute nicht freier oder sogar nur weniger frei äußern als vor 1989. 58% haben das Gefühl, heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt zu sein als in der DDR.

In der zweiten Hälfte des Textes lässt der Texte aber Expert*innen zu Wort kommen – und plötzlich können die Statistiken auch anders gelesen werden: Der Leiter der Zeit-Studie etwa weitet den Blick von den Erfahrungen der DDR- auf die Nachwendezeit. Auch der Umgang der Kanzlerin mit den Geflüchteten würde eine Rolle spielen.

Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau-Görlitz ergänzt: Nicht jede ostdeutsche Kritik am Funktionieren der Demokratie sei als Systemkritik zu verstehen. Denn um die 80% der Ostdeutschen halten die Demokratie für die beste Staatsform.

Und schließlich stellt der Artikel fest: Aus den Ergebnissen der Umfrage ließen sich verschiedene Handlungsanweisungen ablesen: Löhne, Renten und Repräsentanz in Politik und Wirtschaft wären demnach naheliegende Aktionsfelder.

Die Zeit setzt also groß auf aufsehenerregende Zahlen – und scheitert auf hohem Niveau. Die Zahlen sind fraglos wichtig und können gute Erkenntnisse liefern. Auch der Artikel bietet diese Ansätze – leider muss man zunächst skandalisierend-aufgeregte Absätze hinter sich bringen. Schade.

Treuhand-Skandale statt Anerkennung

In der gleichen Ausgabe gibt es aber auch einen wunderbaren Artikel: Sechs Menschen sprechen darüber, wie sie an unterschiedlichen Positionen die Treuhand erlebt haben. Zwischendurch wird das Geschehen fundiert einsortiert – einer der Autoren ist Marcus Böick, der zur Treuhand forscht.

Die große Stärke des Artikels „Das abgeschriebene Land“: Er lässt die Menschen zu Wort kommen, ganz ohne Skandalisierung. Die Aktivitäten der Treuhand erscheinen so wie eine Lupe für das Aufeinandertreffen von Ost und West, mit all seinen Widersprüchen. Die kleinen und großen Erlebnisse fangen das wunderbar ein.

Darunter sind Blickpunkte, die es früher nicht in die Medien geschafft haben. So bewundert Johannes Ludewig, die Betriebsräte, aber deren Arbeit „hat keine Anerkennung erfahren in den Medien und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Die interessierten sich nur für Transfer-Milliarden und für Skandale, aber nicht für den mühsamen Alltag von Umstrukturierungen und Neubeginn“.

Neun Thesen zur deutsch-deutschen Berichterstattung

Ein dritter Oktober im Jahr 2019, drei überregionale Zeitungen. Was lässt sich daraus lernen für die Berichterstattung über die deutsche Einheit, über Ostdeutschland und Westdeutschland?

  • Weniger Meinung: Auf vorschnelle Urteile und Skandalisierungen von Journalist*innen lässt sich gut verzichten. Wir sollten lieber hören, was Menschen erleben, erlebt haben und was Expert*innen zu sagen haben.
  • Mehr Vielfältigkeit in Ostdeutschland: Die Abkehr von der DDR funktioniert dann am besten, wenn die Unterschiedlichkeit innerhalb des Ostens unterstrichen wird. Ansonsten wird fortgeschrieben, was die DDR-Führung so gerne gewollt hatte: Ein gleichgeschaltetes Volk ohne Unterschiede.
  • Mehr Westdeutschland: Der Tag der deutschen Einheit betrifft schließlich beide Seiten.
  • Weniger Klischees: Erkenntnisse lassen sich nur gewinnen, wenn Vorurteile zurückgelassen werden. Das Bild über den Osten, über die DDR sollte eben nicht mit den vorhandenen Realitäten im Osten verwechselt werden. Gerade deshalb kommt den Medien eine besondere Bedeutung zu.
  • Mehr Fokussierung: Nicht immer muss ein Text die große Erklärung bieten. Merke: Nicht immer ist ein Blick auf mögliche Prägungen durch die DDR nötig und sinnvoll.
  • Mehr Transparenz: Wer ist diese Person, deren Text ich lese? Schreibt sie über ein „wir“ oder über ein „die“?
  • Nicht instrumentalisieren: Im Gespräch kann man erklären, beim Ankreuzen eines Fragebogens kann man das nicht. Zahlen lassen sich unterschiedlich interpretieren. Vertraut den Menschen, nicht den Statistiken!
  • Weniger urteilen: Ein richtiges Gedenken, eine richtige Haltung lässt sich nicht vorgeben. Unterschiedliche Haltungen müssen gehört, verstanden und ausgehalten werden. Dann kann man in der Gesellschaft auch damit umgehen.
  • Alle Medien – Zeitungen, Radio, Fernsehen, Webangebote – sie müssen nun auch Raum bieten für die Dinge, die sie einfordern: Ein Austausch von Erfahrungen, von Diskussionen. Ein gegenseitiges Zuhören. Und sie müssen die Konsequenzen selbst auch umsetzen: Ein höherer Anteil von Ostdeutschen und anderen Herkünften in den Redaktionen etwa. Damit ein kritischer Blick auf die eigenen Texte möglich wird.

In eigener Sache: einwende beim Medienmagazin Zapp

Am 28.08. hat das Medienmagazin Zapp über die Spiegel-Titelseite „So isser, der Ossi“ berichtet. In der Rolle des Betroffenen mit Blog konnte ich im Beitrag zu Wort kommen:

Zum nachlesen: Unsere ausführliche Analyse der Titelseiten des Spiegel der letzten 30 Jahre gibt es hier.

Der Spiegel der Wessis: Eine Geschichte in Titelbildern 1

Der Spiegel der Wessis: Eine Geschichte in Titelbildern

Reden wir einmal über Bilder. Denn Bilder bilden Wahrnehmungen ab, und sie prägen ein öffentliches Bewusstsein. Gerade Titelbilder von Zeitungen und Zeitschriften sind dabei ein wichtiges Feld – sollen sie doch aufmerksam machen und damit zum Kauf anregen. Das Wochenmagazin „Spiegel“ schafft das immer wieder. Mal trifft es den Nerv der Zeit, mal provoziert es – manchmal beides.

Seit 24. August 2019 liegt der Spiegel mit einem Titelbild in den Regalen, das endlich Erklärung verspricht: „So isser, der Ossi.“ Bebildert ist es mit einem Anglerhut in schwarz-rot-gold. 

Spiegel 35 / 2019

Vor ziemlich genau einem Jahr erlangte ein Pegida-Demonstrant mit einem solchen Kleidungsstück unfreiwillige Berühmtheit. Er kritisierte ein Kamerateam weil er nicht gefilmt werden wollte und ließ das Filmteam von der Polizei kontrollieren. Der – natürlich – gut dokumentierte Vorfall bestach durch die polterige Impertinenz des Betroffenen und wurde von klassischen Medien und in Social Media bereitwillig aufgenommen. Die taz hatte etwa am 24. August 2018 – also exakt ein Jahr vor dem aktuellen Spiegel-Titel – ein recht ähnliches Titelbild mit der Fokussierung auf den Anglerhut:

taz 24.08.2018

Der Anglerhut mit markanter Farbgebung ist also im wahrsten Sinne ein Symbol-Bild für Ostdeutschland geworden. Genauer gesagt: Für Ostdeutsche mit rechter Einstellung einerseits und mit wenig Intelligenz andererseits. Also genauso, wie man sich in Westdeutschland Ostdeutsche gerne vorstellt.

Gerade der „dumme Ostdeutsche“ hat in der bildlichen Darstellung Tradition. Die bekannteste Darstellung dürfte das Titelbild der Titanic vom November 1989 sein:

Titanic November 1989

„Meine erste Banane“ heißt es hier – eine geschälte Gurke lässt auch bei „Zonen-Gaby“ wenig Auffassungsgabe vermuten. Und auch dort spielte Kleidung eine Rolle in der öffentlichen Darstellung eines „Ossi“: Was heute der Anglerhut ist, war damals die Jeansjacke. Wie etwa das Neue Deutschland 2015 im Interview mit dem Covermodell feststellt:

Das Bild ging später um die ganze Welt. Auch weil mit ihm die Ostdeutschen als einfältige, konsumgeile Trottel in hässlichen Stonewashed-Jeansjacken abgestempelt werden konnten.

Neues Deutschland, 03.01.2015

Auch beim Spiegel landete Ende 1989 eine Kopfbedeckung auf dem Titelbild. Es gibt aber zwei Unterschiede zum aktuellen Cover: Es handelt sich um die klassische Zipfelmütze des „deutschen Michel“, also eine Darstellung des Deutschen an sich. Und unter dieser Mütze stecken zwei Deutsche, Ost und West.

Spiegel 51/1989

Unter diesem Hut blieben die Deutschen laut Spiegel nicht lange: Mitte 1990 sind sie immerhin noch durch die verknoteten Krawatten verbunden. Der Texttext verweist aber bereits darauf, dass man „vereint aber fremd“ sei:

SPIEGEL 39/1990

Mitte 1992 spricht man aber bereits von einer „neuen Teilung“ – „Deutsche gegen Deutsche“. Entsprechend blicken Ost und West übel gelaunt in unterschiedliche Richtungen, Zusammenhalt gibt nur ein Strick, der sie aneinander kettet.

SPIEGEL 34/1992

Über die Jahre scheint sich der Abstand noch weiter vergrößert zu haben: 1999 stehen Menschen aus Ost und West weit entfernt auf einer durchbrochenen Brücke. Um die Lücke zu füllen, wird ein Handschlag herangehoben – hier wird wieder der Strick verwendet, der aber bereits eine bedenklich empfindliche Stelle besitzt

SPIEGEL 10/1999

Diese Entwicklung geschieht parallel zu einer weiteren Titelbild-Erzählung des Spiegel: Der Osten kostet. Anfang 1990 etwa fragte man aufgrund einer „Massenflucht“ aus der DDR: „Gefahr für den Wohlstand?“

SPIEGEL 4/1990

Und Mitte 1991 lautete die Frage aufgrund von „Steuer-Opfern für den Osten“: „Wieviel noch?“ Hier wird ein Westdeutscher von riesigen Händen ausgewrungen:

SPIEGEL 27/1991

Beide Titelbilder zeigen also einen klar westdeutschen Blick, der den Osten wahlweise als Belastung oder als Bedrohung wahrnimmt. Die Angst vor der „Gefahr aus dem Osten“ ist übrigens schon deutlich älter: Bereits im Alten Griechenland fürchtete man sich auf diese Weise vor dem Perserreich.

Aber zurück in die 1990er Jahre aus Sicht des Spiegel. Der war sich nämlich offenbar nicht einig, ob Ostdeutschland denn nun eine Erfolgsgeschichte ist oder nicht. So hieß es 1994: „Der Osten is‘ stark“, 

SPIEGEL 33/1994

Anfang 1995 aber hieß es „Milliardengrab ‚Aufschwung Ost‘“. Wobei auch der westdeutsche Blick zählt: Ahnen die Spiegel-Lesenden im Westen jetzt wohl, dass ihr Solidarbeitrag wohl doch nicht gut angelegt sein dürfte.

SPIEGEL 7/1995

„Der neue Osten“ heißt es wiederum 1996 – bei der bunten Comicgrafik muss man vermuten: Neu gleich gut.

SPIEGEL 41/1996

Das ist recht interessant, hat der Spiegel bei Titelseiten 1995 und 1996 den Erfolg der „Blühenden Landschaften“ in Frage gestellt. In beiden Fällen liegt das DDR-Staatswappen halb verrottet in einer Wiese.

SPIEGEL 36/1995
SPIEGEL 25/1996

Was auffällt: Diese Titelbilder besitzen bislang recht wenig „typische“ Ost-Symbolik. Das sollte sich ändern. Denn ebenfalls 1995 findet der Spiegel erste Symbol-Bilder für die Ostdeutschen. Da man in einer Umfrage ein „Heimweh nach der alten Ordnung“ gefunden habe, trägt eine Frau stolz eine DDR-Flagge und erotisch eine FDJ-Bluse.

SPIEGEL 27/1995

Die Hemden von FDJ und Pionieren hatten es dann eine Zeitlang tatsächlich ins öffentliche Bewusstsein als DDR-Symbole geschafft. In der „DDR-Show“ von RTL trug etwa Kati Witt ein Pionierhemd, was ihr auch Kritik einbrachte.

Kati Witt in der „DDR-Show“ 2003

Ach, die Symbole, endlich, mag man beim Spiegel frohlockt haben! 2004 hatte das Magazin mit dem Ampelmännchen ein anderes ostdeutsches Symbol gefunden und eine griffige Zeile gleich dazu: „Jammertal“ hieß es zu 15 Jahren Deutsche Einheit.

SPIEGEL 39/2004

Damit war der Spiegel nah am „Jammerossi“ — und bereits recht nah am aktuellen Spiegelbild: Ein klares bildliches Symbol gepaart mit einem klaren Urteil über den Osten. Der jammernde Ossi halt, entweder über die wirtschaftliche Situation oder weil er bei einer Demonstration gefilmt wird. 

Was im Jahr 2004 aber noch fehlt, das ist der Verweis auf den rechten Osten. Das lieferte der Spiegel dann im Jahr 2018:

SPIEGEL 36/2018

Ein ganzes Bundesland wird rechts, sagt uns die Illustration ganz zugespitzt. Bei einer anderen Titelseite aus dem gleichen Jahr ist der Spiegel etwas ausführlicher: „Revolution“ heißt es da und „Warum die Deutschen so oft scheitern“. 1989 steht in der Auflistung, auch wenn das entsprechende Foto hinter dem westdeutschen Symbol Rudi Dutschke recht versteckt abgebildet ist.

SPIEGEL 42/2018

Aber: Ist 1989 denn tatsächlich gescheitert? Aus Sicht des Spiegel und der Geschichte seiner Titelseiten ist die Antwort wahrscheinlich klar: Ja. Denn die Ostdeutschen sind dumm, sie kosten und rechts sind sie jetzt auch noch geworden.

Die Titelseiten des Spiegel dürften aber auch eine Antwort darauf geben, warum das Magazin im Osten Deutschlands vergleichsweise wenig gelesen wird, weniger als die „SuperIllu“ etwa. Aber wer möchte denn auch eine Zeitschrift kaufen, auf der man als jammernd, als dumm oder als rechts dargestellt wird? Und versteht der Spiegel seine potenziellen Käuferinnen und Käufer tatsächlich so?