Atommüll-Endlager — die Suche nach Bundesländern im Osten

Atommüll-Endlager - die Suche nach Bundesländern im Osten

Wo wird es Endlager für Atommüll in Deutschland geben? Heute hat die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) einen Zwischenbericht vorgelegt. Wie zu erwarten war, spielt in den Medienberichten hierzu der Standort Gorleben eine prominente Rolle. Aber auch Ostdeutschland kommt prominenter vor als gedacht. Und gleichzeitig wird Morsleben prominent ignoriert. Doch machen wir uns zunächst auf die Suche, wo Endlager in Deutschland eigentlich möglich sind.

Auf der Website der FAZ lautet der Teaser:

 „In Gorleben wird es kein Endlager für Atommüll geben, auch das Ruhrgebiet scheidet aus. In Frage kommt dagegen Bayern – aber auch große Teile Ostdeutschlands.“

Auffällig: Neben einer Stadt und einer Bergbauregion werden hier offenbar zwei Bundesländer genannt: Bayern und Ostdeutschland. Aber zeigt denn der Artikel detaillierter auf, worum es sich bei den „großen Teilen Ostdeutschlands“ handelt? Nicht wirklich:

„Die BGE hat neben Bayern andere Salzstöcke in Niedersachsen wie auch Gebiete in Baden-Württemberg sowie große Teile Ostdeutschlands auf der Liste. Das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Heißt also: „Große Teile Ostdeutschlands“ umfassen nicht Mecklenburg-Vorpommern.

Aber vielleicht kann uns die Meldung von n‑tv konkretere Informationen geben?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern. Das Saarland, Teile von Mecklenburg-Vorpommern und Teile des Ruhrgebiets finden sich dagegen nicht darauf.“

Argh! Aber vielleicht die Süddeutsche Zeitung?

„Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Ländern.“

Verdammt, auch nicht… Wie ist es mit dir, Deutsche Welle?

„Salzstöcke in Niedersachsen gelten weiter als grundsätzlich geeignet, ebenso Granitschichten in Bayern — das sich politisch zuvor gegen Atommüll verweigert hatte. Auch in Baden-Württemberg und weiten Teilen Ostdeutschlands finden sich geeignete Gebiete. Weil der Atommüll nicht in Erdbebenregionen lagern soll, scheiden das Ruhrgebiet und das Saarland mit ihren zahlreichen alten Bergwerken aus.“

Aber vielleicht kann die Zeit präzisieren?

„Die Teilgebiete finden sich deutschlandweit unter anderem in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und in ostdeutschen Ländern wieder.“

Also auch nicht. Tagesschau, du informierst uns doch immer differenziert, oder?

„Diese sogenannten Teilgebiete liegen etwa in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, aber auch in den ostdeutschen Bundesländern.“

Was steckt dahinter?

Halten wir fest: Das bringt alles nichts. Schließlich zeigt ein genauer Blick, dass sich die oben genannten Artikel auf eine Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) mit eben jener Formulierung stützen. Zwangsläufig ist sie nicht, wenn man auf die heute veröffentlichte Karte schaut.

Teilgebiete für Atommüll-Endlager
Quelle: Pressemitteilung der BGE vom 28.9.2020

Ebenso könnte man etwa von Nord- oder Süddeutschland sprechen. Oder wie es die BGE in ihrer Pressemitteilung formuliert hat:

„Die Teilgebiete verteilen sich auf alle Bundesländer mit Ausnahme des Saarlands.“

Liest man diese Pressemeldung ebenso wie den kompletten Bericht, kann man übrigens feststellen: Der Begriff „Ostdeutschland“ kommt dort gar nicht vor. Die BGE beschreibt die Teilgebiete für mögliche Endlager stattdessen ganz nüchtern anhand der Bundesländer. Der Blick auf die „ostdeutschen Länder“ ist also in diesem Fall eine mediale Konstruktion – von der dpa ins Leben gerufen und danach unhinterfragt weitergetragen.

In den letzten Jahrzehnten wurde so häufig von „Ostdeutschland“ gesprochen, dass es leicht fällt, hier ein homogenes Gebiet auszumachen. Ganz im Gegensatz zu Nord- oder Süddeutschland – hier stehen konkrete Regionen und spezifische Bundesländer im Fokus. Dass dies etwa auch für Thüringen und Brandenburg gelten könnte, kann der mediale Blick offenbar nicht sehen.

Ost-West-Debatte beim Atommüll

Dabei beschränkt sich der Bezug auf Ostdeutschland beim Thema Atommüll nicht nur auf bloße Kartenbeschreibungen. So heißt es in einem Kommentar im Berliner Tagesspiegel:

„Wenn in einem Jahr die Bundestagswahl ansteht, könnte die Vorauswahl in der Endlagersuche ein heißes Wahlkampfthema werden. (…) Da ist Bayern, wo sich CSU und Freie Wähler 2018 in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, dass der Freistaat kein geeigneter Standort sei. (…) Dann sind da Landtags- und Bundestagsabgeordnete, die sich immer wieder frei nach dem Motto äußern: „Überall, nur nicht hier“. Und aus dem Osten ist auch mal zu hören, man wolle kein Endlager für westdeutschen Atommüll bauen.“

Und schwupps, sind wir mittendrin in der Ost-West-Debatte. Da reicht offenbar auch ein ungefähres Munkeln („ist auch mal zu hören“), um auf die gleiche Stufe wie ein Koalitionsvertrag gestellt zu werden. Dabei wäre ein anderer Hinweis deutlich treffender gewesen: Westdeutscher Atommüll im Osten ist Realität.

Was wird nicht thematisiert?

In Sachsen-Anhalt befindet sich das Endlager Morsleben. Von 1971 bis 1991 lagerte die DDR hier radioaktive Abfälle ein. Aber auch danach ging es weiter – und das in deutlich größerem Umfang, wie der Spiegel 2019 berichtete:

„Während das nun wiedervereinigte Deutschland andere Industrieanlagen der DDR als hoffnungslos überaltert und nicht wettbewerbsfähig abwickelte, sollte das Atommüll-Endlager bestehen bleiben. Die DDR-Betriebserlaubnis galt weiterhin. Zwischen 1994 und 1998 lagerte die Bundesrepublik in nur vier Jahren deutlich mehr ein als die DDR in 20 Jahren, und es sollte ursprünglich noch viel mehr werden.“

Dann stoppte ein Gericht die weitere Einlagerung, seit 2005 läuft ein Verfahren zur Stilllegung (weitere Informationen bei der BGE).

Beim aktuellen Bericht der BGE gehört Morsleben zu den ausgeschlossenen Gebieten. Im Gegensatz zum 120 Kilometer entfernten Gorleben und seiner Protestkultur stand dieses Lager kaum im Zentrum der Aufmerksamkeit – vor allem nicht in einer gesamt- oder gar westdeutschen Perspektive. 

Dabei hätte es sich jetzt angeboten, von Morsleben zu sprechen. Nicht nur, um vorhandene Atom-Endlager in Deutschland zu thematisieren. Sondern auch, damit nicht nur von „ostdeutschen Ländern“ einerseits und ostdeutschen Befindlichkeiten andererseits die Rede ist.

Der Spiegel der Wessis: Eine Geschichte in Titelbildern 1

Der Spiegel der Wessis: Eine Geschichte in Titelbildern

Reden wir einmal über Bilder. Denn Bilder bilden Wahrnehmungen ab, und sie prägen ein öffentliches Bewusstsein. Gerade Titelbilder von Zeitungen und Zeitschriften sind dabei ein wichtiges Feld – sollen sie doch aufmerksam machen und damit zum Kauf anregen. Das Wochenmagazin „Spiegel“ schafft das immer wieder. Mal trifft es den Nerv der Zeit, mal provoziert es – manchmal beides.

Seit 24. August 2019 liegt der Spiegel mit einem Titelbild in den Regalen, das endlich Erklärung verspricht: „So isser, der Ossi.“ Bebildert ist es mit einem Anglerhut in schwarz-rot-gold. 

Spiegel 35 / 2019

Vor ziemlich genau einem Jahr erlangte ein Pegida-Demonstrant mit einem solchen Kleidungsstück unfreiwillige Berühmtheit. Er kritisierte ein Kamerateam weil er nicht gefilmt werden wollte und ließ das Filmteam von der Polizei kontrollieren. Der – natürlich – gut dokumentierte Vorfall bestach durch die polterige Impertinenz des Betroffenen und wurde von klassischen Medien und in Social Media bereitwillig aufgenommen. Die taz hatte etwa am 24. August 2018 – also exakt ein Jahr vor dem aktuellen Spiegel-Titel – ein recht ähnliches Titelbild mit der Fokussierung auf den Anglerhut:

taz 24.08.2018

Der Anglerhut mit markanter Farbgebung ist also im wahrsten Sinne ein Symbol-Bild für Ostdeutschland geworden. Genauer gesagt: Für Ostdeutsche mit rechter Einstellung einerseits und mit wenig Intelligenz andererseits. Also genauso, wie man sich in Westdeutschland Ostdeutsche gerne vorstellt.

Gerade der „dumme Ostdeutsche“ hat in der bildlichen Darstellung Tradition. Die bekannteste Darstellung dürfte das Titelbild der Titanic vom November 1989 sein:

Titanic November 1989

„Meine erste Banane“ heißt es hier – eine geschälte Gurke lässt auch bei „Zonen-Gaby“ wenig Auffassungsgabe vermuten. Und auch dort spielte Kleidung eine Rolle in der öffentlichen Darstellung eines „Ossi“: Was heute der Anglerhut ist, war damals die Jeansjacke. Wie etwa das Neue Deutschland 2015 im Interview mit dem Covermodell feststellt:

Das Bild ging später um die ganze Welt. Auch weil mit ihm die Ostdeutschen als einfältige, konsumgeile Trottel in hässlichen Stonewashed-Jeansjacken abgestempelt werden konnten.

Neues Deutschland, 03.01.2015

Auch beim Spiegel landete Ende 1989 eine Kopfbedeckung auf dem Titelbild. Es gibt aber zwei Unterschiede zum aktuellen Cover: Es handelt sich um die klassische Zipfelmütze des „deutschen Michel“, also eine Darstellung des Deutschen an sich. Und unter dieser Mütze stecken zwei Deutsche, Ost und West.

Spiegel 51/1989

Unter diesem Hut blieben die Deutschen laut Spiegel nicht lange: Mitte 1990 sind sie immerhin noch durch die verknoteten Krawatten verbunden. Der Texttext verweist aber bereits darauf, dass man „vereint aber fremd“ sei:

SPIEGEL 39/1990

Mitte 1992 spricht man aber bereits von einer „neuen Teilung“ – „Deutsche gegen Deutsche“. Entsprechend blicken Ost und West übel gelaunt in unterschiedliche Richtungen, Zusammenhalt gibt nur ein Strick, der sie aneinander kettet.

SPIEGEL 34/1992

Über die Jahre scheint sich der Abstand noch weiter vergrößert zu haben: 1999 stehen Menschen aus Ost und West weit entfernt auf einer durchbrochenen Brücke. Um die Lücke zu füllen, wird ein Handschlag herangehoben – hier wird wieder der Strick verwendet, der aber bereits eine bedenklich empfindliche Stelle besitzt

SPIEGEL 10/1999

Diese Entwicklung geschieht parallel zu einer weiteren Titelbild-Erzählung des Spiegel: Der Osten kostet. Anfang 1990 etwa fragte man aufgrund einer „Massenflucht“ aus der DDR: „Gefahr für den Wohlstand?“

SPIEGEL 4/1990

Und Mitte 1991 lautete die Frage aufgrund von „Steuer-Opfern für den Osten“: „Wieviel noch?“ Hier wird ein Westdeutscher von riesigen Händen ausgewrungen:

SPIEGEL 27/1991

Beide Titelbilder zeigen also einen klar westdeutschen Blick, der den Osten wahlweise als Belastung oder als Bedrohung wahrnimmt. Die Angst vor der „Gefahr aus dem Osten“ ist übrigens schon deutlich älter: Bereits im Alten Griechenland fürchtete man sich auf diese Weise vor dem Perserreich.

Aber zurück in die 1990er Jahre aus Sicht des Spiegel. Der war sich nämlich offenbar nicht einig, ob Ostdeutschland denn nun eine Erfolgsgeschichte ist oder nicht. So hieß es 1994: „Der Osten is‘ stark“, 

SPIEGEL 33/1994

Anfang 1995 aber hieß es „Milliardengrab ‚Aufschwung Ost‘“. Wobei auch der westdeutsche Blick zählt: Ahnen die Spiegel-Lesenden im Westen jetzt wohl, dass ihr Solidarbeitrag wohl doch nicht gut angelegt sein dürfte.

SPIEGEL 7/1995

„Der neue Osten“ heißt es wiederum 1996 – bei der bunten Comicgrafik muss man vermuten: Neu gleich gut.

SPIEGEL 41/1996

Das ist recht interessant, hat der Spiegel bei Titelseiten 1995 und 1996 den Erfolg der „Blühenden Landschaften“ in Frage gestellt. In beiden Fällen liegt das DDR-Staatswappen halb verrottet in einer Wiese.

SPIEGEL 36/1995
SPIEGEL 25/1996

Was auffällt: Diese Titelbilder besitzen bislang recht wenig „typische“ Ost-Symbolik. Das sollte sich ändern. Denn ebenfalls 1995 findet der Spiegel erste Symbol-Bilder für die Ostdeutschen. Da man in einer Umfrage ein „Heimweh nach der alten Ordnung“ gefunden habe, trägt eine Frau stolz eine DDR-Flagge und erotisch eine FDJ-Bluse.

SPIEGEL 27/1995

Die Hemden von FDJ und Pionieren hatten es dann eine Zeitlang tatsächlich ins öffentliche Bewusstsein als DDR-Symbole geschafft. In der „DDR-Show“ von RTL trug etwa Kati Witt ein Pionierhemd, was ihr auch Kritik einbrachte.

Kati Witt in der „DDR-Show“ 2003

Ach, die Symbole, endlich, mag man beim Spiegel frohlockt haben! 2004 hatte das Magazin mit dem Ampelmännchen ein anderes ostdeutsches Symbol gefunden und eine griffige Zeile gleich dazu: „Jammertal“ hieß es zu 15 Jahren Deutsche Einheit.

SPIEGEL 39/2004

Damit war der Spiegel nah am „Jammerossi“ — und bereits recht nah am aktuellen Spiegelbild: Ein klares bildliches Symbol gepaart mit einem klaren Urteil über den Osten. Der jammernde Ossi halt, entweder über die wirtschaftliche Situation oder weil er bei einer Demonstration gefilmt wird. 

Was im Jahr 2004 aber noch fehlt, das ist der Verweis auf den rechten Osten. Das lieferte der Spiegel dann im Jahr 2018:

SPIEGEL 36/2018

Ein ganzes Bundesland wird rechts, sagt uns die Illustration ganz zugespitzt. Bei einer anderen Titelseite aus dem gleichen Jahr ist der Spiegel etwas ausführlicher: „Revolution“ heißt es da und „Warum die Deutschen so oft scheitern“. 1989 steht in der Auflistung, auch wenn das entsprechende Foto hinter dem westdeutschen Symbol Rudi Dutschke recht versteckt abgebildet ist.

SPIEGEL 42/2018

Aber: Ist 1989 denn tatsächlich gescheitert? Aus Sicht des Spiegel und der Geschichte seiner Titelseiten ist die Antwort wahrscheinlich klar: Ja. Denn die Ostdeutschen sind dumm, sie kosten und rechts sind sie jetzt auch noch geworden.

Die Titelseiten des Spiegel dürften aber auch eine Antwort darauf geben, warum das Magazin im Osten Deutschlands vergleichsweise wenig gelesen wird, weniger als die „SuperIllu“ etwa. Aber wer möchte denn auch eine Zeitschrift kaufen, auf der man als jammernd, als dumm oder als rechts dargestellt wird? Und versteht der Spiegel seine potenziellen Käuferinnen und Käufer tatsächlich so?

Essen im Osten: Vorurteile gehen durch den Magen

Viele aus dem Westen stammenden Glossenschreiber versuchen den Osten Deutschlands zu verstehen. Unergründlich erscheint er ihnen immer wieder. Umso schöner, dass sie sich nach AfD und Pegida wieder der entscheidenden Seltsamkeit des Ostens zuwenden können: Dem Essen.

Martenstein und Toast (1)

Den Auftakt macht der preisgekrönte Kolumnist Harald Martenstein. Am 9. Oktober 2017 schrieb er die Glosse „Über die politische Botschaft des Toastbrots“.  Sein Problem: Im Osten wird ungetoasteter Toast serviert. Doch das ist nicht alles. Um das allerdings zu verstehen, entrümpeln wir den Text von der satirischen Verfremdung, die eine solche Glosse auszeichnet. Martenstein also in Übersetzung:

Was Martenstein schreibt:

So ein Toastbrot kann natürlich annehmbar schmecken, allerdings nur, nachdem es in einem Toaster getoastet wurde, dazu ist es gemacht, deshalb heißt es „Toastbrot“. Ein ungetoastetes Toastbrot ist nur ein Rohstoff, aus dem durch den Prozess des Toastens etwas Essbares hergestellt wird. Im Osten servieren sie das Toastbrot roh.

Was er damit meint:

Die dummen Ossis haben nicht mal das Feuer erfunden.

Was Martenstein schreibt:

Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wäre es jedenfalls kein Problem, essbares Brot zu kaufen, die Grenze ist offen.

Was er damit meint:

Dabei haben wir ihnen diese zivilisatorische Errungenschaft längst gebracht! Dafür sind wir doch 1989 auf die Straße gegangen!

Was Martenstein schreibt:

Das Schlimmste an der DDR-Küche waren allerdings diese Toastscheiben.

Was Martenstein damit meint:

Ich hasse Ossis. Vor allem weil ich sie nicht verstehe. Damit mir das allerdings nicht als Vorurteil gegenüber kulturellen Eigenheiten ausgelegt wird, verpacke ich mein Unverständnis in spitzbübische Bemerkungen zu einem offensichtlich unwichtigen Thema.

An einer Stelle jedoch versagen wir. Vermutlich liegt es daran, dass Martenstein an dieser Stelle auch tatsächlich meint, was er schreibt:

Ich glaube inzwischen, dass der ungetoastete Osttoast ein Symbol für den DDR-Sozialismus ist und deshalb so tief verankert ist in den Geschmacksnerven der Ostdeutschen. Der Sozialismus hat Wohlstand und Demokratie versprochen, beides ließ auf sich warten, so lange, bis die Menschen die Geduld verloren haben. Der Sozialismus war ein Toast, der wunderbar schmecken würde, wenn er erst mal fertig getoastet ist.

Oder er freut sich einfach nur auf den Moment, in dem Ostdeutsche begreifen, wie das eigentlich mit dem Feuer funktioniert. Damit Harald Martenstein endlich den Toast bekommt, den er verdient.

Martenstein und Toast (2)

Harald Martenstein hat das ungetoastete Toast am 9. November 2017 wieder aufgegriffen. Der Anlass: Die Wut über seinen Toasttext habe alles übertroffen, was er kannte. Für einen selbst-zentrierten-reflektierten Kolumnisten wie ihn ein gefundenes Fressen! Und für uns erst recht:

Was Martenstein schreibt:

Deutsche Einheit, da kenne ich mich aus. Ich bin aus dem Westen, habe aber seit vielen Jahren einen Wohnsitz in Brandenburg.

Was Martenstein damit meint:

Ich bin hierher gezogen und damit automatisch Experte. Was können mir schon dahergelaufene Einheimische sagen, die nicht einmal das Feuer erfunden haben?

Was Martenstein schreibt:

Das einigermaßen belanglose Thema und der eher freundliche Duktus des Textes einerseits und die grundsätzliche Gekränktheit, die aus etlichen Briefen spricht, stehen in einem sonderbaren Missverhältnis.

Was Martenstein damit meint:

Gott, die Ossis sind ja noch dümmer und empfindlicher als ich dachte.

Was Martenstein schreibt:

Viele Briefe kamen aus Thüringen, dort scheinen die Toast-Verhältnisse tatsächlich andere zu sein. Ich war zu wohl zu sehr auf Brandenburg und die Ostsee fokussiert, da bitte ich um Pardon.

Was Martenstein damit meint:

DDR ist DDR ist Ostdeutschland. Sollen sich mal nicht so haben.

Was Martenstein schreibt:

Die Wut sucht geradezu nach Anlässen. Da kann man es als Wessi wohl nur noch dann richtig machen, wenn man gar nichts sagt.

Was Martenstein damit meint:

Und denen wollten wir ernsthaft das mit dem Feuer beibringen?

taz und tote Oma

Doch Harald Martenstein ist nicht der einzige, der das Thema Essen und Osten hochkochen lässt. In der taz hat Micha Brumlik am 6. November die Kolumne „Der Untergang der toten Oma“ verfasst. Der Text ist aus ostdeutscher Perspektive recht drollig, beschreibt er doch, wie ein weltgewandter Westdeutscher im Jahr 2017 erstmals mit einem Gericht namens „Tote Oma“ in Kontakt kommt. Und nicht nur das: Recherchen führen Brumlik zu „einschlägigen Websites zur Küche der DDR“, „Munchies“ und „netmoms“ heißen sie. Und so kann er anhand von zwei Internetseiten die gesamte DDR analysieren. Respekt!

Was Brumlik schreibt:

Somit liebte man in der DDR – womöglich kontraphobisch – das Ekelhafte. „Als ekelhaft“, so der noch immer zu wenig gewürdigte Philosoph Aurel Kolnai, „wird immer ein Ding empfunden, das nicht für voll genommen, nicht für wichtig gehalten wird: etwas, das man weder vernichtet noch flieht, sondern hinwegräumt.“

Was Brumlik damit meint:

Ossis sind echt eklig. Ich nehm die jedenfalls nicht für voll, nicht für wichtig.

Was Brumlik schreibt:

Wir werden bei der Analyse dieser Vorliebe einer nachnationalsozialistischen Gesellschaft an der Lust am Kannibalischen nicht vorbeikommen, ebenso wenig wie an dem in den fünfziger Jahren von ehemaligen FDJ-Mitgliedern geförderten Jugendwahn. Bildet doch eine andere Konserve derselben Produkt­reihe, nämlich „Schulküchentomatensoße“, ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit weißem Hemd und blauem FDJ-Halstuch ab, das mit soßenverschmiertem Mund fröhlich in die Welt schaut.

Was Brumlik damit meint:

Passt auf, im Osten essen sie Menschen! Das ist keine Soße, das ist Soylent Green! Alle in Sicherheit!

Übrigens erkannte die taz schon 2014: „Die DDR ging unter, weil das Essen schlecht war“. Man fragt sich allerdings, was die taz über ein Getränk namens „Tote Tante“ sagen würde. Das stammt immerhin aus Nordfriesland, wie wir auf der einschlägigen Website „herzelieb“ lernen.

Neues Deutschland und Jägerschnitzel

Auch im Neuen Deutschland kommt man am Speisenthema nicht vorbei. Simon Poelchau schreibt am 8. November über das „Jägerschnitzel“:

Besonders hoch ist die Fallhöhe zwischen westdeutschen Erwartungen und ostdeutschen Realitäten, wenn in solchen TINA-Mensen ein Essen angeboten wird, das in Ost wie West gleich beliebt ist: das Jägerschnitzel. Dem Wessi läuft schon beim Gedanken an ein schönes Stück unpaniertes Kalbsfleisch mit Pilzsauce das Wasser im Mund zusammen. Entsprechend muss er erst mal enttäuscht schlucken, wenn ihm ein Jägerschnitzel Ost vorgesetzt wird: ein paniertes Stück Jagdwurst mit Spirelli-Butternudeln und eben jener schweren Verbrauchertäuschung aus Ketchup, Mehlschwitze und ein bisschen abgelaufenem Oregano.

Was er damit meinen könnte:

Ostdeutsches. Essen. Ist. Furchtbar. Oder sind es die westdeutschen Erwartungen? Sieht doch keiner mehr durch. Zumindest nicht aus westdeutscher Perspektive.

Guten Appetit!

Vielen Dank an Anne und Mechthild für die Hinweise!

Nach der Wahl: Ich-Erzähler erzählen über Ostdeutschland

Oh, diese Ostdeutschen! Diese Ostmänner! Nach der Bundestagswahl 2017 zeigen sie vor allem: Die gesamtdeutschen Zeitungsmacher_innen verstehen sie einfach nicht. Was läge also näher, als sich diese Spezies einmal genauer anzusehen? Doch diesmal ist alles schwieriger, schließlich fühlen sich diese Menschen nicht verstanden. Welch Rätsel, dass den westdeutschen Qualitätsmedien da gestellt wird!

Doch Lösung naht! Und sie lautet: Betroffenheitsjournalismus. Dabei geht es nicht nur um die Texte, ihre Beobachtungen und ihre Schlussfolgerungen. Nein, es geht auch um die Menschen hinter den Texten. Denn sie sollten etwas mit Ostdeutschland oder besser noch mit der DDR zu tun haben. Oder besser noch: Betroffene sein.

Dieser Ansatz war so naheliegend, dass kaum eine wichtige Zeitung in Deutschland in den Tagen nach der Bundestagswahl ohne einen entsprechenden Text blieb. Irgendwie schaffte es fast jede Redaktion Menschen mit Ost-Biografie, Ost-Erfahrung oder zumindest Ost-Bekanntschaften auszugraben.

Soviel Osten auf einmal war selten. Wir bieten daher einen Überblick zu diesen Texten. Damit alle endlich etwas über den Osten lernen. Aus erster Hand. Oder aus zweiter Hand. Oder von jemanden, der mal jemanden kannte, der früher was von jemandem gehört hat.

Wer diese Liste ergänzen möchte — gerne bei uns melden!

Der Ostmann

Näher dran ist keine andere Kategorie, denn der „Ostmann“ stand seit dem Wahlergebnis im Mittelpunkt der Diskussion. Nur in dieser Kategorie wird nicht über ihn geredet, hier redet er selbst. Und man kann feststellen: Offenbar gibt es nicht allzu viele Ostmänner, die bundesweit über sich schreiben.

  • Titel: „Oh, Ostmann!“ 
    • Erschienen in: Die Zeit
    • Zitat: „Ich bin ein ostdeutscher Mann, und eigentlich hatte ich eine Ehrenrettung schreiben wollen.“
  • Titel: „Ich bin der ostdeutsche Mann“ 
    • Erschienen in: Berliner Zeitung
    • Zitat: „Ich schreibe diese Zeilen als Betroffener. Ich bin seit meiner Geburt ein ostdeutscher Mann. Für meine Mutter war das nie leicht, zumal auch mein Bruder trotz aller ärztlichen Bemühungen ein ostdeutscher Mann wurde.“

Bonus: Der Ostmann im Westen

Wenn man als Redaktion keinen Ostmann im Osten zur Hand hat, kann man ja zumindest einen Ostmann nehmen, der im Westen lebt. Seit über 10 Jahren.

  • Titel: „AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl 2017: Hannes (30) aus Thüringen vergleicht das Revier mit seiner Heimat“ 
    • Erschienen in: Der Westen
    • Zitat: „Hannes Bieler (30) kommt aus Roßleben in Thüringen. Wie nahezu alle seiner Klassenkameraden kehrte er seiner Heimat nach Abi und Zivildienst den Rücken. Ihn zog es vor elf Jahren in den Westen.“

Die Ostfrau

Immerhin kommt auch sie aus dem Osten und kennt sowohl Land als auch Leute/Männer aus eigener Anschauung. Das ist pures Betroffenheitsgold! Kein Wunder, dass es davon mehrere Texte gibt.

  • Titel: „Die späte Rache der Ossis“ 
    • Erschienen in: die tageszeitung (taz)
    • Zitat: „Was ist los mit dem Land, in dem ich geboren worden bin und eine glückliche Kindheit hatte? In dem ich studiert habe und das ich – ich kann nicht anders – nach wie vor meine Heimat nenne.“
  • Titel: „Wir Ossis sind nicht alle Neonazis!“ 
    • Erschienen in: Der Tagesspiegel
    • Zitat: „Bei all dem Ostbashing gestehe ich hier: Ich bin Ossi. Bin ich jetzt auch Neonazi? Zumindest Neonazi-Versteherin?“
  • Titel: „Kaum läuft was schief, sind die dumm-naiven Ossis schuld“ 
    • Erschienen in: Nordkurier
    • Zitat: „Die Wahrheit wollen sie uns erzählen, über uns Ostdeutsche, deren Männer zu mehr als einem Viertel AfD gewählt haben.“
  • Titel: „Werden die Ossis zu nett behandelt?“ 
    • Erschienen in: Die Zeit
    • Zitat: „Ich bin in Ostdeutschland aufgewachsen, ich lebe hier. Ich treffe täglich irgendwen, der AfD gewählt hat. Diesen Leuten geht es nicht mehrheitlich schlecht. Ihre Wahl war kein Akt der Verzweiflung, sondern einer der gefühlten Emanzipation. Und: eine politische Entscheidung.“

Bonus: Die Ostfrau im Westen

Da gab es doch diese Frau aus dem Osten in der Redaktion? Die immer wieder Wert darauf legt, dass sie ja gar nicht mehr Osten lebt? Die soll mal was schreiben! Wir haben ja sonst keinen für das Thema.

  • Titel: „Immer auf den Osten“ 
    • Erschienen in: Die Welt
    • Zitat: „Ich bin zwar kein Mann, aber ich bin auch aus dem Osten. Man sieht es mir nur nicht an, denn ich lebe nicht mehr im Osten, sondern schon sehr lange im Westen. Ich wohne schon länger im Westen, als ich im Osten gewohnt habe, länger als die DDR untergegangen ist. Ich wohne in einem Stadtteil von Berlin, der so westlich ist, wie kaum ein anderer, und soweit ich es überblicken kann, bin hier weit und breit die Einzige aus dem Osten. Ich arbeite auch im Westen, nicht nur geografisch, sondern auch politisch, nämlich bei einem Zeitungsverlag, der den Osten, als es ihn noch gab, bekämpft hat, so lange, bis er untergegangen war.“
  • Titel: „AfD im Osten: Ich verstehe das Ergebnis in meiner Heimat nicht“ 
    • Erschienen in: „Neue Westfälische“
    • Zitat: „Ich lebe bereits seit 2003 in Nordrhein-Westfalen. Als ich hierher zog war ich 19, aufgewachsen bin ich aber in Cottbus. Das ist meine Heimatstadt, so sehe ich sie auch heute noch.“

Der Westbesuch

Sehen wir der Wahrheit ins Auge — viele Redaktionen in Deutschland kennen gar keine echten Ost-Menschen. Seitdem es keine West-Pakete mehr gibt, ist schließlich der letzte Kontakt abgerissen. Und eigentlich muss man auch nicht viel über sie wissen: Was Politik und Klamotten angeht, werden sie ewig hinterherhinken und ansonsten sind sie zu langweilig und egal, um etwas über sie wissen zu müssen. Aber um etwas Empathie zu simulieren, da gibt es ja zum Glück noch die älteren Kollegen. Die sollen einfach mal von früher reden.

  • Titel: „Die Unsolidarischen — über den Erfolg der AfD bei ostdeutschen Männern“ 
    • Erschienen in: Stern
    • Zitat: „Ich habe die DDR von den 60er-Jahren, als ich noch ein kleines Kind war, bis zu ihrem Ende nahezu jedes Jahr mindestens einmal besucht.“
  • Titel: „Vom letzten Tag der DDR“ 
    • Erschienen in: Süddeutsche
    • Zitat: „Ich saß also am letzten Arbeitstag der DDR-Justiz im Amtszimmer des Gerichtsdirektors an der Littenstraße. Und ein paar Szenen, die Stimmung dieses Tages dort, möchte ich Ihnen heute schildern, weil am Dienstag der Tag der Deutschen Einheit gefeiert wird — genau 27 Jahre ist das alles nun her.“
  • Titel: „DDR-Korrespondent liest auf dem Campus“ 
    • Erschienen in: Rheinische Post
    • Zitat: „Kaum ein Journalist hat das letzte Jahrzehnt der DDR so nah erlebt, wie der aus Heiligenhaus stammende Peter Wensierski. Als jüngster westlicher Reisekorrespondent schrieb er ab 1979 Berichte und Reportagen über das Leben hinter dem „eisernen Vorhang“ und hatte Einblicke in Lebenswelten und Gedanken der Menschen dort.“

Auslandsbesuch

Wir Deutschen, wir haben uns ja immer so schwer mit unserer geteilten Vergangenheit. Warum nicht mal einen britischen Historiker zu Wort kommen lassen? Der ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Ausländer. Dem stellen wir dann auch mal die Fragen, die wir uns in Deutschland auch stellen. Aber nicht wagen zu sagen. Jetzt aber!

  • Titel: „Ostdeutschland war von Anfang an ein Fehler, sagt dieser Historiker“ 
    • Erschienen bei: Vice
    • VICE: Machen die Ostdeutschen uns alles kaputt?
    • VICE: Glauben Sie, dass der Osten gefährlich für Deutschland ist?

Der gottlose Osten — Berichte zum Kirchentag

Es ist Kirchentag, vom 24. bis 28. Mai treffen sich evangelische Laien in Berlin und Wittenberg. Ein Kirchentag im Osten Deutschlands also – welch wunderbare Gelegenheit, den Glauben in Ostdeutschland zu besuchen. Finden jedenfalls einige Medien. Doch was haben sie entdeckt? Mangel, keinen Glauben, Hoffnung.

Es gibt nur einen Gott

Wenn es um Glauben in Ostdeutschland geht, dann geht es ums Christentum. Kein Text sagt das explizit, aber es geht um Protestantismus und Katholizismus. Nicht um spirituelle Bewegungen oder heidnische Religionen, nicht um Buddhismus oder den Islam – und schon gar nicht um Sozialismus oder Kommunismus.

Schließlich gibt es für das Christentum klare Zahlen: 14 Prozent zahlen etwa in Wittenberg Kirchensteuer, der Rest hat sich dagegen entschieden. Oder wie es Kerstin Decker im Tagesspiegel formuliert:

Nie war der Himmel blauer. Auch das ist ein Gottesbeweis, den verstehen auch die 86 Prozent der Wittenberger, die sich daran gewöhnt haben, ohne Beistand von oben zu leben.

Etwas fehlt

Wenn man den Berichten zum Glauben in Ostdeutschland glauben kann, dann geht es auch immer um einen Mangel:

„Ja, leider sei sie Atheistin; es klingt wie: Da kann man nichts machen!“ heißt es im Tagesspiegel.

„In Gefahr ist […] die gesamte Kultur, die das Religiöse hervorgebracht hat.“, schreibt Markus Decker in der Berliner Zeitung (Print-Ausgabe vom 24.5.2017).

Und bei der ARD heißt es: „In den meisten Familien wachsen die Kinder schon in der dritten Generation ohne Kontakt mit religiösem Wissen und ohne Erfahrungen mit religiöser Praxis auf: ein Traditionsabbruch, der unumkehrbar scheint.“

Vorteile gibt es wohl nicht beim Schwinden des Christentums, wenn man diese Erlebnisberichten aus dem gottlosen Ostdeutschland liest. Als ob tatsächlich Leerstellen blieben, die nicht durch andere Gedanken und Vorstellungen geschlossen werden würden. „Mein Glaube wurzelt in der Überzeugung, dass wir in etwas Größerem aufgehoben sind“, so beschreibt Markus Decker in der Berliner Zeitung seinen persönlichen Zugang zum christlichen Glauben. Doch gerade das ist es: individuell. Jeder Mensch kann dieses Gefühl woanders finden: Star-Trek-Fans und Kommunisten können da sicher zustimmen.

Ein Funken Hoffnung

Offenbar müssen Berichte aus dem atheistischen Osten auch immer zeigen, dass es Anlass zur Hoffnung gibt:

Sei es mit einem kurzen Hinweis in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung: „Aber [der Wittenberger Bürokaufmann Henning] Schulz ist immerhin auch noch Kirchenmitglied.“

Oder mit dem unerwarteten Abschlusssatz aus dem Tagesspiegel: „Mag sein, Gott will an dieser kleinen Stadt etwas Großes tun.“

Markus Decker findet eine persönliche Erfahrung berichtenswert: „Friedrich Schorlemmer […] sagte eines Tages zu mir: ‚Sie sind einer von uns.‘“

Es geht aber auch ein paar Nummern größer, wie die Hannoversche Allgemeine zeigt: Hier lässt sich ein Unfallopfer nach dem Anblick seines Wagens mit der Erkenntnis taufen: „Das musste Gott gewesen sein.“

Wieder einmal: Die Perspektive

All das macht klar: Das Thema „Glauben im Osten“ wird aus einer klaren Perspektive erzählt. Eine Perspektive, der das Christentum wichtig ist. Die sich ein Leben ohne dessen Rituale nicht vorstellen kann, nicht vorstellen will. Das ist legitim. Daraus einem ganzen Gebiet einen Mangel zu attestieren, ist es nicht. Gerade weil schon die Beschränkung auf das Christentum genau das ist: Eine Einengung der Sichtweisen, der Perspektiven. Das können die Protestanten beim Kirchentag tun. Die Medien hingegen sollten einen breiteren Blick einnehmen.

Ich konnte nur einen Bericht einer großen deutschen Zeitung finden, die eine andere Perspektive einnimmt. Dieser Text zeigt, warum wir verschiedene Ansätze brauchen und nicht noch mehr Texte, die bloß nachtrauern. Wie kann das aussehen? Hier sind Auszüge aus dem Text von Robert Ide, erschienen im Tagesspiegel Berlin:

Warum, um Himmels willen, betet man sie an, diese Kunstfiguren und ihre Litaneien aus oft althergebrachten Märchensagen? […]

Mir ist unverständlich, warum in einer säkular organisierten Demokratie die Kirche so viel Macht hat. Die Mitgliedsbeiträge der schrumpfenden Glaubensgemeinschaften werden seltsamerweise von den staatlichen Finanzämtern miteingezogen (nach dem Umbruch wurden übrigens erst einmal alle Ostdeutschen zwangseingemeindet und mussten bis zu einem Stichtag wieder austreten, obwohl sie selbst nie eingetreten waren). […]

Aber man kann auch ohne sie und angeblich von Göttern geschaffene Gebote versuchen, ein guter Mitmensch zu sein.

Rechtsextrem! Ostdeutsch! Studie! #5

Es ist wieder soweit: Eine neue Studie beschäftigt sich mit dem Rechtsextremismus im Osten Deutschlands. Also aufgepasst, Stereotypen, Klischees und Vorurteile volle Kraft voraus!

Was ist passiert?

Am 18. Mai 2017 hat das Göttinger Institut für Demokratieforschung den Abschlussberichts des Forschungsprojektes „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland“ veröffentlicht. Darin werden Ursachen und Hintergründe für Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindlich motivierte Übergriffe in Ostdeutschland untersucht. Die Ostbeauftragte der Bundesregierung hatte diese Studie in Auftrag gegeben.

Wie wird es dargestellt?

Für einen Großteil der Medienlandschaft ist die Sache klar, zumindest in den Überschriften:

Auffällig ist dabei: Die Texte selbst sind weitaus differenzierter als die zugespitzten Überschriften vermuten lassen. Absurderweise bedeutet das, dass sie ihnen widersprechen. Denn die Studie widerspricht solch vereinfachenden Aussagen explizit.

Was ist dran?

Das wichtigste vorneweg: Die Studie kann keine Aussage über Ostdeutschland treffen, weil sie Ostdeutschland nicht untersucht hat.

Die Forscher haben keine flächendeckende empirische Untersuchung gemacht, sondern zwei Regionen heraus gegriffen, die durch asylfeindliche Proteste aufgefallen waren: die Region Dresden mit den Städten Freital und Heidenau sowie Erfurt mit dem Stadtteil Herrenberg. Dort führten sie 2016 knapp vierzig Einzelinterviews mit Akteuren aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.

Quelle: Berliner Zeitung

Oder anders ausgedrückt: Es ist, als hätte man mit 40 Menschen in der Eifel und auf Sylt gesprochen und könnte danach etwas über Linksextremismus in Westdeutschland sagen. Was lokale Erkenntnisse bedeuten, können immer nur Vermutungen sein.

Damit sind aber auch viele Schlussfolgerungen der Studie und der Medien hinfällig. Hinweise zur DDR-Vergangenheit etwa, die vielfach genannt werden. Kein Scherz, auch fast 30 Jahre nach dem Mauerfall lassen sich damit die Handlungen von Menschen erklären, die gerade mal volljährig sind.

Deutlichen Anlass zum Stirnrunzeln bietet aber die Studie selbst. Auf der einen Seite betont sie, dass der Ost-West-Gegensatz gar nicht so entscheidend sei. Dass das Verhältnis von Stadt und Land viel stärker wirke. Und doch graben die Wissenschaftler_innen für ihr Fazit so tief in der DDR-Klischeekiste, dass sie das mit Ost und West wohl doch ernster nehmen.

Und nicht nur das: Die Journalistin Sabine Rennefanz verweist darauf, dass die Studie nicht nur von einer „ostdeutschen Mentalität“ ausgeht, sondern auch die europäische Dimension ausblendet. Die rechtsextremen Bewegungen in Frankreich, den Niederlanden und weiteren Staaten können mit einer DDR-fixierten Analyse schließlich nicht erklärt werden.

Was lernen wir daraus?

Wenn es um Rechtsextremismus und Ostdeutschland geht, kommt es schnell zu pauschalen Urteilen. Auch wenn Studien differenzierte Erkenntnisse gewinnen, spitzen Journalist_innen und auch die Forschenden selbst lieber zu. Mit einem Blick in die Studie hätten sie festgestellt, dass sie damit Teil des Problems sind:

Unsere Befragten haben das Gefühl, dass die als überheblich wahrgenommenen Bewohner der alten Bundesländer sie noch immer geringschätzen; vor allem aber sind sie darüber verärgert, dass westdeutsche Journalisten und Politiker den Eindruck erwecken, Rechtsextremismus sei in den neuen Ländern weiter verbreitet als in den alten Bundesländern.

Ignoriert: Ost und West ändern Einstellungen zu Flüchtlingen

Der Journalist Hans Zippert schreibt jeden Tag eine Kolumne in der Tageszeitung Die Welt. Dafür wurde er 2007 und 2011 mit dem renommierten Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Das muss man wissen, wenn man den Auszug aus seiner Kolumne vom 7. April 2017 liest:

Die Unwillkommenheitsgefühle [sind] im Osten des Landes weitaus größer als im Westen. Das könnte daran liegen, dass die Ostdeutschen sich 1989 auch zu wenig geliebt gefühlt haben. […] Die Westdeutschen wurden aber auch nicht gefragt, ob sie ostdeutsche Wirtschaftsflüchtlinge willkommen heißen würden.

Das wäre schon in den 90ern ziemlich unlustig gewesen, aber darum geht es hier gar nicht. Wir wollen ja inhaltlich argumentieren.

Zippert bezieht sich in seinem Text auf eine neue Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Sie hat untersucht, welche Stimmung in Deutschland Flüchtlingen gegenüber herrscht. Dumm nur: Diese Umfrage stellt das genaue Gegenteil fest — die Stimmung in Ost und West hat sich umgekehrt. So steht in der Welt, ebenfalls am 7. April:

Inzwischen sind demnach 55 Prozent der Westdeutschen gegen einen weiteren Flüchtlingszuzug und 51 Prozent der Ostdeutschen.

Hans Zippert hätte also in seiner eigenen Zeitung lesen können, dass sein Text nicht auf Tatsachen beruht. Dass er über 27 Jahren nach dem Fall der Mauer immer noch in Klischees denkt und seine Kolumne mit müden Stereotypen füllt.

Ach ja, dafür bekommt man übrigens Henri-Nannen-Preise.

Weniger Gehalt im Osten, keine Meldung für den Osten

Es ist eine simple Meldung: In Deutschland ist das Gehalt unterschiedlich hoch. Je nach Region verdienen Menschen im gleichen Beruf deutlich mehr Geld. Oder deutlich weniger in den neuen Bundesländern: Sie stehen am Ende der Tabelle. Das ist prinzipiell keine neue Erkenntnis, vor genau fünf Jahren hatte eine Studie festgestellt, dass der wirtschaftliche Unterschied zwischen Ost und West noch lange bestehen wird.

Mit welchen Überschriften aber machen Medien diese Meldung auf? So heißt es bei der FAZ:

Ostdeutschland lohnt sich noch immer nicht

Und die Website von n‑tv titelt:

Hier arbeiten Sie besser nicht

Gemeinsam ist diesen Überschriften eine wirtschaftlich-westdeutsche Perspektive: Der Osten lohnt sich erst dann, wenn man dort mehr Gehalt bekommt. Dort also besser nicht arbeiten!

Übersehen hat man beim Texten der Überschriften wohl, dass es bereits Menschen gibt, die in Ostdeutschland arbeiten. Welche Botschaft soll bei ihnen ankommen? Ihre Arbeit lohnt sich nicht? Sie sollten besser nicht arbeiten? Dazu sagen uns die Überschriften nichts, sie wollen es gar nicht. Denn sie sagen uns vor allem: Als Zielgruppe der Beiträge stellt man sich die Menschen im Osten nicht vor.

Wirtschaftswissenschaft: Wenn Westdeutschland ganz Deutschland ist

Wirtschaftswissenschaft: Wenn Westdeutschland ganz Deutschland ist

Eine Wissenschaft wie die Wirtschaftswissenschaft funktioniert im Grunde so: Sie stellt eine Frage und sammelt und erhebt dazu alle verfügbaren und sinnvollen Daten. Damit will sie Antworten finden. Dazu gehört auch, dass die Antworten komplex, die Zusammenhänge vielfältig und auch sonst vieles nicht leicht ist. Aber der kleinteilige und differenzierte Umgang mit Informationen ist die Stärke der Wissenschaft. Worauf sonst sollte man sich verlassen?

Aber schauen wir in eine Analyse, die in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienstes veröffentlicht worden ist. Da dieser Text nur gegen Bezahlung gelesen werden kann, legen wir die gekürzte Fassung auf Ökonomenstimme zugrunde. Beide Texte tragen den gleichen Titel:

Verlierer(-regionen) der Globalisierung in Deutschland: Wer? Warum? Was tun?

Das ist also die Forschungsfrage, die beantwortet werden soll. Und sie ist eine etwas seltsame Wahl, denn in einer Fußnote heißt es:

Wir beschränken uns auf regionale Unterschiede innerhalb Westdeutschlands, da die Daten für Ostdeutschland erst ab 1993 vorliegen.

So weit, so gut: Ostdeutschland wird nicht untersucht, weil die Daten nicht mehr hergeben. Alles andere wäre wissenschaftlich nicht sauber gewesen.

Das westdeutsch-deutsche Problem

Dumm nur: Die Autoren ignorieren Ostdeutschland nicht nur, sie vergessen es. Warum sonst weisen sie auf die ostdeutschen Daten ausschließlich in einer Fußnote hin? Wieso suggerieren sie in der Überschrift eine gesamtdeutsche Untersuchung? Weshalb wird der Begriff „Westdeutschland“ nur einmal erwähnt, obwohl er die Datenlage am treffendsten beschreibt? Und warum kommt die Bezeichnung „Deutschland“ 14-mal vor?

Wer ganz genau hinschaut, hätte aber auch schon bei der Illustration misstrauisch werden. So richtig passt die Karte schließlich nicht zur „Deutschland“-Überschrift:

Update

Ökonomenstimme hat bei Twitter auf meine Kritik reagiert:

Rechtsextrem! Ostdeutsch! Studie! #4

Der Osten Deutschlands ist fremdenfeindlicher als der Westen. Schuld ist das DDR-Erbe. Ach, wie oft haben wir das schon gehört.

Aber stimmt das? Eine neue Studie der Universität Konstanz sagt jetzt: Wenn wir Menschen vergleichen, dann sollten wir differenzierter vorgehen und Personen mit gleichen sozio-demographischen Faktoren vergleichen. Heißt: Nur Menschen mit gleichem Bildungsstand und gleichem Einkommen lassen sich vernünftigerweise zueinander in Beziehung setzen. Und siehe da: Es lassen sich keine signifikanten Unterschiede finden. Wie Johannes Müller, Mitarbeiter der Studie, in der Zeit schreibt:

Die ostdeutschen Individuen waren im Schnitt nicht fremdenfeindlicher als ihre westdeutschen Pendants. […] Die Ergebnisse belegen also die These, dass es eher die individuelle Zusammensetzung der ostdeutschen Bevölkerung und weniger die Prägung durch die Region ist, der Kontexteffekt, die die Fremdenfeindlichkeit erklärt.

Das ist ein weiteres Ergebnis der Studie: Nur für 50 Prozent der Individuen aus Ostdeutschland ließ sich ein passendes Individuum in Westdeutschland finden. Die Bevölkerungen sind demnach sehr unterschiedlich zusammen gesetzt. Da liegen also sehr viele Äpfel und Birnen herum. Wir sollten aufpassen, was wir womit vergleichen.

Ein Rückschluss auf die DDR lässt sich so nur noch schwer ziehen: Wer wirtschaftlich schlecht gestellt ist, sucht tendenziell eher außenstehende Sündenböcke für die eigene Situation — das ist in Ost und West so. Nur eben in Ost häufiger, weil dort mehr Menschen sozial schlechter gestellt sind.

Gerade deshalb sollten wir die unterschiedlichen Entwicklungen stärker ins Auge fassen:

Die Bevölkerung in Ostdeutschland altert vor allem auf dem Land schneller, weil gut ausgebildete Leute vom Land in die Stadt beziehungsweise nach Westdeutschland ziehen, insbesondere gut ausgebildete junge Frauen. Wenn sich dieser Trend verschärft, bleibt letztendlich eine Bevölkerungsgruppe zurück, die aufgrund ihrer Prädisposition besonders anfällig für xenophobe Einstellungen ist.

Eine generelle Verurteilung des „Osten“ hilft da nicht weiter.