Rechtsextrem! Ostdeutsch! Studie! #4

Der Osten Deutschlands ist fremdenfeindlicher als der Westen. Schuld ist das DDR-Erbe. Ach, wie oft haben wir das schon gehört.

Aber stimmt das? Eine neue Studie der Universität Konstanz sagt jetzt: Wenn wir Menschen vergleichen, dann sollten wir differenzierter vorgehen und Personen mit gleichen sozio-demographischen Faktoren vergleichen. Heißt: Nur Menschen mit gleichem Bildungsstand und gleichem Einkommen lassen sich vernünftigerweise zueinander in Beziehung setzen. Und siehe da: Es lassen sich keine signifikanten Unterschiede finden. Wie Johannes Müller, Mitarbeiter der Studie, in der Zeit schreibt:

Die ostdeutschen Individuen waren im Schnitt nicht fremdenfeindlicher als ihre westdeutschen Pendants. […] Die Ergebnisse belegen also die These, dass es eher die individuelle Zusammensetzung der ostdeutschen Bevölkerung und weniger die Prägung durch die Region ist, der Kontexteffekt, die die Fremdenfeindlichkeit erklärt.

Das ist ein weiteres Ergebnis der Studie: Nur für 50 Prozent der Individuen aus Ostdeutschland ließ sich ein passendes Individuum in Westdeutschland finden. Die Bevölkerungen sind demnach sehr unterschiedlich zusammen gesetzt. Da liegen also sehr viele Äpfel und Birnen herum. Wir sollten aufpassen, was wir womit vergleichen.

Ein Rückschluss auf die DDR lässt sich so nur noch schwer ziehen: Wer wirtschaftlich schlecht gestellt ist, sucht tendenziell eher außenstehende Sündenböcke für die eigene Situation — das ist in Ost und West so. Nur eben in Ost häufiger, weil dort mehr Menschen sozial schlechter gestellt sind.

Gerade deshalb sollten wir die unterschiedlichen Entwicklungen stärker ins Auge fassen:

Die Bevölkerung in Ostdeutschland altert vor allem auf dem Land schneller, weil gut ausgebildete Leute vom Land in die Stadt beziehungsweise nach Westdeutschland ziehen, insbesondere gut ausgebildete junge Frauen. Wenn sich dieser Trend verschärft, bleibt letztendlich eine Bevölkerungsgruppe zurück, die aufgrund ihrer Prädisposition besonders anfällig für xenophobe Einstellungen ist.

Eine generelle Verurteilung des „Osten“ hilft da nicht weiter.

IMfiziert #4: Amadeu-Antonio-Stiftung

Was kann man heute eigentlich richtig machen, wenn man inoffiziell mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hat? Offenbar nicht viel. Anetta Kahane war 1974 bis 1982 IM, hat später gegen die DDR protestiert, ist ausgereist und hat 2004 offen über ihre Vergangenheit gesprochen. 1998 gründete sie die Amadeu-Antonio-Stiftung und gehört bis heute zu ihrem Vorstand. Die Stiftung möchte die Zivilgesellschaft in Deutschland gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus stärken.

Doch all das hilft nichts: 2007 fiel eine Diskussionsrunde der  Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen aus — mutmaßlicher Grund: Kahanes inzwischen 25 Jahre zurückliegende Tätigkeit.

Und heute, noch einmal 10 Jahre später: Rechtsextreme dringen in die Räume der Stiftung ein, sie tragen Stasi-Uniformen. Grund war eine Broschüre zu „Hetze gegen Flüchtlinge in Sozialen Medien“, die die Stiftung herausgebracht hatte. Die Organisation berät inzwischen Facebook, wenn es um rechte „Hasspostings“ geht. Einen direkten Einfluss hat sie nicht. Diese entscheidende Differenzierung wurde in medialen Darstellungen aber nicht vorgenommen, wie derStandard berichtet: Ein ZDF-Beitrag spricht von „Bespitzelung“, auf Twitter wird als Hashtag „SocialMediaStasi“ genutzt und die FAZ schreibt, dass man an Kahanes Stasi-Vergangenheit nicht herumkomme.

Ja, man kann vieles tun: Man kann gegen ein Land protestieren, man kann ausreisen, man kann die eigene Vergangenheit öffentlich kritisieren, eine zivilgesellschaftliche Gesellschaft gründen und sich gegen Hass im Netz engagieren. Aber richtig machen kann man es trotzdem nicht, wenn man als 19-jährige für die Stasi tätig war. Denn Godwin’s Law (Stasi-Edition) schlägt auf jeden Fall zu, wenn die Leute sich nicht inhaltlich mit deiner Position auseinander setzen wollen, sondern persönlich werden möchten.

Update 4.12.2016

Hubertus Knabe bestärkt im Focus die Vorwürfe gegen Anetta Kahane. Dass die Stiftung nur berät und nicht selbst entscheidet, erwähnt er nicht.

Ins Sommerloch gefallen: Kein Urlaub in Ostdeutschland

Ins Sommerloch gefallen: Kein Urlaub in Ostdeutschland

Es ist Urlaubszeit! Und auch wenn das Sommerloch nicht ganz so groß ist wie gewohnt: Es gibt sie noch, die wohlfühligen Fülltexte über schönen Urlaub in ganz Deutschland. Ganz Deutschland? Nein, ganz so umfassend ist man dann doch nicht.

Spiegel Online etwa präsentiert auf seiner Startseite eine Bilderstrecke mit dem Titel: „Hitze in Deutschland — So geht Sommer!“

Spiegel Online: "Hitze in Deutschland - So geht Sommer!"

Quelle: Spiegel Online / Screenshot

14 Urlaubsfotos werden gezeigt, da könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass aus allen Regionen etwas dabei ist. Allerdings ist die Auswertung nach Bundesland etwas ernüchternd:

1x Baden-Württemberg

3x Bayern

1x Hamburg

2x Hessen

2x Niedersachsen

1x Nordrhein-Westfalen

1x Saarland

1x Schleswig-Holstein

Falls die Geschäftsführung des Spiegel sich schon einmal gefragt haben sollte, warum die Auflage in den östlichen Bundesländern nicht ganz so hoch ist: Es könnte daran liegen, dass diese Gebiete in solchen Artikeln nicht vorkommen, bei Spiegel-Berichten über „Deutschlands hässliche Fratze“ aber als Problemkind ganz vorne dabei sind.

In eine ähnliche Kerbe schlägt Welt Online: Für den Nordsee-Urlaub fragt man dort: „Von Sylt bis Borkum – Welche Insel passt zu mir?“ Die Ostsee kommt aber auch vor — hier testete die Redaktion, wie auf einen Burkini reagiert wird. Das Ergebnis ist aber wohl nicht so kontrovers wie gehofft — da kann auch der Kommentar nichts retten, wenn die Badegäste ganz relaxt sind.

Apropos Ostsee: Dazu gibt das Büchlein „99x Ostsee“ aus dem Bruckmann-Verlag Tipps für unbekannte Ziele. Allerdings: „Ostsee“ heißt hier „der Bereich zwischen Flensburg und Lübeck“ (offiziell) bzw. „Ostsee ja, Ostdeutschland nein“ (Subtext). Alles kein Problem, wenn es eine inhaltliche Begründung gäbe, weitere Bände zur Ostsee im Verlagsprogramm oder irgendwas. Aber leider nichts. Deshalb bleibt hier nur das Cover mit der sehnsuchtsvoll blickenden Frau mit Blumen im Haar:

Titelbild von "99x Ostsee"

„Arbeiterinnen im Wedding sind nicht in Armani rumgelaufen“

Gab es in der DDR eigentlich schöne Mode? Die Welt zeigt sich innovativ und spricht mit einer Ostdeutschen! Dorothea Melis war Moderedakteurin der Modezeitschrift „Sybille“ und kommt im Interview zu Wort.

Ist dieser Artikel nun fern aller Klischees? Ach i wo! Schließlich lässt sich in die Fragen ja noch viel hinein packen:

Erkennen Sie heute noch an der Kleidung, wer aus dem Osten kommt und wer aus dem Westen?

Graue Kittelschürze, Hemden aus knisternden Synthetikstoffen — alles nur ein Vorurteil?

In der DDR war Moderedakteurin ja sicherlich kein typischer Beruf.

Haben modisch gekleidete Frauen in der DDR Ärger bekommen?

Gibt es heute bei den Ostdeutschen, die es sich leisten können, einen Nachholbedarf in Sachen Luxus — ähnlich wie etwa bei den neureichen Russen?

Das sind also die großen Themen: Die Mode war grau, modisch war sowieso nichts und die Ostdeutschen hatten ganz schön Nachholbedarf. Und unterscheiden kann man Ost und West sowieso.

Auffällig: Üblicherweise wird die Überschrift zu einem Interview aus einer Antwort gebildet. In diesem Fall lautet die Überschrift aber „Wie schick war die DDR?“ Die westdeutsche Frageposition steht also prominent, nicht die ostdeutsche Antwort.

Aber was sagt Dorothea Melis zu solchen Fragen? Sie macht ganz klare Ansagen:

Die Berlinerin ist nicht elegant. Da unterscheiden sich Ost und West heute überhaupt nicht mehr.

Auffällig ist schon, dass kurz nach der Wende die Frauen [aus der DDR] auf einmal so geschmacklos gekleidet waren. Der Westen war offen, nun konnten sie bei Woolworth am Wühltisch das kaufen, was sie die ganze Zeit vermisst haben.

Kittelschürzen haben die Frauen im Westen doch genauso getragen! Es kann mir keiner erzählen, dass die Arbeiterinnen im Wedding oder im Ruhrgebiet in Armani oder Kenzo rumgelaufen sind.

Bei der Kleidung kaufen [die Ostdeutschen] eher die gängige Konfektion. [Sie] sind im Grunde konformistischer geworden als jemals zuvor.

Doch davon lässt sich die Welt natürlich nicht von ihrer Ostsicht abbringen. Immerhin gibt es ja noch Bildunterschriften zu verteilen!

DDR-Damenmode 1970: Das Kostüm sieht aus wie im Westen, die Platte ist typisch Osten.

Ja, das Kostüm stammt tatsächlich aus der DDR. Und Plattenbau gab es auch im Westen. Muss man ja offenbar immer mal wieder sagen.

Der Welt-Artikel stammt von 2007, ist aber gerade wieder im Netz aufgetaucht. Warum auch immer.

Deutsch-deutsche Farbenlehre

Das Sprechen über die DDR ist inzwischen auf der völligen Metaebene angekommen. Ein Beispiel dafür liefert ein Interview des Tagesspiegel-Redakteurs Robert Ide mit Roland Jahn, hier im Wortlaut:

Roland Jahn:

Daher sind wir herausgefordert, der nächsten Generation Angebote zu machen, die nicht nur schwarz und weiß zeichnen.

Robert Ide:

Die DDR war ja vor allem grau.

Roland Jahn:

Auch in der Diktatur scheint die Sonne.

Drei Sätze, drei Positionen, drei farbige Metaphern: Aber wie passen sie zusammen? Während Jahn am Anfang eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte wünscht, dreht Ide die Farbsymbolik in eine altbekannte These: Die graue DDR. Ganze Romane wurden dazu geschrieben, Abweichungen davon überraschen. Schließlich knüpft Jahn mit dem beliebten D‑Wort an: Kann es denn einen differenzierteren Begriff geben als „Diktatur“? Solange die Sonne auf die schwarz-weiße Gräue scheint, wahrscheinlich nicht.

Danke an Anna für den Hinweis.

Das DDR-Bild in den Medien

Am 7.6.2016 lud der Berliner Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen zu einer Podiumsdiskussion: Wie wird die DDR medial dargestellt? Die Berliner Zeitung berichtet davon.

Unter anderem kritisierte in der fast ausschließlich westdeutschen Runde Jakob Augstein, Chefredakteur und Herausgeber der Wochenzeitung Freitag, dass „wir uns im Westen auf ein offizielles Erinnern an die DDR verständigt haben“.

Die Studie in den Köpfen — wenn Wirtschaftswissenschaftler Ossi-Psychologie erklären

Alle, die bisher immer geglaubt haben, dass die DDR bis heute in den Köpfen wirkt, dürfen jetzt aufspringen, in die Hände klatschen und jubeln: Eine wissenschaftliche Studie gibt ihnen Recht!

Expertenwissen! Forschung! Objektivität! Danach lechzen wir, also schauen wir uns das doch einmal an:

Wer hat die Studie durchgeführt?

  • Tim Friehe, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Marburg
    Wissenschaftliche Stationen in Philadelphia (USA), Hamburg, Mainz, Tübingen, Konstanz, Bonn.
  • Markus Pannenberg, Wirtschaftswissenschaftler an der Fachhochschule Bielefeld
    Wissenschaftliche Stationen an der TU Berlin, in Frankfurt/Oder und Halle. Abitur in Rüthen (NRW).
  • Michael Wedow, Europäische Zentralbank

Europäische Zentralbank. Aha. (Erklärung folgt unten)

Was will die Studie?

Die Arbeit mit dem lyrischen Titel „Let Bygones Be Bygones?“ („Soll die Vergangenheit ruhen?“) möchte den Einfluss politischer Systeme auf die Persönlichkeit untersuchen. Die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands wird dabei als „natürliches Experiment“ angesehen und genutzt. Die Forscher gehen dabei davon aus, dass die DDR-Regierung einen Einfluss auf die Persönlichkeit gehabt hat.

Alle Angaben zur Studie stammen aus der Untersuchung selbst, die kostenlos zum Download bereit steht.

Wie geht die Studie vor?

Die Studie nutzt Daten des Sozioökomischen Panels SOEP, das seit 1984 Erhebungen in deutschen Haushalten durchführt. Konkret werden Erhebungen aus den Jahren 2005, 2009 und 2010 genutzt — ausschlaggebend: Die Menschen müssen 1989 entweder in der BRD oder DDR gelebt haben und müssen in Deutschland geboren oder vor 1949 immigriert sein. Beim Abgleich der Daten ist dann folgende Sache passiert:

German natives living in East Germany in 1989 constitute the treatment group, while natives living in West Germany in 1989 represent the control group. (Seite 8 der Studie)

Das kennen wir aus Medikamententests: Die Behandlungsgruppe erhält das Medikament, die Kontrollgruppe nicht. Die Kontrollgruppe bleibt normal, die Behandlungsgruppe ist die Abweichung von der Norm.

Was findet die Studie heraus?

Natürlich findet sie Unterschiede:

We find that the GDR’s socialist regime is via its footprint in personalities – more than 25 years after its demolition – still relevant in important ways today and well into the future. […] People who lived in the GDR in 1989 are – when compared to people from the FRG – more neurotic, less open, more conscientious, and have a more external locus of control.

Das DDR-System lebt also fort in den Köpfen von neurotischen, weniger offenen und gewissenhaften Ostdeutschen, die sich niedrige Ziele setzen.

Aber nicht zu vergessen: Die wichtigste Erkenntnis:

[…] the shadows of the past are economically significant.

Damit dürfte auch klar sein, warum hier die Zentralbank an Bord ist.

Und stimmt das auch?

Wer weiß. Möglicherweise. Vielleicht auch nicht. Das liegt an einigen offensichtlichen Schwächen der Studie:

  • Die ausgeblendete Zeit: Wenn Daten aus den Jahren 2005 – 2010 ausgewertet werden, kann keine direkte Linie zu Ursachen von vor 1989 gezogen werden. Die Einflussfaktoren zwischen 1989 und den Jahren der Datenerhebung müssen dabei ebenfalls in Betracht gezogen werden. Das ist nicht geschehen.
  • Die Behauptung einer Normalität: Die Studie trifft ihre Aussage, da sie die Daten aus der Bundesrepublik als Kontrollgruppe neben die DDR-Gruppe legt. Doch wie kann ein dynamisches Gesellschaftssystem neben einem anderen dynamischen Gesellschaftssystem als neutrale Kontrollgruppe gelten? Noch absurder: Die Forscher gehen ausdrücklich davon aus, dass das DDR-System alle Lebensbereiche durchdrungen habe. Wenn es also eine statische monolithische Gesellschaft gegeben hätte, wäre es also eher die DDR-Gruppe gewesen. Dann hätte diese aber zur Norm werden sollen.
  • Der falsche Fachzugang: Wirtschaftswissenschaften können bestimmt viele tolle Dinge. Was sie nicht können: Psychologische Auswirkungen fundiert bewerten. Dafür gibt es andere Fachdisziplinen.

Dass in der Studie die Dichte von Inoffiziellen Mitarbeitern in Beziehung zu den Persönlichkeitsmustern gesetzt und eine Kausalität konstruiert wird, lassen wir mal gleich ganz weg.

Quatsch also — aber warum dann hier so breit thematisieren?

Weil das woanders nicht so gesehen wird: Spiegel Online verbreitet die Ereignisse der Studie, Kritik kommt nur gegen Ende in einem Zitat der Persönlichkeitsforscherin Jule Specht vor:

Es ist gewagt, die Unterschiede, die heute zwischen den Menschen existieren, auf Einflüsse von vor 25 Jahren zurückzuführen.

Das hält den Artikel aber nicht davon ab, mit altbekannten Klischeebildern zu beginnen. Und mit dem Fazit der Studie zu schließen. Solange die Wissenschaft den Osten so erklärt, wie wir ihn haben möchten, wollen wir weiterhin aufspringen, in die Hände klatschen und jubeln.

Danke an Sylvia für den Hinweis!

Beherrscht, unterdrückt, wehleidig: Weniger wichtige Ossis im Osten

Ostdeutsche sind in Führungspositionen in Ostdeutschland unterrepräsentiert. Das hat eine Studie der Universität Leipzig im Auftrag des MDR ergeben. Zum Teil gingen die Zahlen sogar wieder zurück:

  • Politiker_innen mit ostdeutscher Herkunft in den ostdeutschen Landesregierungen: 70% (2004: 75%)
  • Leitung der 100 größten ostdeutschen Unternehmen: 33,5 % (2004: 35,1%)
  • Leitung der Universitäten und Hochschulen: Anteil fast halbiert
  • Von 60 Staatssekretär_innen der Bundesregierung stammen 3 aus dem Osten (2004: 6)
  • Ostdeutsche unter den Führungskräften bundesweit: 1,7%

Aus diesem Befund zimmert der MDR eine zweiteilige Dokumentation — neckisch illustriert mit aufgehängten Schachfiguren fragt sie: „Wer beherrscht den Osten?“

Kritik an dieser Aufarbeitung kommt von Richard Schröder, SPD-Politiker und Pfarrer in der DDR. Im Interview mit der Sächsischen Zeitung meint er:

Die ganze Aufrechnerei suggeriert: Es gibt zwei Völker, Ostdeutsche und Westdeutsche. Das eine Volk „beherrscht“ das andere. Das Thema der MDR-Dokumentation hieß ja: „Wer beherrscht den Osten?“ Und bei „beherrscht“ denkt man natürlich sofort an „unterdrückt“. Die Ossis sind unterdrückt. Ich finde diese ostdeutsche Wehleidigkeit zum Kotzen und außerdem vorbei an vielen Tatsachen.

Wir sehen: Das Thema ist sehr emotional besetzt, es geht um Teilhabe, Mitbestimmung — Demokratie eben. Was den emotionalen Effekt verstärken dürfte: Die deutsch-deutsche Geschichte nach 1990 wird in der Regel positiv dargestellt — Studien wie diese zeigen aber, wie dünn das Fundament dieser Darstellungen ist. Das knirscht, wenn Wunschvorstellung und Zahlen aufeinander treffen. Oder, wie Iris Gleicke, Ostbeauftragte der Bundesregierung, dazu sagt:

Der Vereinigungsprozess ist eben keine rumpelfreie Erfolgsgeschichte, auch wenn das manche gerne so in die Geschichtsbücher schreiben würden.

Mauerblicke revisited

Schon vor fünf Jahren hatte ich auf eine Ausstellung über die Berliner Mauer verwiesen — sie zeigte Fotografien aus DDR-Sicht und hieß „Aus anderer Sicht“. Wie bizarr: Schließlich war dies der alltägliche Anblick für Millionen Menschen in der Hauptstadt. Der medial geprägte westdeutsche Blick wird also als „normal“ gesetzt — und der ostdeutsche als „anders“.

Was ist seitdem passiert? Die Macher_innen haben weitere Fotos entdeckt, nun eröffnet eine neue Ausstellung. Ihr Titel: „Inventarisierung der Macht“. Untertitel: „Die Berliner Mauer aus anderer Sicht“.

Da hat jemand die Jahre wirklich gut genutzt, um zu überlegen, ob die „andere Sicht“ eine wirklich sinnvolle Zuschreibung ist.

Wie in Bad Schwartau Ängste vor dem Osten geschürt werden

Letztlich sind es die kleinen Dinge, die einen Unterschied in der Berichterstattung über Ost und West ausmachen. Hier ein Beispiel aus der Redaktion des Flensburger Tageblatts. Dort heißt es in der Überschrift:

Wie die Schwartauer Werke nach Ostdeutschland gelockt werden

Oh nein, mögen da Einheimische aus Schleswig-Holstein (im Text liebevoll und vertraut mit „SH“ abgekürzt) aufschreien — unsere schöne Marmeladenstadt soll in den tiefen Osten verschleppt werden! Ist den gottlosen Ossis denn nichts mehr heilig? Um die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, hier ein paar Fakten — die stehen zwar im Text verstreut, aber wer liest den nach einer solchen Überschrift ohne die Hilfe von ein paar Gläsern Baldrian?

  1. Die Schwartauer Werke benötigen mehr Platz und sind derzeit in der Bauplatzsuche.
  2. In Betracht kommt „eine Gemeinde“ in Mecklenburg-Vorpommern, das gerade einmal 14 Kilometer entfernt liegt. Zum Vergleich: Zur (ehemaligen) Bundeshauptstadt Bonn, der Personifikation Westdeutschlands also, sind es 500 Kilometer.
  3. Der Unternehmenssitz bleibt in jedem Fall in Bad Schwartau.

Das klingt kaum besorgniserregend — daher verwundert auch der aufgeregte Ton der Meldung. Für mich bleiben daher ein paar offene Fragen:

  1. Weshalb spricht der Text diffus von „Ostdeutschland“, wenn es doch um eine konkrete Gemeinde in unmittelbarer Umgebung geht? Warum wird auch diese nicht konkretisiert? Spielt man hier mit der Angst vor dem Unbekannten?
  2. Warum werden beispielhaft einzelne Unternehmen genannt, die nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen sind — aber keine Statistik, um diese Vorgänge einzuordnen? So vermeldete das gleiche Nachrichtenportal im Jahr 2014: Schleswig-Holstein ist Deutschlands Konjunktur-Primus. Auf Platz 3: Mecklenburg-Vorpommern.
  3. Warum spricht der Artikel mehrmals von „Umzug“ und erklärt erst zum Schluss, dass die Pläne gar nicht den Standort des Unternehmenssitzes betreffen, sondern nur ein weiteres Werk?
  4. Ist das Journalismus, der sachlich informiert und nicht verunsichert?

Vielleicht ist es doch ganz harmlos und es geht nur um die allgemeine Angst vor „dem Osten“. Da wir uns hier ja im hohen Norden befinden, ist das eine wunderbare Gelegenheit, dieses Zitat einzuspielen: